Das Dokterchen

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Homosapiens

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Es gab schon lange keinen Morgen mehr, an dem sich Dr. Olaf Petersen beim Erwachen auf den Tag gefreut hätte. Es begann wie jeden Morgen mit einem harten Klopfen an seiner Zimmertür, die fast gleichzeitig aufgestoßen wurde, sodaß sein "Herein!" sich ohnehin erübrigt hätte. Die Pfleger standen unter ständigem Zeitdruck, aber wozu dann dieses Klopfen, das zu einem bedeutungslosen Kurzritual verkommen war? Es erlaubte weder eine Reaktion noch eine Antwort, eigentlich diente es nur der Vergewisserung seines völligen Ausgeliefertseins. Das eilige, bestimmte "Guten Morgen!" der tatkräftigen Schwester Margret, die dann auch schon das Fenster aufriß mit dem vorwurfsvollen Ausruf:
"Hier muß aber erstmal frische Luft rein, Dokterchen!" Es sollte wohl familiär klingen. Die Kälte der vergangenen Frostnacht zog in einem Schwall herein.

Noch vor einem Jahr hätte niemand sich solche Vertraulichkeiten ihm gegenüber herausgenommen. Aber dann hatte seine Situation sich plötzlich völlig verändert. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hatten es lediglich drei Wochen Kurzzeitpflege werden sollen, bis er wieder gehfähig wäre.
Regelmäßige Mahlzeiten und Hilfe bei der Körperpflege, ehe er in sein Haus zurückkehren konnte, sein vertrautes Leben, das er zu großen Teilen in seinem Lieblingsraum zubrachte, seiner in fast neunzig Lebensjahren gewachsenen Bibliothek.

Dort vergaß der hagere, pensionierte Lehrer schon mal die eine oder andere Mahlzeit, wenn er sich der Beschäftigung mit seiner Leidenschaft, der Astronomie hingab. An langen Abenden und zeitweilig auch nächtelang hatte er dort seine Doktorarbeit über die sogenannten schwarzen Löcher verfaßt, die größte bekannte Materieverdichtung des Universums. Diese Gravitationszentren verschlangen nach und nach die nähere und dann auch die fernere Umgebung bis zu einer punktförmigen Ausdehnung, in der die Zeit rückwärts lief. Dr. Petersen hatte genügend mathematisches Handwerkszeug in seinem scharfen, unerschrockenen Verstand, der unermüdlich lebenslang um Erkenntnis gerungen hatte.

Seine Schüler erreichten üblicherweise ihre Grenzen mit der Vermittlung der physikalischen Grundkenntnisse, die im Lehrplan vorgeschrieben waren, und doch hatten einige von ihnen später noch manchmal diesen mageren, begeisterten Wissenschaftler besucht, der bei einem Samowar und einer Schale mit Trockenfrüchten auf seinem Schreibtisch die Zeit vergessen konnte und in die Geheimnisse des Universums einzudringen suchte. Wenn er das All in mathematischen Formeln unterbringen und die unermesslichen Vorgänge verstehen konnte, war es fast ein Gefühl schöpferischer Freiheit. Freimütig ließ er Besucher teilhaben, bis sie sich erschöpft am Rande ihres Verständnisses wiederfanden. Jeder Gast aber hatte erst an seiner Tür geläutet und höflich auf seine Aufforderung zum Eintreten gewartet.
Man sah ihm nach, wenn er beim eifrigen Dozieren manchmal ein wenig in den Mundwinkeln schäumte. Begeisterung kann blindlings mitreißen!

Hier im Pflegeheim war es anders, er wurde zu den ungeliebten Mahlzeiten genötigt und von den diensthabenden Schwestern mit leisem Tadel wie ein Kind zur Serviette ermahnt. Als Antwort auf seine Bitte um Lesestoff hatte Margret ihm einen Stapel Magazine hingeworfen, mit Prominentenklatsch und einem Kreuzworträtsel auf der letzten Seite. Dr. Petersen hatte dringend auf das Ende der Kurzzeitpflege und seine Rückkehr nach Hause gewartet, die Heimleiterin Frau Helfer allerdings hatte Blut geleckt und in ihm ihr nächstes Opfer erspäht. Ein Vollpflege-Platz bringt dem Heim gutes Geld, und so hatte Frau Helfer mit kugelrund aufgerissenen, aber kalten Augen und und großer Besorgnis in der Stimme vorsorglich den Amtsarzt und das Vormundschaftsgericht bemüht. Leider hatte Dr. Petersen dann nicht darauf bestanden, den zwölfseitigen Vertrag erst durchzuarbeiten, der ihm unter dem Vorwand von Eile samt einem Kugelschreiber vorgelegt wurde, während Frau Helfer ungeduldig neben ihm stand und mit heller Zwitscherstimme an sein Vertrauen appellierte. Er hatte gar nicht mitbekommen, als er sich für den Rest seines Lebens Frau Helfer und ihren strengen Hausregeln auslieferte, mit einer beiläufig gegebenen Unterschrift.

In Form seines ehemaligen Hauses war genügend Vermögen vorhanden, seine umfangreiche Bibliothek, sein Lebenswerk, hatte er allerdings aus Platzgründen nicht mitnehmen können. Er vermißte seinen Samowar, aber die Schwestern verstanden ihn nicht. "Was wollen sie denn, Dokterchen, hier kriegen sie doch ihren Tee zu den Mahlzeiten?" Er war doch wohl gut versorgt? Immerhin bot das Heim Pflege mit Herz an, zur Überzeugung der letzten Zweifler hatte es ein gemaltes, rotes Herz im Emblem. Wofür doch dieser arme Muskel überall auf der Welt herhalten mußte! Aber gesagt hatte Dr. Petersen nichts mehr, er würde Frau Helfer und ihrer Truppe ohnehin nicht entkommen. Wohin auch noch?

Er griff nach der kleinen Schale mit Trockenfrüchten auf dem Tischchen, aber Schwester Margret war ihm schon zuvorgekommen und hatte die Schale flink aus seiner Reichweite gezogen. "Das wollen wir jetzt gar nicht", rief sie munter, aber streng, "gleich gibt's Frühstück!" Weißmehlbrötchen mit Marmelade. In Trockenfrüchten wäre wenigstens etwas mehr an Gehalt gewesen. Und wieso wollen wir etwas oder nicht? Gab es hier Meinungen grundsätzlich nur im Doppelpack? Wann war er das letzte Mal etwas gefragt worden?

Am Abend dieses betrüblichen Tages dämmerte es früh, Schneetreiben zog auf. Es hatte zeitig das ungeliebte Abendbrot gegeben, danach hatte man ihn, schon im Nachtanzug, an seinem Tischchen sitzen lassen. Durch krankheitsbedingte Ausfälle war die Station personell unterbesetzt, etliche Bettlägerige mußten natürlich trotzdem zur Nacht fertig gemacht werden. Die Medikamentenausgabe war beendet, Dr. Petersen hatte sein Schlafmittel bekommen. Durch Jahrzehnte an nächtelange Studien gewöhnt, war er nachts oft unruhig. Das wurde gar nicht gern gesehen, die Bewohner gehören nachts ins Bett! Der Heimarzt hatte Abhilfe geschaffen und Dr. Petersen etwas verordnet, was "ihm guttun" würde.

Aber die Müdigkeit wollte sich heute nicht einstellen. Der bewegliche Geist war unterversorgt, also mußte er sich wenigstens körperlich Bewegung verschaffen. Das Verlassen des Hauses um diese Zeit war gegen die Hausordnung, aber es gelang ihm, sich zwischen einigen letzten Besuchern mit durch die automatische Tür nach draußen zu begeben. Eisige Nachtluft empfing ihn, irgendwie tröstlich. In den gewaltigen Dimensionen zwischen den Sternsystemen ist es kalt, viel kälter als irgendwo auf unserem kleinen Globus. Sein eilig übergeworfener Mantel hielt die Nachtluft und das einsetzende Schneetreiben nur ungenügend ab. Und jetzt kam auch langsam die Müdigkeit angeschlichen. Die automatische Eingangstür war hinter dem letzten Besucher elektronisch verriegelt worden, er hätte um Einlaß klingeln müssen. Er hörte förmlich die Vorwürfe des Nachtdienstes: "Wir haben nun wirklich genug zu tun, und das Dokterchen hält hier alle auf mit seinem Alleingang......" Dr. Petersen beschloß, ein paar Schritte allein zu tun und die ungewohnte Freiheit unter dem Himmelszelt des Universums zu genießen.

Ein früher Spaziergänger mit seinem Hund stockte am nächsten Morgen, als er die magere Gestalt auf einer Bank entdeckte. Sie hatte den Kopf nach hinten gelegt und das blicklose Gesicht direkt dem Universum zugewandt. Am Ende war Dr. Petersen Frau Helfer und ihrer Truppe doch noch entkommen.
 
Homosapiens, diesen Text habe ich trotz des betrüblichen Stoffs gern gelesen. Das lag wohl am flüssigen Stil, der Anschaulichkeit der Darstellung. Persönlich habe ich keine nennenswerten Kenntnisse von Zuständen in Pflegeheimen. Eigentlich hoffe ich, du hast zugespitzt, stark übertrieben. Der Text selbst legt mir jedoch nahe anzunehmen, so wie hier könnte es nicht selten wirklich sein.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

Homosapiens

Mitglied
Hallo Arno Abendschön, danke für Deine Rückmeldung und besonders für Dein Interesse an den Hintergründen. Tatsächlich habe ich völlig authentisch berichtet und nur den Protagonisten und sein Schicksal erfunden. Er ist, demographisch begründet, in zahlreicher Gesellschaft, in der jeder einzelne einsam ist. Ich versuche mich als Sprachrohr dieser stummen Schicksale. Begründet in der Sucht nach Gewinnmaximierung, befeuert vom geringen Wert, der dem einzelnen Menschen abseits der Brauchbarkeit zugestanden wird, hat sich mittlerweile eine einträgliche Kultur der Verwaltung Schwächerer etabliert. Mit jedem aber, den mein Text erreicht, so wie Dich, ist einer vergessenen Seele immerhin späte Gerechtigkeit zuteil geworden. Herzliche Grüße von Homosapiens
 
E

eisblume

Gast
Hallo Homosapiens,

sehr traurig, aber wohl wahr.
Ich habe deinen Text auch gern gelesen.
Einen Vorschlag hätte ich allerdings: unbedingt den letzten Satz streichen; den braucht es nicht.

LG
eisblume
 

Homosapiens

Mitglied
Hallo eisblume, danke für Deinen mitfühlenden Kommentar. In der Tat entstammen meine Beobachtungen dem wahren Leben. Da das Ende der Geschichte offensichtlich ist, wäre der letzte Satz wohl verzichtbar. Er ist mir allerdings angesichts unfaßbarer Zustände so sehr persönliche Genugtuung, daß ich ihn mir zum Trost stehen lassen muß. Grüße von Homosapiens
 
E

eisblume

Gast
Hallo Homosapiens,

das machst du natürlich so, wie es für dich am besten passt!
Ich habe das jetzt auch nur vom handwerklichen Aspekt her betrachtet. Wenn jemand persönlich Erlebtes wiedergibt, ist es ohnehin schwer, irgendwelche konkreten Vorschläge zu machen, das funktioniert (aus meiner Erfahrung) so gut wie nie.

Herzlichst
eisblume
 

annagreta

Mitglied
Abendgruß von annagreta.
Homosapiens, Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen, kann alles nachvollziehen und mitempfinden.
Möchte mich anschließen, hätte den letzten Satz einfach weggelassen.
 

Homosapiens

Mitglied
Hallo annagreta, vielen Dank für Deinen Gruß! Stilistisch hast Du so recht wie eisblume auch, je kürzer, desto besser. Zu diesem letzten Satz hat mich eine eigene Betroffenheit bewogen, die noch anhält. Vielleicht kann ich Frieden schließen und den letzten Satz streichen, wenn das Pendant meiner Protagonistin Frau Helfer meine Geschichte gelesen hat. Dieser Typ Mensch allerdings hinterfragt ungern eigenes Verhalten, es könnte Einfluß nehmen auf ihre bequemen, materiellen Grundlagen. Grüße von Homosapiens
 



 
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