Das Duell (4)

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Wolf-Wolle

Mitglied
Außer sich vor Wut floh Einauge dem Rudel voran, weiter und weiter. Sie liefen um ihr Leben.
Dem schwarzen Wolf hing die Zunge seitlich aus dem Maul. Weiße Schaumflocken holte der Wind aus seinen Lefzen. Von den scharfen Krallen seiner schweren Pfoten wurden kleine Erdstücke aus dem gefrorenen Boden gerissen und weit nach hinten geschleudert. Mehr als je zuvor glich er einem Dämon. Schwarz und riesig jagte er dahin.
Wehe dem, der sich ihm in den Weg stellte. Er schnappte nach rechts und nach links, wenn ihm einer seiner Gefährten zu nahe kam. Selbst die Wölfin erhielt einen Biss, weil sie ihn versehentlich im Lauf berührte.

Als der Tag erwacht war und die Sonne am Himmel hochkletterte, schien alles noch so einfach. Sie hatten keine Zweifel an ihrem Sieg, der ihnen Fleisch bringen würde. Der Hunger hätte endlich ein Ende.
Und nun?
Besiegt, verwundet und mehr tot als lebendig flohen sie vor dem Feind.
Dabei hatte alles wunderbar begonnen. Sein Plan funktionierte ausgezeichnet. Es war gut, dass sie noch einen Tag gewartet hatten. Drei Familien kamen noch zu ihnen und verstärkten das Rudel erheblich. Sie waren jetzt so viele, dass sich Einauge entschloss, sofort und mit aller Macht die Herde anzugreifen, ohne erst viel Zeit mit Ablenkungsmanövern zu vergeuden. War dies ein Fehler? Nein, sie hatten keine Fehler gemacht!

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel brachen sie in die Herde ein. Die Überraschung gelang. Zwei der vier Hunde hinter der Herde ließen sich in eine Falle locken. Mit ihnen hatten sie leichtes Spiel. Die beiden anderen wehrten sich verzweifelt, waren aber gegen die Übermacht chancenlos.

Die Herde teilen und davonzujagen war ein Kinderspiel. Doch dann lief alles schief. Auf einmal waren da viel mehr Menschen und Hunde als vorher. Sie schossen in das Rudel, erschlugen viele graue Brüder und hätten wohl alle getötet, wären sie nicht geflohen. Dabei stand Einauge kurz davor, seinen Racheschwur mit dem Tod des Mörders seines Vaters zu krönen. Aber das war nur aufgeschoben. Er würde ihm noch einmal begegnen!

Die schon sicher geglaubte und dringend benötigte Beute besaßen sie zudem auch nicht mehr. Etliche Rinder stürzten einen steilen Abhang hinunter. Vielleicht konnte man sie später holen. Die anderen blieben vor Erschöpfung einfach stehen und mussten aufgegeben werden, weil ihnen die Verfolger dicht auf den Fersen waren.

Was für ein hässlicher Tag!

Mindestens zwei Drittel des zuvor so stolzen und starken Rudels war getötet worden. Der Rest hetzte blutend und hinkend in die Berge zurück, wo es nichts zu fressen gab. Einauge hielt an. Sie konnten einfach nicht mehr laufen. Auch der stärkste Wolf wird irgendwann müde, noch dazu wenn der Hunger schmerzhaft in seinen Eingeweiden wühlt.

Schon lange hatten sie die letzten Bäume hinter sich gelassen und waren durch die Krummholzzone höher und höher gelaufen. Jetzt trafen ihre Pfoten schmerzhaft auf kantigen Fels unter dem Schnee.

Der Wolf kletterte auf einen Gesteinsbrocken und spähte zurück. Weit und breit war nichts zu sehen. Seit Stunden schon spürte er keine Verfolger mehr. Er glaubte auch nicht, dass die Menschen noch weiter in die Berge ritten. Die mussten ihre Rinder wieder zurückbringen. Wenn Einauge daran dachte, lief ihm das Wasser im Maul zusammen und sein Magen meldete sich wieder. Falls sie nicht schnellstens etwas zwischen die Zähne bekamen, würden sie bald gar nichts mehr brauchen. Der Kampf und die Flucht hatten ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht.

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Tief mit sich selbst und den vergangenen Stunden beschäftigt, hatte der Wolf nicht auf die Umgebung geachtet. Sein sonst so perfekt funktionierender Organismus reagierte zu spät. Er wurde von der Lawine erfasst und viele hundert Meter in die Tiefe gerissen.

Die Lawine kam überraschend, und sie war viel zu schnell. Den müden, verletzten Tieren blieb keine Zeit, sich vor ihr in Sicherheit zu bringen. Der Schnee riss sie von den Beinen, trug sie den Hang hinunter und begrub sie unter sich. Nach ein paar Sekunden war alles vorbei.

*****

Langsam und vorsichtig schlich ein grauer Schatten über den frischen Schnee. Er schien etwas zu suchen. Immer wieder hielt er an, schnupperte und kratzte Löcher in die weiße Decke.

Die Wölfin war verletzt. Ihr Körper wies Bisswunden auf, die eben erst verschorften. Das Fell war verdreckt und mit geronnenem Blut verklebt. Damit aber nicht genug. Die Lawine hatte sie mehrere hundert Meter weit zu Tal gerissen. Dabei war sie einige Male hart gegen Felsbrocken geprallt und hatte sich mindestens drei Rippen gebrochen. Jeder Atemzug tat ihr weh.
Trotz der Schmerzen gab sie die Suche nicht auf. Schließlich wurde ihre Ausdauer belohnt. Durch die Schneeschicht roch sie Leben. Sie begann zu graben. Mehr und mehr Schnee flog aus dem größer werdenden Loch. Tiefer und tiefer drang sie in die feste, weiße Decke ein. Ihr Atem ging immer schneller. Die Schmerzen in der Brust wurden unerträglich. Plötzlich sah sie schwarzes, zottiges Fell und fiepte aufgeregt. Das Fell bewegte sich.

Einauge erwachte in völliger Dunkelheit. Über ihm lag meterhoher Schnee. Er konnte sich nicht bewegen, sah nichts, roch nichts, fühlte nichts. Ihm war nicht einmal kalt. Er lag gefangen im Schneebrett, das vor Stunden vom Gipfel gekommen war und ihn begraben hatte.
Einauge machte die Erfahrung der absoluten Hilflosigkeit. Nicht einmal die Pfoten konnte er bewegen. Der Wolf dachte an nichts. Er wartete.

Ein leichtes Geräusch ließ seine schläfrig gewordenen Sinne hellwach werden. Das Kratzen und Schaben wurde lauter. Einauge spannte alle Muskeln an.
Er bewegte sich.
Plötzlich spürte er am Rücken eine Berührung.
Ein kurzer, kräftiger Ruck: Der Wolf war frei!
Vor ihm stand seine Wölfin.
Ihre Freude war offensichtlich. Immer wieder leckte sie ihm die Schnauze und gab leise, quiekende Töne von sich. Der Wolf versuchte, die steifen Glieder zu bewegen. Nur langsam kehrte das Gefühl in seinen Körper zurück. Mit dem Gefühl kamen die Schmerzen. Jeder einzelne Knochen, jeder Muskel tat ihm weh. Ernsthaft verletzt war er nicht, aber übersät mit Beulen, Prellungen und Blutergüssen. Es würde lange dauern, ehe er wieder richtig laufen und jagen konnte. Ausgerechnet jetzt!

Sie suchten das Schneefeld ab, fanden aber nur einen toten, schon steifen Wolfskörper dicht unter der Schneedecke. Er war schnell verschlungen und lieferte ihnen die dringend benötigte Energie. Außer ihnen hatte keiner vom Rudel die Lawine überlebt.

Vorsichtig machten sie sich an den Abstieg. Immer wieder hielten sie dabei an, weil die Wölfin vor Schmerzen nicht weiterlaufen konnte. Im Gegensatz zu ihr erholte sich Einauge erstaunlich schnell. Nach wenigen Tagen spürte er nur noch leichtes Ziehen in seinem Körper. Als sie später weiter unten zwischen den lichten Baumreihen einen zweiten, toten Wolf fanden und gefressen hatten, kehrte seine Kraft vollständig zurück.

Er war ein Wunder der Natur. Einhundertundachtzig Pfund Muskeln, Fleisch und Sehnen. Kein Gramm Fett zuviel und hochentwickelte Instinkte, von Generation zu Generation verfeinert. Ein Paradebeispiel für natürliche Auslese im Überlebenskampf. Seine Gefährtin hatte länger mit ihren Verletzungen zu kämpfen. Die Bisswunden heilten langsam, aber immerhin taten sie es. Aber die Schmerzen in der Brust ließen nicht nach. Von den gebrochenen Rippen war eine gesplittert. Die abgebrochenen Teile wanderten in ihrem Fleisch langsam nach außen und taten bei jedem Schritt höllisch weh. Irgendwann würden die Stücke aus ihrem Körper herauseitern. Bis dahin musste sie es eben ertragen. Dies tat die Wölfin mit bewundernswerter Selbstbeherrschung. Nur manchmal, wenn die Schmerzen unerträglich wurden, blieb sie stehen, um neue Kraft zu schöpfen.

Am bewaldeten Hang entdeckten sie eine kleine Höhle, die niemandem gehörte. Groß genug für sie beide. Hier konnte der eisige Wind sie nicht erreichen. Wenn man jetzt noch etwas zu fressen finden würde, wäre dies der ideale Platz zum Überwintern.

Der Wolf zog täglich größere Kreise, aber das Glück war nicht auf seiner Seite. Nicht einmal ein Schneehase ließ sich blicken, von etwas Größerem ganz zu schweigen. Hartnäckig meldete sich der Hunger immer wieder zu Wort.

Die Wölfin war zu schwach, um Einauge auf seinen Streifzügen zu begleiten. Sie lag in der Höhle auf nacktem Fels und wartete geduldig auf seine Rückkehr.
 



 
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