Das Diktat

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Nach einer unvergesslichen Nacht
auf einem mondhell leuchtenden
Kopiergerät mit Multifunktion,
züngelt Herr Meier seine Anwesenheitskarte
durch das Lesegerät und hüftelt
mit zufriedenem Lächeln auf Fräulein Sense zu.
Mit niedergeschlagenem Blick hüstelt die Sekretärin:
„Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Meier.“
Er hebt sein Becken auf ihren Schreibtisch
und ertrinkt in ihrem hastig nachgezogenen Lidschatten.
Für Herrn Meier gibt es heute nur sie und das Diktat.

Auf der Uhr lieben sich die Sekunden
und stoßen rhythmisch auf die Sieben zu:
Drei – Zwo- Eins;

Fräulein Sense zupft mit spitzen Fingernägeln
ein Schreibgerät aus der eng anliegenden
Brusttasche ihrer blauen Bluse und beginnt
ein Blatt Papier mit beliebten Blumenmotiven
zu bemalen.
Herr Meier bewundert das Bukett.
Er lehnt sich zu ihr herüber und nestelt über den
Bildschirm eines 486ers hinweg an ihrer
von extrastarkem Haarlack knochentrockenen
Dauerwelle, die nach Dhonig und Drosen duftet.
„Mein lieber Schnuckelputz.“ Er stockt.
„Ich meine, sehr geehrter Herr Schnu…
SEHR GEEHRTER HERR SCHNEIDER“, sagt er laut.
Und Fräulein Sense lächelt sanft und schreibt Steno.
Herr Meier räuspert sich:
„Wie wir letzte Nacht;
wie wir letzte Woche schon besprochen hatten,
kopiere, ehm, schiebe ich Ihnen die Fotos; die Formulare –
schicke ich Ihnen die Formulare von hinten;
von Hinrichsmeyer, meine ich, ich schicke Ihnen
also die Formulare von Hinrichsmeyer zu.“,
Er wird stocksteif und schaut stirnrunzelnd auf den Stenoblock.
„Wie weit sind wir denn schon, Schnuckelsputz,
ich meine Fräulein Schneider, eh Sense!“
Fräulein Sense rezitiert reibungslos.
Herr Meyer schaukelt um den Schreibtisch herum
und beugt sich weit über ihre Schulter.
„Es war die schönste;
es war mir eine Freude mit Ihnen zu schlafen;
GESCHÄFTE – ich meinte natürlich,
GESCHÄFTE ZU MACHEN.“ Herr Meier lacht gekünstelt.
„Sie können jeder Zeit…“ Er hält inne.
„Mein Gott, was schreiben Sie denn da!“, ruft er ärgerlich.
„Sie können also jeder Z-E-I-T wieder mit mir
schlafen, ach, RECHNEN NATÜRLICH!
ABSATZ!
Auch die besten Grüsse“, Meier ist
überrascht, fehlerfrei geblieben zu sein.
„Also, auch die besten Grüsse
an meine Frau;
AN IHRE FRAU! PUNKT.
ABSATZ!
Ihr geliebter,
nein,
Ihr ergebenster Meier.“

Herr Meier ist kraftlos auf Fräulein
Senses Schulter zusammengesunken.
Liebevoll säuselt sein erschöpfter Atem
über das Wäldchen ihrer aufgerichteten Nackenhaare.
„Möchtest du einen Kaffee?“, fragt er ganz erschöpft.
Fräulein Sense nickt aufrichtig.

„Dann mach mir doch gleich einen mit“, sagt er
und er knurrt sie wie ein Tiger an,
„MEIN SCHNUCKELPUTZ.“
 

Acroma

Mitglied
^^

Sehr schön, ich kanns mir bildlich vorstellen: wie die beiden da sitzen und völlig verplant sind. Sehr gelungen!
 
Ja, ich hatte den Text neulich auch mal wieder "zufälligerweise" zur Hand. War ganz lustig, aber beim Lesen war mir, als ob er nicht mehr in allen Einzelheiten zu mir passt. Das ist eben so eine Sache, wenn etwas schon so lange zurück liegt - man verliert den Bezug zu dem Menschen, der den Text geschrieben hat.

Also sag ich hier mal stellvertretend danke für deine gute Meinung und leite alles weiter an mein dahingeschiedenes Ich, das einmal sehr gern lustige Texte geschrieben hat, auch wenn sie nicht immer eine große Glanzleistung waren.

Grüsse zurück, Marcus
 



 
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