Das Blumenmädchen

upag

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Das Blumenmädchen, ein junges Ding von vielleicht zehn, zwölf Jahren, in einem billigen, grünen Anorak und mit fatzenglatten Haaren unter dem kleinen Kopftuch, lehnte an einer grauen Hauswand und bot einen Strauß langstieliger Gladiolen zum Verkauf an. Er sah sie, als er auf seinem Gang über den Marktplatz an eine Stelle kam, wo dieser in eine schmale Gasse überging, in einiger Entfernung von den wenigen Marktständen. Das Bild des jungen Mädchens mit den leuchtenden Blumen in einer grauen Umgebung gefiel ihm. Er lächelte sie an, sie lächelte schüchtern zurück und hob die Blumen etwas höher, um ihn zum Kauf zu animieren. Er schüttelte bedauernd den Kopf, holte aus seinem Rucksack eine Kamera und deutete fragend erst auf diese und dann auf Mädchen. Sie drückte sich noch verlegener, noch scheuer an die Mauer, schien aber keine Einwände zu haben. Er machte ein Bild und gab ihr zum Dank ein Päckchen Kaugummi, das sie, erfreut und erschreckt zugleich, entgegennahm, eine Weile in der Hand hielt und betrachtete, jedoch keine Anstalten machte, es zu öffnen. Es schien etwas Neues für sie zu sein, dieses kleine, glänzend weiße Päckchen mit dem Schriftzug Wrigley`s Spearmint. Er machte noch ein Bild von ihrem überraschten Gesicht, dann verstaute er die Kamera wieder und schickte sich an, zurück zu den Marktständen zu gehen.

Erst beim Umdrehen achtete er auf das Geschrei eines älteren Mannes, der hinter ihm stand, mit den Armen fuchtelte, abwechselnd auf ihn und das Mädchen deutete und immer wieder dieselben Worte rief: „nie wolno, nie wolno“. Als das Mädchen nun auch den Alten bemerkte, erschrak es und verschwand eilig in der schmalen Gasse. Der Alte schimpfte ihr hinterher, wandte sich dann dem Fremden zu und redete heftig auf ihn ein. Als er merkte, dass dieser ihn nicht verstand, richtete er seine Tiraden an einige Passanten, die stehen geblieben waren und einen Halbkreis um die beiden bildeten. Der Beschimpfte war irritiert und wusste weder warum er den Zorn des Alten erregt hatte noch was er tun sollte. Er hatte den Eindruck, dass der Mann besoffen oder verwirrt war und wollte, um weitere Unannehmlichkeiten zu vermeiden, so rasch wie möglich weg, am besten gleich zu der nahen Bushaltestelle, da er ohnehin vorhatte, mit dem nächsten Bus weiterzufahren. Doch dafür war es zu spät. Eine grüne Minna der örtlichen Miliz kam, zufällig oder von einem der Passanten herbeigewunken, quer über den Marktplatz auf die Gruppe zugefahren.

Zwei Uniformierte stiegen aus und befragten den immer noch aufgeregten Alten, bevor sie sich ihm zuwandten. Als auch sie merkten, dass er sie nicht verstand, verloren sie keine weiteren Worte und deuteten auf den klotzigen Kastenwagen mit den Gitterfenstern. Die Aufforderung einzusteigen war unmissverständlich, trotzdem rührte er sich nicht vom Fleck und fragte, natürlich vergebens, was die Polizei denn von ihm wolle und warum er mitkommen solle. Doch noch ehe er seinen Widerstand richtig artikulieren konnte, wurden ihm Handschellen angelegt und er wurde in den Wagen geschoben. Dort befand er sich in einer bunten Gesellschaft, die auf Holzpritschen entlang der Kastenwand saß. Drei ärmlich gekleidete, wenig vertrauenserweckende Männer unterschiedlichen Alters beäugten ihn, neugierig feixend. Eine alte Frau mit Kopftuch und grauer Filzjacke, auf dem Schoß eine Einkaufstasche, drückte sich in eine Ecke und versuchte ihn zu ignorieren. Ganz anders das aufgedonnerte junge Mädchen neben ihr. Unter ihrem viel zu engen Pulli zeichneten sich die kleinen Brüste deutlich ab und ihr Minirock endete im unschicklichen Bereich. Sie hatte ein blaues Auge von einem wohl erst kürzlich erhaltenen Schlag und der grellrote Lippenstift war um den schmalen Mund herum verschmiert. Erst starrte sie den Neuzugang verwundert an, dann machte sie ein paar Bemerkungen, die von einer obszöne Geste begleitet wurde. Die drei Männer lachten schallend.

Der Wagen fuhr los, hielt aber kurz darauf wieder an und ein heillos betrunkener junger Mann wurde wie ein Sack in den Mittelgang gelegt. Er lallte vor sich hin, rülpste, stemmte sich auf die Arme, hob den Kopf, sah verwirrt um sich, ließ sich dann wieder auf den Boden fallen und begann zu schnarchen. Die Männer und das Mädchen kommentierten den Neuzugang, schienen aber wenig überrascht zu sein. Der Wagen hielt ein weiteres Mal und vor der geöffneten Tür lieferte sich eine, im Vergleich zu der Gesellschaft im inneren, gepflegt wirkende Frau einen heftigen Disput mit den beiden Uniformierten. Schließlich wurde sie an den Armen gepackt, in den Wagen geschoben und neben den Fremden gesetzt. In ihrer Erregung fuhrt sie fort nun auf ihn einzureden. Als er bedauernd die Achseln zuckte, um sein Nichtverstehen zu signalisieren, fragte sie ihn in schlechtem Schulenglisch, warum er hier sei und was er denn verbrochen habe. Dankbar, dass ihn jemand verstand, überschlug er sich fast mit seinen Erklärungen und Unschuldsbeteuerungen. Er wisse es nicht, er habe doch nichts getan, das Ganze müsse ein Missverständnis sein und was er jetzt nur machen solle. Die Frau befragte die anderen Insassen nach den Hintergründen, doch diese wussten naturgemäß nichts. Er habe wohl etwas gemacht, was er nicht habe tun dürfen, meinte sie schließlich, hier sei vieles verboten und dann brach aus ihr erneut ein Schwall von Beschimpfungen heraus, auf das Land, auf die Regierung und besonders auf die Polizei.

Nach kurzer Fahrt hielt das Auto vor dem verschlossenen Tor eines Gebäudes, das von einer hohen, grauen Mauer umgeben war, dem Polizeipräsidium, wie er von der Frau erfuhr. Das Tor wurde von einem Pförtner geöffnet, der Wagen fuhr auf einen weiten Hof, hielt ziemlich in dessen Mitte, der Motor wurde ausgeschaltet. Die Uniformierten öffneten die Kastentür und forderten die Insassen auf, auszusteigen. Diese mussten über den Betrunkenen klettern und wurden dann in das Gebäude geführt, auch die Frau, die ihm zum Abschied aufmunternd zunickte und ihm alles Gute wünschte.

Der Raum, in den man ihn brachte, war kahl und karg eingerichtet, eine Mischung aus Vernehmungszimmer und Haftzelle: ein auf dem Betonfußboden festgeschraubter Tisch, drei Stühle, eine kleines, vergittertes Fenster. Die massive Tür mit Guckloch hatte innen keinen Knauf. Man nahm ihm die Handschellen ab und ließ ihn allein. Längere Zeit geschah nichts. Der Bus, mit dem er eigentlich weiter wollte, war schon längst weg und er würde wohl die Nacht in dieser Stadt verbringen müssen. Wenn er Pech hatte, vielleicht sogar hier, in diesem Gefängnis. Er betrachtete die kahlen Wände, in die Worte eingeritzt waren, die er nicht verstand, schaute aus dem Fenster, wo auf dem Hof immer noch die grüne Minna stand und durchblätterte den einzigen Raumschmuck, einen Kalender mit patriotischen Bildern. Auf allen Seiten fröhliche, optimistisch dreinblickende Menschen, denen greise Männer, manche in Uniform mit Orden an der Heldenbrust oder mit schwarzen Anzügen und ebensolchen Hüten, leutselig die Hände schüttelten. Auf einigen Bildern waren Kinder in seltsamen Volkstrachten zu sehen, denen die Greise die Hände auf den Kopf legten. Die Kinder lächelten verlegen, genauso verlegen wie das Blumenmädchen, das der Grund für seine Verhaftung war.

Dann endlich öffnete sich die Tür und zwei Männer traten ein. Der eine, ältere, in grauem Anzug mit Krawatte, war ein gedrungener, vierschrötiger Typ mit deutlichem Bauchansatz, dichten schwarzen Haaren und einem eher gemütlichen Gesicht. Er sah aus wie ein täppischer, missmutiger Braunbär und schauten ihn auf eine Weise an, als wollte er sagen, warum hast du nur diesen Mist gemacht und warum muss ausgerechnet ich mich darum kümmern. Der andere, ein junger Mann in der selben Uniform wie die beiden aus der grünen Minna, war schlank, klein und drahtig, mit flachsgelbem, gescheiteltem Haar. Er sah ihn neugierig, abschätzend und etwas verächtlich an, wie ein Wiesel, dachte er, wie ein neugieriges, kleines, gefährliches Raubtier.

Der Zivilist stellte sich und seinen Begleiter vor. Er verstand nur die Titel, der eine war Kommissar, der andere Sergeant, die Namen konnte er sich nicht merken. Der Kommissar setzte sich an den Tisch und bedeutete ihm, sich ebenfalls zu setzten. Der Sergeant blieb am Fenster stehen und sein rascher, unsteter Blick wechselte ständig zwischen Fenster und Tisch. Dann begann der Kommissar zu reden, sehr langsam und sehr deutlich, jedes Wort betonend, merkte aber sehr rasch, dass eine Verständigung nicht möglich war. Keiner sprach die Sprache des anderen und es gab, trotz einiger Versuche, keine gemeinsame Drittsprache, mit der man weiter gekommen wäre. Der Kommissar konnte ihm nicht erklären, warum er festgenommen worden war und er konnte nichts zu seiner Verteidigung vorbringen. Sie redeten eine Weile aneinander vorbei und der Kommissar wurde immer ärgerlicher. Sein Gesichtsausdruck wurde verkniffener, die Falten auf seiner Stirn steiler, das Klopfen der Finger auf die Tischplatte lauter. Seine Fragen, natürlich genauso erfolglos wie zuvor, waren nun sehr kurz und wurden regelrecht hervorgestoßen. Der Sergeant schaute die ganze Zeit gelangweilt aus dem Fenster, sagte ab und zu ein Wort zu seinem Vorgesetzten und hielt sich ansonsten zurück.

Schließlich schwiegen alle drei. Nach einer Weile deutete der Kommissar auf den Rucksack und machte eine Bemerkung zu dem Sergeanten, der ihn aufhob, öffnete und zu durchsuchen begann. Das wiederum veranlasste den Festgenommenen wütend aufzumucken. Er wollte aufstehen und den Rucksack an sich nehmen, wurde aber von dem Kommissar am Arm festgehalten und zurück auf den Stuhl gedrückt. Genüsslich und angewidert zugleich breitete der Sergeant den Inhalt auf dem Fußboden aus und sparte nicht mit Kommentaren, weder zu den zerknitterten Hemden und Hosen, den abgetragenen Turnschuhen noch zu der gebrauchten Unterwäsche. Die Reiselektüre beäugte er sehr kritisch. Bücher sind in einem totalitären Staat immer eine potentielle Gefahr, doch der Roman des gläserzersingenden Oskars, sehr passend für diese Gegend, schien kein Problem wohl wegen der unverständlichen Sprache kein Problem zu sein. Sein besonderes Interesse erregten dagegen zwei Dinge, die er im Kulturbeutel fand. Eine lose Alufolie mit eingeschweißten Tabletten inspizierte er misstrauisch, als ob es Drogen wären und beruhigte sich erst, als er den schon verblassten Aufdruck ASPIRIN entzifferte. Und das Päckchen Kondome mit der Aufschrift Blausiegel, die er als solche sofort identifizierte und die ihn zu einem Schwall anzüglicher Bemerkungen veranlasste, über die selbst sein grämlicher Chef lachen musste. Zum Schluss holte er noch aus den Nebentaschen die Kamera und einen Beutel aus schwarzem Kunstleder mit den belichteten und unbelichteten Filmen hervor.

Der Sergeant legte Kamera und Beutel auf den Tisch. Der Kommissar nahm die Kamera und begann sie neugierig zu untersuchen. Aus der Art wie er sie in die Hand nahm, wie er sie hielt und an ihr herumfummelte, wurde klar, dass er ein solches Modell noch nie gesehen, geschweige denn angefasst hatte. Nachdem er ausgiebig an allen Rädchen gedreht und alle Knöpfe gedrückt hatte, legte er sie wieder auf den Tisch und betrachtete sie, missmutig wie zuvor. Er schien wohl zu überlegen, wie er die bisher erfolglose Kommunikation fortsetzen sollte und auf einmal, war ihm wohl eine Idee gekommen, denn sein Gesicht hellte sich merklich auf. Nach ein paar Sätzen an seinen Untergebenen verließ dieser seinen Fensterplatz und begann die Fragen des Kommissars pantomimisch auszudrücken. Er formte mit seinen Händen eine Person, eine kleine Person, die etwas Längliches im Arm hielt, die Blumen. Der Kommissar nahm die Kamera in die Hand, hielt den Sucher viel zu weit vom Auge weg und deute an, dass er Aufnahmen machte, indem er klick-klick sagte. Den Knopf zum Entsperren des Auslösers hatte er bei seinem Gefummel nicht gefunden und mehrfach vergeblich versucht, ein Bild zu machen. Während er klick-klick sagte, blickte er sein Gegenüber fragend an und als dieser nickte, fuchtelte er mit der einen Hand vor dem Objektiv hin und her, schüttelte heftig den Kopf und sagte dabei mehrfach dieselben Worte, die schon der schreiende Alte benutzt hatte „nie wolno, nie wolno“, was, wie er später erfuhr „das darf man nicht“ heißt. Dann hielt er inne, nickte mehrfach zur Bestätigung seiner Worte und atmete hörbar auf. Er schien froh zu sein, dass er mit dieser Farce endlich Schluss machen konnte. Aber vorher musste er noch den Film haben, auf dem die beschämende Szene mit dem Landeskind, das den Kaugummi des Klassenfeinds nicht kannte, festgehalten war.

Das sollte in der nächsten, nicht so ganz einfachen Phase der Pantomime klar gemacht werden. Aus irgend einem Grund scheute sich der Kommissar, die Kamera einfach zu öffnen, den Film herauszunehmen und dem Licht auszusetzen. Vielleicht wusste er nicht, wie man das Rückteil öffnete, vielleicht hatte er aber auch Respekt vor dem Eigentümer oder es gab selbst hier eine Vorschrift, die das untersagte. Jedenfalls verstand der Delinquent sehr rasch, was der Kommissar von ihm wollte, weigerte sich aber standhaft und lauthals den Film preiszugeben. In seiner Not, als er um diesen kostbaren Besitz, seine in Bildern festgehaltenen Erinnerungen und Eindrücke kämpfte, fiel ihm ein, dass er eigentlich das Recht auf einen Anwalt haben müsste. Er sagt auf gut Glück „Advokat“ und legte den Zeigefinger auf seine Lippen, zum Zeichen, dass er nun nichts mehr ohne einen Anwalt sagen würde. Das gefiel dem Kommissar jedoch gar nicht. Er schüttelte heftig den Kopf und deutete auf seine Armbanduhr, um ihm klar zu machen, dass er dafür keine Zeit und auch keine Lust habe. Ein Advokat würde alles heillos verzögern und verkomplizieren.

Diese überaus lästige und überflüssige Angelegenheit wollte er jetzt, sofort beenden, selbst um den Preis, dass der renitente Ausländer seinen Kopf durchsetzte, den Film behielt und sein Vergehen ungesühnt blieb. Er sagte etwas zu dem Sergeanten, was dem aber offensichtlich gar nicht gefiel, denn er widersprach heftig, aber seine Widerrede wurde barsch unterbrochen, woraufhin er beleidigt schwieg. Nachdem der Chef seine Macht gezeigt und seinen Standpunkt klar gemacht hatte, zeigte er auf die im Raum verstreuten Habseligkeiten, dann auf den Rucksack und machte eine Bewegung des Einsammelns und deutete abschließend auf die Tür. Sichtlich erleichtert stand er sodann auf, wieder friedlich und leutselig, wie es wohl seinem Charakter entsprach, reichte dem jungen Mann die Hand und sagte ein paar Worte zum Abschied, die sich anhörten wie „mach so etwas ja nie wieder“ und ging hinaus.

Die Sachen auf dem Fußboden waren schnell aufgehoben und in den Rucksack gestopft, auch der Beutel mit den Filmen. Doch gerade als er die Kamera nehmen wollte, stand plötzlich der Sergeant neben dem Tisch und sagte „Pardon“ und dann seltsamerweise auf Deutsch „Auf Wiedersehen, Herr“, dabei machte er eine weitausholenden Geste mit beiden Armen und stieß mit dieser ungeschickten, aber durchaus beabsichtigten Bewegung die Kamera vom Tisch. Sie fiel auf den Steinboden. Der hässliche Knall und das Geräusch von splitterndem Glas machten überdeutlich klar, dass sie nicht mehr zu gebrauchen war. Er hätte heulen können vor Wut, aber dazu blieb ihm keine Zeit. Der Sergeant hob die demolierte Kamera auf, drückte sie ihm in die Hand, packte ihn am Arm und zerrte ihn aus dem Raum, die Treppe hinunter, über den Hof, zum Tor hinaus und entließ ihn, quasi mit einem Tritt in den Hintern, auf die staubige Straße.
 



 
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