Das Ergreifen der Möglichkeiten

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Ohrenschützer

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Bäume rasen links und rechts an ihm vorbei; Jacques spürt den Wind nicht, der zwischen Blech und Glas hindurchsausend ein mechanisches Geräusch erzeugt. Seine Fußspitze senkt sich beinah unmerklich, das röhrende Tönen wird lauter, immer mehr Grasbüschel tauchen am Rande der Straße in seinem Blickfeld auf und verlieren sich in seinen Augenwinkeln. Jacques zieht an seiner Zigarette und ascht durch das einen Spalt geöffnete Fenster. Er genießt das Gefälle, das den Wagen über seine Leistung hinaus fahren lässt.

Ein Rausch bemächtigt sich seiner, ein Machtgefühl gegenüber allem fest Verwurzelten; eine Aufregung, als hätte er eine natürliche Grenze überschritten, einen verbotenen Bereich betreten. Es ist vielleicht auch das prickelnde Wissen, dass ein unvorhergesehenes Ereignis sein Unterfangen zur Katastrophe verwandeln kann; dass ein irritierender Lichtreflex alle gebündelten Kräfte explosiv zur Verwüstung des Schauplatzes führen könnte. Doch dieses Wissen ist gepaart mit dem leicht-segelnden Gefühl der großen Geschwindigkeit. Er empfindet sich als feinen, geschmeidigen, schwarzen Strich zwischen dem breiten Himmelblauen oben und dem nahen Grasgrünen unten.

Es erinnert ihn an eine gleichfarbige Situation, in der er als Kind getobt, gespielt und voller Machtlust Kleingetier gequält hat. Seither verspürt er häufig die Angst, Käfer, Würmer, Spinnen und Ameisen könnten sich einmal an seiner machtvollen, blutlosen Tat rächen wollen. Dann träten sie in hellen Scharen auf und fielen über seine Wohnung her. Jedoch erklömmen sie keinerlei Hindernisse, sondern blieben zentimeterhoch am Boden, wo sie sich unter- und übereinander fortbewegten.

Somit drängten sie Jacques dazu, sie mit Füßen zu treten und zu zerquetschen, dieser jedoch wollte weder weiteren Streit noch jemanden töten, sondern nur in seine Wohnung gelangen. Mit jedem Tritt aber, den er in die Wohnung setzte, mordete er alles unter ihm Liegende - tötete schlicht aus Gründen seiner Existenz, seines Gewichts und seinem Wunsch der Ortsveränderung, während das Geschmeiß an seinen Hosenbeinen hoch krabbelte. Das wäre ihre Rache.
Am Ende verschwänden dann die Chitinmassen, und übrig bliebe nur die Spur der Leichen, die Jacques in seine Wohnung legen hätte müssen, und wenn er seine Fußabdrücke genau betrachtete, so bildeten diese fleckige Zeichen, gerade noch lesbare Buchstaben, und diese wiederum ein Wort. Dieses Wort aber wäre er nicht fähig sich zu merken: Sobald er vier, fünf Buchstaben entziffert hätte, wären die ersten beiden schon vergessen. Und bei jedem Versuch gäbe er mitten im Wort auf, resignierte ohne den ganzen Sinn erfahren zu haben.

Und es erschiene ihm, als wäre es ein Schlüsselwort, das seine Verstrickung in einer schuldbeladenen Erinnerung lösen könnte. Ein Begriff wie ein Knotenpunkt zwischen Entstehen und Vergehen, Verschlucken und Freigeben, Erdrücken und Befruchten. Als beschriebe es sein Manko, den weißen Fleck in seinem Verständnis von Macht, Genese und Menschsein. Ein Weiß, wie es entsteht, wenn man eine Scheibe mit Regenbogenfarben dreht; schneller, schneller und immer schneller.

Nichts gegen Jacques jetzige Geschwindigkeit, die ihm fast den Atem nimmt. Wie kann man atmen, ohne die Luft von jemand anderem zu verbrauchen, denkt er. Wie kann ich mich bewegen, ohne andere einzuschränken. Wie kann sich die Menschheit weiterentwickeln, ohne alles andere Leben zu verdrängen. Ist die eigene Entwicklung wichtiger als das Gemeinsame? Darf man dazu jede Möglichkeit ergreifen? Vor allem auch dann, wenn sie unmerklich und rapid zur feststehenden Vergangenheit wird?

Jacques schüttelt diese Gedanken wieder ab. Sein Wagen bleibt auf Höchstgeschwindigkeit; jedoch ohne Fußspuren und somit lesbare Zeichen zu hinterlassen. Er hat sich in eine künstliche Hülle begeben, um auf künstlichem Grund künstliche Spuren zu erzeugen. Er kommt schnell voran, aber was bleibt davon? Zwei Streifenmuster brennen sich kurz in den Asphalt, wo sie bald vom nächsten Fahrzeug ausgelöscht und überzeichnet werden.
 

Zefira

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Lieber Ohrenschützer,

das ist ein alptraumhaft guter Text. Genial, wie das Bild der zurückgelassenen Spuren gewissermaßen komplementär aufgebaut und am Schluß zusammengeführt wird.

Der Einstieg in den Alptraum im Konjunktiv
>Es erinnert ihn an eine gleichfarbige Situation, in der er als Kind getobt, gespielt und voller Machtlust Kleingetier gequält hat. Seither verspürt er häufig die Angst, Käfer, Würmer, Spinnen und Ameisen könnten sich einmal an seiner machtvollen, blutlosen Tat rächen wollen.<
... das stimmt am Anfang nicht ganz. Woran er sich erinnert, ist doch wohl nicht die Situation, in der er die Tiere gequält hat, sondern die Situation, in der sie sich rächen. Ich würde evtl. gar nicht mit "Es erinnert ihn ..." beginnen, sondern einfach "Als Kind hat er ..."

Am Ende hätte ich gern eine etwas andere Gewichtung. Mit dem Absatz
>Nichts gegen Jacques jetzige Geschwindigkeit, die ihm fast den Atem nimmt. < usw.
... retardierst Du den Sog noch einmal, nimmst die durch die Angstvision aufgebaute Spannung wieder etwas zurück. Überlege einmal, ob Du diesen Absatz nicht vor die Angstvision ziehen möchtest. Möglicherweise wird das Ganze dann auch logisch durchgängiger, leichter faßbar.

Davon abgesehen eine Höchstleistung. Bitte mehr davon.

*applaus*
Zefira
 

Ohrenschützer

Mitglied
Hallo Zefira,

danke, dass du dich in deiner geschätzten Weise des Textes erbarmt und ihn in luftige Höhen gelobt hast! *verbeug* Freut mich, dass ich deinen Geschmack treffe; deinen Wunsch nach mehr werde ich gerne erfüllen, allerdings (wie nach dem ersten Mal) nach einer gewissen Pause, da sich meine kreativen Schöpfungskräfte derzeit auf die Musik konzentrieren.

Deine Kritikpunkte werde ich genauer unter die Lupe nehmen. Meine vorläufigen Kommentare lauten wie folgt:

Dein erster Einwand bezieht sich auf eine Überleitung zwischen den Absätzen, die an sich nicht notwendig ist, aber Jacques' Gedankenverlauf nachskizzieren sollen. Es ist so zu verstehen: Die "gleichfarbige" Situation (himmelblau oben, grasgrün unten), an die sich Jacques erinnert, ist tatsächlich die Quälszene (Kind sitzt auf der Wiese und spielt mit Insekten), und diese der Ursprung für die Rache-Vorstellung.

Zu deinem zweiten Einwand: Mit diesem Absatz hole ich den Leser wieder in die 'Jetzt-Zeit' zurück, weg von der Vision, zurück zur greifbareren Situation. Ich denke, die Parallelen, die dir aufgefallen sind, werden so am deutlichsten. Eine Änderung der Absatz-Abfolge ist grundsätzlich denkbar, danke für die Anregung.

Liebe Grüße
 

Rainer

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hallo ohrenschützer,

auch ich komme aus deinem taumel der bilder zurück; ob nun von dir gezeichnet oder beim lesen sekundär entstanden: ihre brillianz fasziniert mich noch immer. sehr schön.

einzige zusätzliche anmerkung von mir:

...seinem wunsch der ortsveränderung... -
klingt gut, ist möglicherweise so gewollt, aber stört den gedankenfluss: eine stolperstelle. auch wenn es deutlich profaner ist, aber mir würde wunsch NACH ortsveränderung besser gefallen.

ich will mehr davon!!! :)


grüße

rainer
 

Ohrenschützer

Mitglied
Hallo Rainer,

danke schön für Lob und Verbesserungsvorschlag, die ich beide gerne annehme ("nach" erscheint mir auch geeigneter).

Wie schon Zefira gegenüber angedeutet, gibt es "mehr davon" nicht gerade morgen oder nächste Woche; aber angesichts der Tatsache, dass es für solcherlei kein Haltbarkeitsdatum gibt, das überschritten werden kann, würde ich dir gerne noch den "Tod des Fürsten" ans Herz legen, der noch in der Lupe zu finden sein müsste. Würde mich freuen, wenn dir vielleicht auch dazu eine Kurzkritik einfällt.

Herzlichen Gruß
 



 
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