Joerg Feierabend
Mitglied
Das Fenster
Manchmal sehe ich ein Fenster.
Ein schmutziges, graues Fenster in einem verwahrlosten Haus dessen obere Etagen schon zusammengefallen sind. Es war einmal ein großes Haus. Kein schönes Haus. Es schien schon als Ruine geboren worden zu sein. Die ganze Gegend ist zerfallen, als wenn hier gerade erst die letzten Bomben eines Krieges gefallen wären. Nur die vielen Abfälle belehren mich eines besseren. Obwohl selbst die sorgfältig durchsucht werden, ob nicht doch noch irgendetwas Brauchbares in ihnen steckt. Unter den Fenstern liegt ein riesiger Geröllhaufen aus zerschlagenen Ziegeln, die Reste eines großen Modernisierungsprojektes. Sie hatten uns das Material hingestellt und vielleicht gehofft, wir würden selbst etwas daraus machen. Wir haben alles Verwertbare verkauft. Vielleicht haben sie das erwartet.
Zwischen den schmutzigen, grauen Häusern geht eine Straße entlang. Man kann sie nur mit dem Fahrrad befahren, eigentlich nicht einmal das, zu viele Scherben liegen auf der Straße. Aber es fährt auch niemand mit dem Fahrrad die Straße entlang. Niemand hier hat ein Fahrrad.
Von links tritt ein Mann auf die Straße, er bleibt auf der anderen Seite stehen. Ich sehe ihm durch das schmutzige Fenster zu, wie er mich herauszuwinken versucht. Seine Kleidung ist ausgesprochen vornehm. Er trägt einen Hut, einen Spazierstock und über dem Arm einen leichten Mantel. Ich spucke auf den Boden, genau wie die anderen. Ich trage genau dieselbe abgerissene, dreckige Kleidung und rauche genau die gleichen spröden, stinkenden Zigaretten wie die anderen. Auch meine Bewegungen sind denen der anderen völlig gleich. Irgendwann verschwindet der Mann dann wieder.
In der Nacht, wenn ich mich hinauswage, streife ich umher. Immer wieder suche ich dasselbe Haus auf. Ich gehe die knarrenden Stufen hinauf in die höheren Etagen. In welchem Stockwerk ich bin, könnte ich nicht mehr sagen. Durch die Tür höre ich einen Streit, in dem ein Mann dem anderen vorwirft, ein Mädchen sitzengelassen zu haben. Der andere beleidigt das Mädchen, ich weiß nicht, ob er recht hat, aber der, der ihm die Vorwürfe macht, wirft ihn hinaus.
Sie schreien sich noch an der Tür an, ohne mich zu bemerken. Schließlich verschwinden sie. Der eine ins Zimmer, der andere treppabwärts. Vorher wendet dieser mir noch einen kurzen Moment sein Gesicht zu. Er ist nicht erstaunt, mich zu sehen, obwohl unsere Gesichter bis in jede Einzelheit identisch sind. Auch er ist gut gekleidet gewesen. Ich verstehe nicht, was er hier zu suchen haben könnte.
Langsam, unschlüssig, ob ich meinem perfekten, doch eleganten Ebenbild folgen soll, wandere ich abwärts. Immer wieder verirre ich mich in den Keller, zwischen Menschen, die fast noch ärmlicher aussehen als ich. Auch wenn ich keinen von ihnen kenne, begrüßen sie mich jedesmal freudig. Ich lächle sie an und gehe wieder nach oben.
Wenn ich endlich den Ausgang erreicht habe, bin ich fast traurig. Stolpernd gelange ich über die Stufen auf die Straße. Ich habe es noch nie fertiggebracht, die Stufen, ohne zu stolpern, hinter mich zu bringen. Nur ein paar Schritte komme ich weit, plötzlich begegnet mir ein Mädchen, welches ich lange nicht mehr gesehen habe. Auch sie begrüßt mich freudig. Ihre Kleidung ist schon gut zu nennen. Irgendwie paßt sie nicht hierher, sauber frisiert und anständig gekleidet. Jedesmal nimmt sie mich dann am Arm, fragt etwas, kichert, ohne daß ich verstanden habe, was sie gesagt hat oder worüber sie kichert. Sie führt mich in den Keller zurück und wieder werden wir freudig begrüßt. Das Mädchen, dem ich auf der Straße begegnet bin, zieht sich um. Sie passt jetzt schon etwas mehr hierher, auch wenn sie noch immer seltsam deplaziert wirkt. Man stellt mir eine Frage, ich verstehe sie nicht, nicke aber und ziehe ein paar Groschenhefte aus der Tasche. Warum weiß ich nicht, aber ich erhalte jedesmal einen Ehrenplatz. Alle bis auf das Mädchen behandeln mich mit freundlicher Ehrfurcht, ich verstehe es erst, als sie mir erzählt, sie arbeite in dem Kaufhaus im anderen Viertel der Stadt. Kaufhäuser sind für uns so etwas wie der Himmel auf Erden, nur eben schier unerreichbar. Es scheint unglaublich, daß jemand aus unserer Mitte dort arbeiten könnte. Wir sitzen dann noch lange zusammen und ich zerbreche mir jedesmal von neuem den Kopf von woher ich die Hefte habe, für die anderen scheint es klar zu sein.
Irgendwann geleitet mich das Mädchen auf die Straße hinaus. Die Sonne geht gerade auf und ich beeile mich, hinter meinem schmutzigen Fenster zu verschwinden, bevor der gutgekleidete Mann kommt. Dorthin traut er sich nicht. Ich fürchte ihn, auch wenn ich nicht weiß, warum.
Manchmal sehe ich ein Fenster.
Ein schmutziges, graues Fenster in einem verwahrlosten Haus dessen obere Etagen schon zusammengefallen sind. Es war einmal ein großes Haus. Kein schönes Haus. Es schien schon als Ruine geboren worden zu sein. Die ganze Gegend ist zerfallen, als wenn hier gerade erst die letzten Bomben eines Krieges gefallen wären. Nur die vielen Abfälle belehren mich eines besseren. Obwohl selbst die sorgfältig durchsucht werden, ob nicht doch noch irgendetwas Brauchbares in ihnen steckt. Unter den Fenstern liegt ein riesiger Geröllhaufen aus zerschlagenen Ziegeln, die Reste eines großen Modernisierungsprojektes. Sie hatten uns das Material hingestellt und vielleicht gehofft, wir würden selbst etwas daraus machen. Wir haben alles Verwertbare verkauft. Vielleicht haben sie das erwartet.
Zwischen den schmutzigen, grauen Häusern geht eine Straße entlang. Man kann sie nur mit dem Fahrrad befahren, eigentlich nicht einmal das, zu viele Scherben liegen auf der Straße. Aber es fährt auch niemand mit dem Fahrrad die Straße entlang. Niemand hier hat ein Fahrrad.
Von links tritt ein Mann auf die Straße, er bleibt auf der anderen Seite stehen. Ich sehe ihm durch das schmutzige Fenster zu, wie er mich herauszuwinken versucht. Seine Kleidung ist ausgesprochen vornehm. Er trägt einen Hut, einen Spazierstock und über dem Arm einen leichten Mantel. Ich spucke auf den Boden, genau wie die anderen. Ich trage genau dieselbe abgerissene, dreckige Kleidung und rauche genau die gleichen spröden, stinkenden Zigaretten wie die anderen. Auch meine Bewegungen sind denen der anderen völlig gleich. Irgendwann verschwindet der Mann dann wieder.
In der Nacht, wenn ich mich hinauswage, streife ich umher. Immer wieder suche ich dasselbe Haus auf. Ich gehe die knarrenden Stufen hinauf in die höheren Etagen. In welchem Stockwerk ich bin, könnte ich nicht mehr sagen. Durch die Tür höre ich einen Streit, in dem ein Mann dem anderen vorwirft, ein Mädchen sitzengelassen zu haben. Der andere beleidigt das Mädchen, ich weiß nicht, ob er recht hat, aber der, der ihm die Vorwürfe macht, wirft ihn hinaus.
Sie schreien sich noch an der Tür an, ohne mich zu bemerken. Schließlich verschwinden sie. Der eine ins Zimmer, der andere treppabwärts. Vorher wendet dieser mir noch einen kurzen Moment sein Gesicht zu. Er ist nicht erstaunt, mich zu sehen, obwohl unsere Gesichter bis in jede Einzelheit identisch sind. Auch er ist gut gekleidet gewesen. Ich verstehe nicht, was er hier zu suchen haben könnte.
Langsam, unschlüssig, ob ich meinem perfekten, doch eleganten Ebenbild folgen soll, wandere ich abwärts. Immer wieder verirre ich mich in den Keller, zwischen Menschen, die fast noch ärmlicher aussehen als ich. Auch wenn ich keinen von ihnen kenne, begrüßen sie mich jedesmal freudig. Ich lächle sie an und gehe wieder nach oben.
Wenn ich endlich den Ausgang erreicht habe, bin ich fast traurig. Stolpernd gelange ich über die Stufen auf die Straße. Ich habe es noch nie fertiggebracht, die Stufen, ohne zu stolpern, hinter mich zu bringen. Nur ein paar Schritte komme ich weit, plötzlich begegnet mir ein Mädchen, welches ich lange nicht mehr gesehen habe. Auch sie begrüßt mich freudig. Ihre Kleidung ist schon gut zu nennen. Irgendwie paßt sie nicht hierher, sauber frisiert und anständig gekleidet. Jedesmal nimmt sie mich dann am Arm, fragt etwas, kichert, ohne daß ich verstanden habe, was sie gesagt hat oder worüber sie kichert. Sie führt mich in den Keller zurück und wieder werden wir freudig begrüßt. Das Mädchen, dem ich auf der Straße begegnet bin, zieht sich um. Sie passt jetzt schon etwas mehr hierher, auch wenn sie noch immer seltsam deplaziert wirkt. Man stellt mir eine Frage, ich verstehe sie nicht, nicke aber und ziehe ein paar Groschenhefte aus der Tasche. Warum weiß ich nicht, aber ich erhalte jedesmal einen Ehrenplatz. Alle bis auf das Mädchen behandeln mich mit freundlicher Ehrfurcht, ich verstehe es erst, als sie mir erzählt, sie arbeite in dem Kaufhaus im anderen Viertel der Stadt. Kaufhäuser sind für uns so etwas wie der Himmel auf Erden, nur eben schier unerreichbar. Es scheint unglaublich, daß jemand aus unserer Mitte dort arbeiten könnte. Wir sitzen dann noch lange zusammen und ich zerbreche mir jedesmal von neuem den Kopf von woher ich die Hefte habe, für die anderen scheint es klar zu sein.
Irgendwann geleitet mich das Mädchen auf die Straße hinaus. Die Sonne geht gerade auf und ich beeile mich, hinter meinem schmutzigen Fenster zu verschwinden, bevor der gutgekleidete Mann kommt. Dorthin traut er sich nicht. Ich fürchte ihn, auch wenn ich nicht weiß, warum.