Das Duell (1)

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Wolf-Wolle

Mitglied
Der Sommer endete früher als sonst.
Boris spürte es an seinem Fell. Die Wolle unter den störrischen Deckhaaren wurde dicker, bevor der Erntemond rundete.

Boris kannte den Kalender nicht. Aber er wusste, dass die Herde nach dem ersten vollen Mond, der auf die Schneeschmelze folgte, in die Berge zog und dass der erste volle Mond nach der großen Sommerhitze das Signal zum Abstieg gab. Wenn Boris zählen könnte, hätte er ganz einfach gesagt:
“Nach dem fünften Vollmond beginnt der Heimweg.”
Boris war ein Hund und Rudelführer der Owtscharki. Sie hatten die Herden im Frühjahr hinauf zu den Hochwiesen und im Herbst wieder hinunter ins Tal und schließlich bis zum Dorf zu begleiten.

Während des Sommers war nicht viel zu tun. Die üblichen Rundgänge und Erkundungen. Allgemeine Vorsichtsmaßnahmen, wie sie bei jeder Weide immer gemacht wurden, nichts Aufregendes.

Ganz eindeutig kam der Winter zu früh.
Der Mond war noch nicht einmal halb, da pfiff der Wind bereits grimmig durch die Berge und zwickte die Hunde in ihre dicken Nasen. Eines Morgens lag plötzlich der erste Schnee.
Aufgeregt liefen die Hirten im Lager umher und begannen, in Windeseile alles einzupacken und für den Rückweg fertigzumachen. Viel war es bei keinem. Jeder hatte rasch seine Habseeligkeiten zusammengesucht und in den Satteltaschen verstaut.
Decken wurden zusammengerollt, Bündel geschnürt, Packpferde beladen. Jeder Handgriff musste sitzen. Eine Nachlässigkeit konnte sich später bitter rächen. Zuletzt wurden die Zelte abgebaut und aufgeladen.

Es war nicht gut, überhastet den Heimweg anzutreten. Um den Abtrieb gründlich vorzubereiten, brauchten sie eigentlich ein, zwei Tage. Aber wie es aussah, hatten sie nicht einmal mehr einen Tag. Der Wind blies immer heftiger und brachte mehr Schnee. Wenn sie länger warteten, kamen sie vielleicht gar nicht mehr weg.
Das bedeutete den sicheren Tod für alle. Boris spürte das und war bereit. Das Rudel hatte sich zusammengefunden. Alle waren gesund und kräftig.

Das Aufbruchsignal fand jeden an seinem Platz.
Tschaika und Ina, die beiden dunklen Hündinnen, liefen mit Igor der Herde voraus. Ein Angriff von vorn war zwar kaum zu befürchten, jedoch musste man auf alles vorbereitet sein. Boris hatte seine beiden älteren Schwestern an die Spitze geschickt. Tschaika war fast so stark wie er und wesentlich größer als die etwas zierlichere und jüngere Ina.

Zierlich ist bei der Beschreibung eines Kaukasischen Owtscharkas allerdings der falsche Ausdruck. Diese Hunde sind ausnahmslos breitbrüstig und wuchtig ohne schwerfällig zu wirken. Voller Kraft und Selbstbewusstsein kennt jedes Mitglied des Rudels seine eigene Stärke und ordnet sich nur dem Rudelführer unter. Boris duldete keinen Widerspruch und bestand auf Durchführung aller Anordnungen, denn davon hing das Schicksal der Herde ab. Das Rudel erkannte seine Überlegenheit in jeder Beziehung an.

Wäre Boris heutzutage auf einer Ausstellung gezeigt worden, hätte er sämtliche Preise bekommen. Er war ein Prachtexemplar, das Musterbeispiel eines Herdenschutzhundes. Mit knapp einem Meter Schulterhöhe und nicht ganz zwei Zentner schwer war er der größte, stärkste und wohl auch der klügste Hund im Rudel. In seinem langhaarigen Fell wetteiferten schwarze und braune Strähnen miteinander um die Vorherrschaft auf grauem Grund. Zwei kurze Stummel standen als Ohren an seinem breiten Schädel. Die ursprünglich schönen, langen Schlappohren, mit denen Owtscharki auf die Welt kommen, sind sehr gut durchblutet und brauchen nach einer Verletzung lange Zeit zum Heilen. Diesem Problem gingen die Hirten aus dem Weg, indem sie den jungen Hunden kurzerhand die Ohren abschnitten.

Boris befand sich im besten Alter. Er konnte ein Pferd aus vollem Galopp zu Boden werfen und nahm es leicht mit drei, vier Wölfen gleichzeitig auf. Aber nicht allein seine überragende Kraft machte ihn zum Rudelführer. Er war auch sehr klug, konnte jede Situation blitzschnell einschätzen und entsprechend reagieren. Ein einziges Mal nur hatte Boris bei der Arbeit eine falsche Entscheidung getroffen. Allerdings führte er damals noch nicht das Rudel.

Igor war mit seinen vier Jahren gerade erwachsen und ab und an noch ein rechter Heißsporn. Boris war sich sicher, dass seine beiden Schwestern gut auf ihn acht gaben und ihn, wenn nötig, mit einem kräftigen Stups zur Ordnung riefen.
Rechts und links der Herde ging jeweils ein Rüde mit einer Hündin, alles kluge und erfahrene Hunde.
Die Nachhut bildeten vier Owtscharki, zwei Paare. Diese hatten die verantwortungsvollste Aufgabe. Wenn es zu einem Angriff kam, so erfolgte der von hinten. Das war immer so. Boris hatte die erfahrensten Rudelmitglieder an diesen Posten beordert. Bei einem Überfall der Grauen war Klugheit wichtiger als Stärke.

Sie würden kommen.
Nicht heute, nicht morgen, aber kommen würden sie.

Boris hatte schon einmal einen Abtrieb im Schnee mitgemacht. Damals noch jung und unerfahren wie Igor heute, aber genauso stark und mutig wie dieser, beging er im Kampfesrausch einen entscheidenden Fehler. Wieviel Zeit auch ins Land gehen mochte, er vergaß es niemals.

Es war der Tag an dem sein Vater starb.

Sechs Wölfe waren damals gleichzeitig über den Rudelführer hergefallen. Nannuk, sein Vater, kämpfte heldenhaft und nahm drei der Angreifer mit in den Tod, bevor er, aus hundert Wunden blutend, zu Boden ging. Blind vor Wut raste Boris mit dem gesamten Rudel heran. Wieder sah er den riesigen, einäugigen Wolf vor sich, als dieser den Kopf hob, die Schnauze rot von Nannuks Blut. Er sah Triumph in dem kalten Auge, der ungläubigem Staunen wich, als ihn die Wucht des Aufpralls zu Boden riss und Boris seine Kehle zerfetzte.
Im Handumdrehen machten sie nieder, was sich ihnen in den Weg stellte und verfolgten den Rest der Angreifer, die als scheinbar unbeteiligte Zuschauer dem Gemetzel zugesehen hatten und nun ihr Heil in der Flucht suchten.
Was für eine Dummheit!

Wer fragte später noch danach, dass sie jeden der Flüchtigen einholten und töteten? In seiner Wut hatte sich das führerlose Rudel von der Herde weglocken lassen. In der Zwischenzeit fiel die Hauptmacht der Wölfe über die Rinder her, versetzte sie in Panik und verstreute sie in alle Winde. Die Hirten töteten zwar etliche der Angreifer, waren dem Chaos aber machtlos ausgeliefert. Als Boris mit dem Rudel zurückkam, war alles schon vorbei. Ein Drittel der Tiere war tot oder verschwunden. Der Rest fand sich nach und nach wieder ein, wurde von den Hütehunden herangetrieben, von den Hirten eingefangen.

Ein schwerer Schlag.

Alles nur, weil sie auf den ältesten Trick der Wölfe hereingefallen waren. Das durfte nicht noch einmal passieren. Sollten sie nur kommen. Das Rudel war bereit und stark wie nie zuvor.

Als die Herde aufbrach, hatte die Sonne ihren Abstieg bereits begonnen. Viel Zeit blieb nicht mehr bis zur Dunkelheit. Die Hirten hofften, heute noch etliche Meter nach unten zu kommen und so dem Schnee davonzulaufen. Alles klappte wie am Schnürchen. Die ausgeruhte Herde lief willig mit. Ringsumher blieb alles ruhig. Zwar tat Eile Not, doch hüteten sich die Hirten, die Herde zu hetzen. Bei einem Treck im Eilmarsch wurden die Tiere rasch nervös. Dann genügte oft eine kleine Unvorsichtigkeit, ein laut brechender Ast, ein polternder Stein, und alles geriet in Panik. Nichts und niemand konnte die ausbrechende Herde dann aufhalten. Durch ein zu hohes Tempo würden die Tiere auch unnötig geschwächt.
Schließlich lagen noch gut zwölf Tage anstrengender Weg vor ihnen. Wenn das Wetter so weiterging, konnten es leicht fünfzehn Tage oder sogar noch mehr werden.

Während sich die anderen nicht direkt an der Herde aufhielten, sondern mehr oder weniger ausschwärmten, um so eine mögliche Gefahr rechtzeitig zu erkennen, lief Boris bei den Tieren mit, dicht neben Kasim, dem alten Hirten. Wie Boris war dieser Mann ebenfalls ein erfahrener Führer. Seinen schmalen Augen, die wachsam unter buschigen Brauen hervorblitzten, entging nicht die geringste Kleinigkeit. Boris konnte sich darauf verlassen, wenn das Rudel etwas übersah, was allerdings sehr unwahrscheinlich war, der Alte würde es bemerken.

Der erste Tag ging rasch zur Neige. Sie waren nicht sehr weit gekommen. Ohnehin sollte es nur ein Anlauf, ein Schwung holen sein. Wie die Herde wirklich lief, würde sich morgen zeigen. Boris ging die Runde ab und fand jeden an seinem Platz. So musste es sein, er war zufrieden. Bis zu ihrer Ankunft im Dorf fand sich das Rudel nicht wieder zusammen.

Die Hirten stiegen steif von ihren Pferden. Nach der langen Sommerpause war so ein anstrengender Ritt doch recht ungewohnt. Auch die Reittiere mussten sich erst an den veränderten Rhythmus anpassen. Aber schon am zweiten Tag würden alle wieder ihre alte Form gefunden haben.

Unter der dünnen Schneedecke fand sich reichlich Grün, so dass die Herde ihren Hunger stillen konnte. Am flackernden Feuer sprachen die Hirten über die nächste Zeit.
Schwere Tage standen bevor, aber wenn nicht viel mehr Schnee fiel, der Wind nicht allzu heftig blies und die Wölfe nicht kamen, schafften sie es noch, bevor die große Kälte hereinbrach.

Alle Anzeichen sprachen für einen sehr langen und strengen Winter.

Boris lag neben dem Alten. Er hatte die Augen geschlossen. All seine Sinne waren in die Nacht gerichtet. Ihm entging kein Geräusch. Die Hand des Alten fuhr liebkosend durch sein Fell. Boris streckte sich zufrieden. Alles blieb ruhig. Die Herde schlief.
 
H

HFleiss

Gast
Lieber Wolfgang, ich habe bisher erst mal bewusst nur den ersten Teil gelesen, kann also noch nichts zum weiteren Verlauf deiner Geschichte sagen. Mit diesem Teil bist du noch nicht in der Handlung, sondern es ist Exposition. Meiner Ansicht nach gibst du wichtige Informationen für jemandem, der z. B. "Wolfsblut" nicht kennt. Ich kann dir nur schwer vorschlagen, die Exposition zu raffen, denn ich kenne ja noch nicht das Ganze, ich habe es aber im linken kleinen Finger, dass dieser Teil ein bisschen redselig ist. Aber es ist nicht unspannend geschrieben, man ahnt, es wird einen Kampf geben mit den Wölfen, und so gesehen, finde ich die Einleitung ganz gut. Beim zweimaligen Lesen sind mir ein paar stilistische Dinge aufgefallen. Vielleicht hilft es dir, wenn ich sie dir nenne:

1. "Mit knapp einem Meter Schulterhöhe und nicht ganz zwei Zentner schwer war er der größte ..."
Diese Raffung ist grammatikalisch falsch. Denn erstens wird die Zahl nicht gebeugt, wenn die genaue Maßeinheit (hier Schulterhöhe) folgt (richtig also: mit knapp ein Meter Schulterhöhe), und zweitens bezieht sich "nicht ganz zwei Zentner schwer" auf die Präposition "mit", und das ist ein falscher Bezug. Hier scheint mir Umformulierung nötig.

2. "Pferd aus vollem Galopp"
Richtig: "in vollem Galopp". Wir Deutschen haben es mit den Präpositionen.

3. "Ein schwerer Schlag"
Würde ich dir vorschlagen zu streichen. Inhaltlich bringt das nichts, und dass es kein Sonntagsvergnügen war, geht aus den Zeilen davor hervor.

4. "... lief Boris bei den Tieren ..."
Auch hier wieder die Präposition. Richtig: "mit den Tieren".

5. "... ein Schwung holen sein."
Im ersten Moment habe ich gar nicht verstanden, was gemeint war. Erstens ist Schwungholen ein Wort, und zweitens würde ich doch das Hilfsverb in den Hauptsatz rüberziehen.

6. "... sich an den Rhythmus anpassen ..."
Besser: "dem Rhythmus anpassen".

7. "... und die Wölfe nicht kamen ..."
Hier muss der Konjunktiv stehen: kämen.

Insgesamt finde ich die Geschichte spannend. Demnächst lese ich die anderen Teile, und dann hörst du wieder von mir.

Lieben Gruß
Hanna
 



 
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