Das Dritte Tor

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haljam

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Als der Bäcker kam, spielten sie schon. Es war kurz vor Schluss der regulären Spielzeit, und das legendäre "dritte Tor" war noch längst nicht gefallen. England führte mit 2:1 Toren, der Titelgewinn war in greifbare Nähe gerückt.
Samstagnachmittags nämlich kam zu uns immer ein Bäcker, in einem weißen Kombi. Bei ihm kauften wir dann unsere Wochenration Brot.
Als er an jenem Samstag kam, saß die ganze Familie vor dem Fernseher. Es war ein unglaublich spannendes Spiel. Deutschland hatte es tatsächlich bis ins Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft geschafft und spielte nun gegen den Gastgeber um den Titel. Mit einem Tor von Helmut Haller war die deutsche Mannschaft schon in der 12. Minute in Führung gegangen. Gut fünf Minuten später erzielte Geoffrey Hurst dann den Ausgleichstreffer, und das blieb auch der Spielstand bis zum Ende der ersten Halbzeit.
Nach der Halbzeitpause wendete sich das Blatt. In der 78. Minute ging England durch ein Tor von Martin Peters mit 2:1 verdient in Führung und hielt diese Führung eisern bis in die letzten regulären Spielminuten hinein.

In dieser dramatischen Schlussphase klingelte es, unser Bäcker stand vor der Tür, brachte uns unser Brot und fragte beiläufig nach dem Spielstand. "Kommen Sie ruhig 'rein!" sagte meine Mutter. "Das ist gerade so unheimlich spannend. Wenn Sie wollen, können Sie bei uns mitgucken!" Der Bäcker ließ auch prompt seine Brote Brote sein und setzte sich zu uns ins Wohnzimmer.

Gemeinsam fieberten wir nun mit der deutschen Mannschaft mit. Je näher der Schlusspfiff rückte, desto mehr ergaben wir uns in unser Schicksal: es hatte leider nicht gereicht, Deutschland würde wohl "nur" Vize-Weltmeister werden!
Dann endlich, wirklich in allerletzter Minute, nach vielen vergeblichen Versuchen, gelang Wolfgang Weber der ersehnte, erhoffte, erfieberte Ausgleich. 2:2 in der 89. Spielminute! Ein Wahnsinnstor, durch alle Verteidiger hindurch, ein Tor, mit dem kaum jemand noch gerechnet hatte. Ein Tor, das dieses entscheidende Spiel für die deutsche Mannschaft noch einmal aus dem Feuer riss. Kurz darauf endete auch schon die reguläre Spielzeit, beide Mannschaften konnten für einige Minuten durchatmen, dann begann die Verlängerung.
Die Fußballgöttin hatte die Karten noch einmal neu gemischt - es war wieder alles drin, damals, im Juli 1966. Ein aufregendes Spiel im Londoner Wembley-Stadion.
Und dann, in der 101. Minute, dieser denkwürdige Schuss, an dem sich die Gemüter weltweit heftig entzünden sollten, noch Wochen und Monate, ja, sogar noch Jahre danach. Und wir, wir haben es damals am heimischen Fernseher miterlebt, zusammen mit unserem Bäcker!

Es war Samstagnachmittag, Samstag, der 30. Juli 1966: Die Engländer greifen an, Geoffrey Hurst nähert sich dem deutschen Tor, schießt. Ein gewaltiger Schuss, der Ball trifft die Unterkante der Querlatte, springt zurück ins Feld, aber war es nun vor oder hinter der Linie, wo er aufschlug? War es ein Tor oder war es keins? 'Kein Tor', signalisieren die deutschen Spieler. Der Schiedsrichter ist noch unschlüssig, er war viel zu weit weg. 'Tor' signalisiert der russische Linienrichter. Tausende von Malen wird diese Spielszene in späteren Fernsehsendungen wiederholt, mal in Zeitlupe, mal Bild für Bild, vorwärts und rückwärts mit akribischer Genauigkeit.
Der Schiedsrichter verlässt sich auf seinen Linienrichter und gibt dieses umstrittene Tor, die deutschen Spieler protestieren. Völlig demoralisiert spielen sie weiter, für sie war das eine glatte Fehlentscheidung. Die Zeit läuft. Fast aussichtslos, jetzt, so kurz vor Ende der Verlängerung, noch einen Ausgleich zu erzielen. In der 120. Minute hat es den Anschein, als sei das Spiel schon abgepfiffen, einige Zuschauer kommen auf das Spielfeld gelaufen, die Deutschen bleiben völlig erschöpft und niedergeschlagen stehen, Geoffrey Hurst jedoch erkämpft sich noch einmal den Ball und stürmt nach vorn, da steht keine Verteidigung mehr, er hat leichtes Spiel, schießt den Ball ins deutsche Tor - 4:2! Nun ist es amtlich: England ist Fußballweltmeister 1966!
 



 
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