Das Ende einer Sackgasse

Ich wohne hier am Stadtrand, am Ende einer kleinen Stichstraße. Von meinem Fenster zur Straße aus treibe ich psychologische Studien. Ich beobachte Vorübergehende und erkenne Typen in ihnen, je nach ihrem Verhalten.

Wer kommt denn schon bis ans Ende einer solchen Sackgasse? Viele, sehr viele. Unsere kleine Straße zweigt von einer anderen ab, die für Autos ebenfalls ins Nichts führt. Daher steht an deren Anfang ein Sackgassenschild. An der Abzweigung zu uns hat die Behörde einen nochmaligen Hinweis für entbehrlich gehalten. Nun kann man allerdings zu Fuß jene erste Sackgasse auch vom anderen Ende her erreichen. Viele ortsfremde Spaziergänger kommen von dort und geraten ahnungslos bis ans Ende unserer Stichstraße, wie in eine Falle.

Hier hinten ist ein großer Wendehammer. Die wenigen Häuser verstecken sich fast in großen Gärten. Zwischen Hecken führt ein kleiner Fußweg zum allerletzten, von der Straße aus nicht einsehbaren Grundstück. Am Beginn dieses Weges steht ein kleines Schild: PRIVAT. KEIN ÖFFENTLICHER DURCHGANG. Wie verlockend, dennoch weiterzugehen … Man kann jedes Verbot übertreten und dieses hier ist doch ein Hinweis, dass da ein Durchgang existiert. Meinen sie … Tatsächlich endet der Weiterweg beim letzten Haus vor einem Zaun mit verschlossener Pforte ins Freie.

Von meinem Fenster aus sehe ich, wie die Fremden vor dem Schild stehen bleiben. Sie stutzen. Sie lesen den Text, überlegen eine Weile und dann – jetzt wird es spannend. Wenn sie nicht allein sind, beraten sie sich untereinander. Nur eine Minderheit kehrt gleich um. Von den anderen bricht etwa die Hälfte gemeinsam ins Unbekannte auf, die andere schickt einen Kundschafter vor. Ich stehe schmunzelnd hinter meinem Fenster und freue mich schon auf ihre enttäuschten Mienen, die bald darauf in mein Blickfeld geraten. (Nur Schadenfreude ist reine Freude.) Am Ende gehen sie die Straße zurück, manche rasch und unberührt, andere langsam und verdrießlich. Manche schweigen, andere schimpfen. Wie verschieden Menschen sind, wie verschieden sie auch als Passanten sind.

Fast alle kommen bald zurück, auf einige muss ich allerdings länger warten. Rütteln sie vielleicht an der Pforte? Und einige wenige erscheinen gar nicht mehr auf der Bildfläche. Sind sie über den Zaun geklettert oder haben sie am Haus geläutet und es erreicht, dass ihnen die Pforte geöffnet wurde? Ich erfahre es nicht. Es soll Menschen geben, die spurlos verschwinden.

Neulich brauste ein junger Bursche auf seinem Fahrrad heran und las kopfschüttelnd den Text auf der Tafel. Wütend schlug er mit der Faust gegen das Schild und raste los, in den schmalen Gang hinein. Auch er kam nicht zurück. Er muss das Fahrrad über den Zaun gewuchtet haben. Wieder einer kam durch.
 



 
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