Das Dammprojekt - eine kleine Fabel

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Chinasky

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Das Dammprojekt
Da ist vor uns also dieses mittlere Gebirgstal, ein wenig abgelegen, getrennt durch die hohen Felswände auf der linken und die weite Ebene auf der rechten Seite. Vom Flachlande bis hierher sind es etliche Vogelflugstunden. Wieviele, hat indes noch niemand gezählt, da die hier beheimateten Vögel nicht allzuviel in der Gegend herumfliegen, sondern sich vorzugsweise auf dieses Tal beschränken.
Überhaupt sind die Bewohner der Gegend etwas beschränkt oder rückständig – das ist eine Sache der Formulierung – und leben ziemlich planlos in den Tag hinein: Die säen nicht, sie ernten bloß das Nötigste und man muß sich wundern, daß sie doch ernährt werden.
Nun – eines schönen Tages trifft es sich, daß ein Fremder, ein Biber, in unser Tal verschlagen wird. Vielleicht verlor er in der großen Ebene die Orientierung, das ist gut möglich, oder er war auf seinem Nachhauseweg zu sehr in Gedanken verloren. Was uns schon weniger möglich dünkt. Jedenfalls ist er in das heimelige Gebirgstälchen gelangt und wo er schon mal da ist, faßt er gleich den Entschluß, ein Weilchen zu bleiben.
Mit seinen geübten Biberaugen hat er sogleich erkannt, daß sich dieses Tal vorzüglich zum Dammbauen eignet: Es müßte nur der Wildbach, der sich ziemlich willkürlich von den Gletscherhöhen hinunter durch das Tal schlängelt, etwas gestaut werden. Erst sollte man ihn vielleicht regulieren und im nächsten Arbeitsschritt dann endgültig stauen. Holz genug ist ja durch den üppig grünen Wald an den Berghängen vorhanden. Und da unser Biber keiner dieser endlosen Theoretiker ist, sondern ein Tier der Tat, und da auch der Herbst, das heißt die karge, kalte Jahreszeit, vor der Tür steht, also keine Minute zu versäumen ist, macht er sich alsbald ans Werk und startet - das Dammprojekt.
Die ansässigen Tiere, die bisher mit Ausnahme der Wildschweine (welche schon immer und aus Prinzip allem Neuen gegenüber mißtrauisch waren) ihn kaum beachtet hatten, werden nun auf ihn aufmerksam und wundern sich, was wohl der Sinn seiner Plackerei sei. Tatsächlich mutet die gehetzte Knabberei an den über hundertjährigen Tannen ein bißchen komisch an. So ein kleiner Biber und so große Bäume... Es stellen sich ihm auch unvermutet Hindernisse in den Weg: Das Holz der hiesigen Bäume ist härter und faseriger als das in seiner Heimat und somit viel schwieriger zu bearbeiten. Zudem kommt, daß es ihm als Einzelnem nicht möglich ist, die Stämme hinunter zum Wildbach zu schaffen, obwohl das Gelände überall abschüssig ist. Es gibt keine Wege außer den holprigen Trampelpfaden der Hirsche und Rehe, die aber für Schwertransporte nicht ausgelegt sind und überhaupt ohne jedes Konzept irgendwo beginnen und genauso sich irgendwo wieder verlaufen. Selbst wo es ihm gelingt, einen nahe dem Bach stehenden Baum so zu fällen, daß der sich genau quer darüber legt, rauscht das Wasser doch darunter hinweg und läßt sich nicht aufhalten, da eine Befestigung von Zweigen und Ästen für einen Einzelnen unmöglich ist: dazu fließt das Wildwasser zu rasch.
Im Ganzen besehen wirken die Anstrengungen des Bibers auf die anderen Talbewohner ebenso sinnlos wie lächerlich, und nachdem sie sich überzeugt haben, daß es sich bei dem Neuankömmling nicht vielleicht um einen gefräßigen Vetter der Wölfe und Füchse handelt, gehen sie bald wieder ihrem Tagwerk nach, welches darin besteht, sich für den Winter eine Schwarte anzufressen, oder, wie die Eichhörnchen, Vorräte zusammen zu suchen.
Auch der Biber sieht schließlich das Vergebene seiner Bemühungen ein und beschränkt sich darauf, für die Übergangszeit einen provisorischen Bau zu errichten, der freilich mit den stolzen Wasserburgen in seiner Heimat wenig gemein hat.
Er hat Glück. Der Winter ist kurz, nahezu ohne nennenswerte Schneefälle und längere Frostperioden, sodaß der notdürftige Holzhaufen für dieses Mal bis zum Frühling reicht.
Sobald der nun angebrochen ist, zieht der Biber von dannen, und schon grunzen die Wildschweine zufrieden, weil sie glauben, der Fremde sei für immer verschwunden. Dem ist aber nicht so, im Gegenteil: Wenige Tage später kehrt er zurück. Nur diesmal begleitet von einer ganzen Hundertschaft junger, unternehmungslustiger Biber, die er daheim abwerben konnte, und mit denen er nun das Dammprojekt wieder aufnimmt.
Das stimmt einige Einheimische nachdenklich, allen voran die Wildschweine, welche befürchten, die Talkultur werde durch Überfremdung zugrunde gehen, und die insgeheim beginnen, gegen die Biber zu intrigieren. Allerdings nicht allzu lange, dann kehren sie wegen mangelnden Erfolges zu ihren gewohnten Beschäftigungen zurück, die darin bestehen, sich den Rücken an den (immer seltener werdenden) Baumstämmen zu jucken, in Pfützen zu suhlen und die Erde nach Eßbarem zu durchwühlen.
Anders die Ameisen. Sie, auf die bisher meist verächtlich herabgesehen wurde, weil sie immer auf so großen Haufen kollektiv lebten und durcheinanderwuselten, sie, die früher als einzige sich zu großen Volksgemeinschaften zusammenschlossen und gemeinsam arbeiteten (wenn es sich dabei auch um reine Aufräum- und Säuberungsarbeiten handelte), fühlen sich durch die Biber bestätigt. Ihnen selbst war es nie gelungen, beeindruckende Veränderungen in der Landschaft zu bewirken, weil sie trotz allen sprichwörtlichen Eifers eben zu klein waren. Nun beweisen die Biber, daß das Prinzip der gemeinschaftlichen Arbeit das Richtige ist. So wogen die Ansichten zwischen Ameisen- und Wildschweinpartei hin und her, wenngleich nicht alle im Tal derartig klare Standpunkte vertreten.
Beobachtet werden die Biber aber allemal. Bald offen, wie von dem alten Hirsch, der an Altershör- und Sehschwäche leidet, und dem ohnehin nichts mehr peinlich ist, bald versteckt, wie von dem heimlichen Wiesel, aus seiner Deckung heraus. Manche wenden sich mit einem spöttischen Kopfschütteln ab, wie der Bär, dem es offensichtlich unter seiner Würde erscheint, mit solchen Mätzchen sich ernsthaft auf längere Zeit zu beschäftigen. Manche aber, wie die Kaninchen zum Beispiel, versuchen es den Bibern sogar gleichzutun. Sie haben einen Kollektivtunnel zu graben begonnen...
Die Biber scheren sich nicht weiter darum, wie ihr Unternehmen von den anderen Tieren kommentiert wird. Für den großen Biber, den Anführer, ist die Sache sowieso ganz klar.
„Natürlich!“, denkt er sich, „Das liegt doch auf der Hand! Dämme werden gebraucht. So staut sich das Wasser, und es entsteht ein feiner See, aus dem die Tiere trinken können. Ich kann meine Kinder aufziehen, wie es den Biberkindern angemessen ist, und überhaupt sieht so ein See toll aus uns ist ganz gewiß notwendig. Ein See muß her und daher ein Damm!“
So denkt er in seiner stringenten Art, spuckt sich in die Pfoten und baut einen herrlichen, großen Damm. Zusammen mit den anderen Bibern, die alle genauso tüchtig und praktisch veranlagt sind wie er, und die alle prächtige, effizient weiße Zähne haben.
Langsam nimmt das allgemeine Interesse der Tiere am Tun und Treiben der Biber ab, weil es den Reiz des Neuen verliert. Nur das Reh steht noch manches Mal an dem inzwischen entstandenen See und schüttelt wohl auch hin und wieder mit dem Kopf, als wolle es etwas sagen und traue sich nur nicht, dies ungefragt vorzubringen.
Es geht das Jahr vorüber, der Winter ist nahezu noch milder als der Vorangegangene, und den Bibern geht es jetzt gut. Sie haben im See ihre Burgen gebaut, darin sie auch jede Menge Vorräte für den Winter anlegten, und nur ab und an kommen sie aus ihren Bauten, um mit Stolz ihr Werk zu überblicken. Da sie planvoll vorgesorgt haben, ist ihre Situation eine bessere als die der anderen Tiere, und der „Große Biber“ denkt manchmal bei sich, wenn ihm die anfänglichen Anfeindungen der Wildschweine oder der arrogante Bär einfallen: „Wer zuletzt lacht, lacht eben doch am besten.“
Im nächsten Frühjahr, als mancher Dachs noch im Winterschlaf liegt, sind die Biber schon wieder emsig am Schaffen, der Damm wird erweitert, ausgebessert, erhöht und so fort. Wieder steht des öfteren das Reh am Ufer und schüttelt nachdenklich den Kopf, was dem Biber irgendwann einmal auffällt. Lange Zeit sagt er aber nichts dazu, denn genaugenommen schadet das Reh ihm nicht, auch wenn aus dessen Augen anscheinend eine Mißbilligung des Dammbauprojektes spricht. Solange es weder Sabotageakte anzettelt, noch eine Hetzkampagne gegen die Biber anstrengt, erscheint es klüger, das Reh einfach zu ignorieren.
Als es jedoch jeden Tag wiederkommt, und das über Monate hinweg, ärgert dies den Biber doch irgendwann so, daß er es schließlich anraunzt: „He, was stehst Du hier immer nur im Wege und behinderst uns bei der Arbeit?! Wenn du nichts zu tun hast, so fasse doch selbst mal mit an, anstatt hier Maulaffen feilzuhalten! Das sind mir die Richtigen, die immer nur passiv herumstehen, gaffen und andere die Arbeit für sich machen lassen!“
„Entschuldige, ich wollte euch keineswegs stören oder provozieren.“, sagt das Reh, „Aber meint ihr denn, daß es richtig ist, den Damm immer höher und höher zu bauen?“
„Natürlich ist es nötig“, antwortet der Biber, „den Damm immer höher zu bauen. Das ist doch klar wie Quellwasser, und ich weiß gar nicht, wie du so dumm fragen kannst. So kann eben nur ein Reh fragen. Ein Träumer bist du! Siehst du denn nicht, daß der Damm Fortschritt und Wohlstand bedeutet? Nicht nur für uns Biber, sondern auch für alle anderen Tiere im Tal?! Du zum Beispiel kannst jetzt die zarten Triebe knabbern, die aus den Stümpfen der gefällten Bäume sprießen, das Trinken ist dir nun, da das Erreichen des Wassers nicht mehr zu einer lebensgefährlichen Kletterpartie ausartet wie vordem, sehr erleichtert worden. Du kannst dich bequem ans Ufer des Sees stellen, da, wo du eine gute Rundumsicht hast, und kein Raubtier kann dich dann noch beim Trinken überraschen, wovor du früher immer Angst haben mußtest. Die Wölfe haben ihre Deckung verloren und sind schon frustriert fortgezogen, weil sie keinen Erfolg mehr bei ihrem blutigen Mordhandwerk haben. Somit trägt der Damm zur allgemeinen Sicherheit bei. Im See können jetzt auch Karpfen und Karauschen leben, die sich in der Strömung des Wildbachs nicht halten konnten, Enten schwimmen auf unserem See und haben ihr Auskommen. Du siehst, der Damm bringt allen nur Vorteile. – Du schweigst? So will ich dir noch weitere aufzählen. Da, wo einst der düstere Wald das Licht vom Boden abhielt, haben wir Lichtungen geschaffen, auf denen Hirsche grasen können. Die Vögel, die damals vor dem großen Umschwung mühsam ihren Hunger dadurch stillen mußten, daß sie die Tannenzapfen auseinanderrissen, laben sich nun an den Sämereien der Gräser. Jedes Tier kann, wann immer ihm danach ist, im übrigen ein Bad in unserem See nehmen, ohne dafür Eintritt zu zahlen!“
Hier hält er inne und scheint eine Antwort vom Reh zu erwarten. Dieses weiß im Augenblick nichts anderes anzuführen als: „Nun ja, mit all dem magst du schon Recht haben, aber irgendwie gefiel der Wald mir besser.“
Damit kommt es aber an den Rechten!
„Ach!“, ruft der Biber aus, „Der Wald gefiel dir also besser, ja?! Du stehst hier, kaust an unseren jungen Trieben, profitierst von unserer Arbeit und erzählst, der Wald habe dir besser gefallen?! Subjektiv sentimentale Schöngeisterei, wie? Daß ich nicht lache! Wir schuften uns hier für das Allgemeinwohl ab und du... – Was würdest du denn vorschlagen, wie wir uns alle ernähren sollen ohne den Damm? Sei doch einmal konstruktiv!“
Da schlägt das Reh die Augen nieder und ist eine Weile stumm.
„Ich könnte“, denkt es, „anführen, daß sich die Forellen in dem Bach wohler fühlten als im See. Und daß die Eichhörnchen sich jetzt weiter hoch in die Berge verziehen müssen, um genug zum Fressen zu finden. Aber da würde der Biber sagen, daß es sich hierbei um Minderheiten handelt, die für das Allgemeininteresse schon mal zurückstehen müssen. Ich könnte aus so argumentieren, daß unterhalb des Dammes die Gegend immer mehr austrocknet. Die Falter haben sich heuer schon beklagt, daß nur noch wenige saftige Blumen mit großen Blüten und süßem Nektar drunten im Tal wachsen. Aber dann wird der Biber behaupten, das liege an dem heißen, regenarmen Sommer. Und wer weiß? Vielleicht hat er damit Recht? Kann ich das Gegenteil beweisen?“
Das alles denkt es und sagt dann schließlich, da der Biber schon ungeduldig mit dem Schwanz klopft, recht kleinlaut: „Du magst Recht haben, euer Damm ist sicherlich ein Segen für uns alle. Aber nun habt ihr ihn. Jetzt könnt ihr doch erstmal Pause machen. Warum müßt ihr denn immer weiter und immer höher bauen?“
Da lacht der Biber laut und etwas höhnisch auf, „Häch!“, lacht er und antwortet: „Bist du ein naiver Narr, daß du so fragen kannst? Unsere Kinder und Kindeskinder sind es, für die wir vorsorgen, für ihre Zukunft rackern wir uns hier ab, sie sollen es mal besser haben. Wir vermehren uns, und alle wollen etwas zu fressen haben, jeder braucht seinen eigenen Bau. Dazu benötigen wir einen viel größeren See und einen viel höheren Damm. Wachstum nennt man das. Aber davon verstehst du wohl nichts, dazu bist du nicht praktisch genug und ohne die richtige Voraussicht.“
Spricht’s und verschwindet mit einem Platsch im See. Das Reh schaut ihm nach, wie er unternehmungslustig und seiner Sache gewiß mit kräftigen, dynamischen Schwanzschlägen, die zukunftsweisend sind, hin zu seinen Mitarbeitern schwimmt, um mit ihnen das Fällen einer Pappel am anderen Ufer zu besprechen.
„Wie klug die Biber doch sind!“, sagt sich das Reh, „Sie denken an die Zukunft und berücksichtigen Dinge, die mir nie einfallen würden. Sie werden schon wissen, was sie tun.“
So ganz geheuer ist ihm das emsige Treiben denn aber doch nicht, und während es beginnt, an ein paar jungen Trieben zu knabbern, grübelt es immer noch.
Und das Jahr geht vorüber, und die Biber haben viele Kinder, und in ihren Bauten haben sie auch genug Futter horten können für sich und ihre Kinder bis zum Winter.
Als der kommt, scheint er die vorhergegangenen ausgleichen zu wollen. Es schneit und friert wie seit hundert Jahren nicht mehr.
Die Biber sitzen in ihrem Bau, das Reh aber und auch die Hirsche und Hasen frieren, denn der Wind fegt unbarmherzig über die Baumstümpfe hinweg. Nirgendwo ist ein geschützter Winkel wie früher, wo man sich unter den herabhängenden Fichtenzweigen bergen konnte. Der See schließt sich in der Kälte, wird zu einer harten Spiegelfläche und die Tiere finden keine Stelle mehr, wo sie trinken könnten. Für eine kurze Zeit noch vermag der Bär ein Loch ins Eis zu schlagen, doch schließlich wird es selbst für ihn zu dick. Früher plätscherte das Wasser im Bach sommers wie winters, es war bewegt und fror nie ganz ein.
Über dem Gras liegt eine hohe Schneeschicht, noch dazu verkrustet, sodaß sich das Reh anstrengen muß, um mit seinem Fuß die verwelkten Halme frei zu kratzen. Die Triebe an den Baumstümpfen sind freilich hart gefroren. In früheren Wintern lagen unter den Bäumen Tannzapfen, Eicheln und Kastanien, die man zur Not essen konnte, außerdem lag der Schnee nicht so hoch, er blieb in den Wipfeln hängen, und was unten ankam, war weich und ließ sich zur Seite scharren.
So muß man darben, Schnee fressen, um den Durst zu stillen, wobei die Eiskristalle wie Nadeln im Schlund stechen. Viele leiden unter fürchterlichen Hungerqualen. Das Tal ist wie ausgestorben, die Vögel haben sich davon gemacht in Nachbartäler, sosehr sie auch früher ihrer Heimat verbunden waren. Nur das Heulen des Windes ist zu vernehmen, wie er die Felswände hinunterfährt, dazu das Rieseln des Schnees, der hin und her treibt, weil ihm nirgendwo ein Hindernis geboten wird, an dem er sich aufhalten könnte. Manchmal vermeint man auch zudem noch das tiefe Seufzen des alten Hirsches zu vernehmen. Als der Winter seinem Höhepunkt zustrebt, verstummt es.
Die Not ist groß, schlimm ist der Winter, und viele Tiere wagen nicht einmal mehr, sich abends zum Schlafen niederzulegen, aus Angst, über Nacht zu erfrieren. Nur den Bibern in ihren Burgen geht es erträglich, sie haben es warm und geschützt. Manch ein Talbewohner nimmt sich vor, im nächsten Jahr genauso tüchtig zu arbeiten und vorzusorgen wie sie. Selbst unter den Wildschweinen vernimmt man ab und an mal ein übelgelauntes Grunzen, in der Art, daß der Rottenführer doch, anstatt Kampagnen gegen Überfremdung anzuzetteln, lieber hätte von den Fremden lernen sollen. So müsse man nun die Anmaßung mit einer Fastenzeit bezahlen, die über jede Speckschwarte gehe...
Doch endlich setzt der Frühling ein! Die Sonne bricht durch die Wolken, welche monatelang grau wie eine Kühldecke über dem Tal hingen, und die Tiere recken sich hoffnungsvoll den wärmenden Strahlen entgegen. Es wird von Tat zu Tag wärmer, der Schnee schmilzt und das Eis. Erst nur an der Oberfläche, wo sich kleine Perlen bilden, die in der Nacht wieder erstarren. Aber schließlich friert es nachts nicht mehr, und Eis und Schnee schmelzen rascher. An manchen Stellen kann man es knacken hören im See.
Unter den Schneewehen bilden sich in Höhlen kleine Pfützen, werden zu Rinnsalen und dann zu kleinen, murmelnden Bächen, die von den Berghängen hinabfließen, rauschen manchmal als kleiner Wasserfall, werden schneller, reißen hier und da einen Kiesel mit, werden breiter, schießen nun schon zusammen durch die schmale Klamm, ohne daß Wurzeln fester Bäume ihnen Einhalt geböten, tosen, brechen Felsbrocken aus und rollen sie mit, wirbeln Sand auf, schlagen wuchtig über das verbliebene Herbstgras, waschen es aus, schwemmen es mit, werden zum brausenden Strom und ergießen sich schließlich dunkel grollend in den See.
Der Biber, der eben noch in seinem Bau döste, zufrieden und ein wenig schadenfroh, weil er doch so klug gewesen war und das Reh so faul und dumm, er hört da irgend etwas, ein dumpfes Geräusch. Nanu, klopft da jemand? Er streckt den Kopf aus der Öffnung seines Baues, um zu sehen, was da vor sich gehe.
Da schießt aber schon heran das brodelnde Element, schießt über ihn, schießt über seinen Bau, über seinen Damm, wirbelt alles hinweg, die Zweige, die Baumstämme, alles, was so geschickt und fest verankert war, so hochwertig verarbeitet, alles, alles wirbelt es hinweg, wie Streichhölzchen, so leicht.

„Der Damm!“, kann der Biber noch denken, „Der Damm! Was für eine Kapitalvernichtung!“
Dann packt es ihn, hebt ihn hoch, wirft ihn hinunter, reißt ihn fort und nimmt die Besinnung.

Ein paar Tage später haben sich die Wassermassen verflossen und lassen ein schlammbedecktes, verheertes, grau-totes Tal zurück.
Einer der Vögel, die im kalten Winter von hier fortzogen, und der nun zurückkehren will, fliegt hinüber und denkt sich: „Schau an, schau an, wie man sich in der Richtung irren kann!“ Dann fliegt er weiter, über die nächste Bergkette.
Die zwei Füße, die irgendwo im Schlamm aufragen, die schon ein wenig riechen und an denen dicke Fliegentrauben kleben, hat er gar nicht bemerkt. Und wenn man näher hinsieht, so unterscheidet man sie: Ein zierlicher Rehhuf und eine kräftige, mit praktischen Arbeitskrallen bestückte, zukunftsweisende Biberpfote. Das wird aber sicher ein Zufall sein und hat nichts zu bedeuten.
 
W

willow

Gast
Hallo Chinasky,

Wow, was für eine Geschichte. So spritzig und mitreißend erzählt.

Auf eine Empfehlung von Kadra bin ich gestern schon hier gewesen und habe deine Erzählung gelesen. Sie ist wirklich gut.
Der Fortschritt, das Wachstum...und dann das Ende.

Ich freue mich auf mehr...

LG,


willow
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

ja, wie sagt der volksmund? es recht zu machen jedermann ist eine kunst, die keiner kann. aber gut geschrieben, wenn auch ein klein bischen langatmig. ganz lieb grüßt
 

Chinasky

Mitglied
@Willow: Man dankt. :) Solch Lob ist fast noch schöner, als von Kadra empfohlen zu werden...

@flammarion: Arrgh! Das ist einer meiner Generalfehler, diese Langatmigkeit. Eigentlich ein Verbrechen am Leser, dessen Zeit man stiehlt. Und bei andern ist's mir ein Greuel... Es fehlt halt der Lektor, der gnadenlos zusammenstreicht. Besserung will ich nicht geloben, aber mir fest vornehmen.

Ciao,
Hank
 
S

stephy

Gast
WOW !!!

Hi Chinasky!

Einfach wundervoll, die Geschichte! Richtig mitreisend und auch traurig erzählt!!!! GENIAL!!! :D ;)
Ich liebe Fabeln ohnehin und finde, daß "leselupe" eigentlich mehr von der Sorte braucht!!! ;)

Den Schluß hab ich nicht ganz verstanden, muß ich nochmal lesen... ;) Aber das liegt an mir!!!

Schöne Grüße und danke für das Leseerlebnis!

Griasle
stephy
 

Chinasky

Mitglied
Hi stephy!
Freut mich, wenn Dir die Geschichte gefallen hat. Was den Schluß angeht, so verstehe ich den auch nicht so richtig. Ich verstehe eh nie, wenn Schluß ist. ;)
Grüße vom erfreuten
Hank
 



 
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