Das Foto meiner Mutter

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Devika

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Das Foto meiner Mutter

Als ich in Varanasi das Flughafengebäude verließ, atmete ich tief durch. Ich atmete die trockene Hitze und den Staub der Vormonsunzeit ein.
„Taxi! Taxi!“ Ein junger Mann im T-Shirt winkte mir zu.
„Hotel Sri Nagar“, sagte ich knapp. Mir war nicht nach Reden zumute, wenngleich ich argwöhnte, dass der Taxifahrer sicher gerne mit mir geplaudert hätte. Ich kurbelte die Scheibe des alten Maruti herunter und sog den herben Geruch der näher kommenden Stadt in mich hinein. Das war Indien. Abgase vermischten sich mit dem Duft der Garküchen, angezündete Müllhaufen mit dem Geruch von Räucherstäbchen und frischen Blüten der kleinen Schreine am Straßenrand. Das allgegenwärtige Hupen, das Rufen der Straßenhändler, die von Fahrrädern aus Obst, Gemüse und Snacks verkauften, beruhigten mich seltsam.

Ich betrat den kleinen, dunklen Hinterhof und blickte mich um. Zwei Kinder lugten hinter einer zerschlissenen Gardine hervor.
„Hallo, do you know Meena Karmacharya?“ Die beiden Kinder kicherten und verschwanden vom Fenster. Nach einer Weile trat eine junge Frau in den Hof. Sie fragte mich auf Englisch, was ich von Meena Karmacharya wolle. Ich wusste es selbst nicht. Ihr ein Foto bringen, war meine Antwort. Ich wurde ins Haus gebeten und bekam Milchtee serviert.
„Sind Sie eine Freundin von Meena?“, fragte mich die junge Frau. Ich wusste, es war klug, mich in Geduld zu üben. Es würde keinen Zweck haben, sie zu drängen. In Indien ticken die Uhren anders.
„Nein, aber ich habe ein Foto von ihr, das ich ihr gerne geben würde.“ Ich kramte das Bild aus meinem Rucksack heraus. Die Frau blickte auf die Schwarz/Weiß-Fotografie und legte die Stirn in Falten.
„Das ist schon sehr lange her. Wer ist die andere Frau auf dem Bild?“
Ich schluckte schwer. „Meine Mutter.“
Die junge Frau lächelte mich an. Sie deutete auf die Frau, die neben meiner Mutter auf dem Bild stand. „Das ist meine Mutter.“ Unsere Blicke trafen sich. Ich nahm einen großen Schluck Tee.
„Wie sind Sie jetzt zu diesem Foto gekommen?“
„Meine Mutter... sie ist gestorben...“ Wieder nahm ich einen Schluck Tee.
„Bei der Durchsicht ihrer Sachen fand ich einen Karton mit Briefen und Bildern. Auf den Bildern war meine Mutter zu sehen und eine andere Frau. Ich dachte, es sei eine ihrer vielen Bekannten von ihren Reisen nach Indien und Pakistan. Die Briefe waren in Hindi, ich habe sie übersetzen lassen. Es waren Briefe von Meena an meine Mutter. Offenbar standen die beiden sich sehr nahe.“
Ich rutschte nervös auf dem harten Holzstuhl hin und her. Ob es klug war, das auszusprechen, was ich wirklich dachte? Dass Meena Karmacharya und meine Mutter sich geliebt haben, vielleicht sogar ein Paar waren?
„Meine Mutter hat mir nie etwas davon erzählt. Als ich noch ein Kind war, waren wir zweimal in Indien. Wir haben Freunde von ihr besucht. Aber nie waren wir hier im Norden, in Varanasi. Als meine Mutter krank wurde, bin ich einmal alleine nach Sri Lanka gereist. Auf dem Rückweg habe ich Freunde von ihr in Madras besucht. Aber nie hat sie mir von Varanasi erzählt.“
Die junge Frau sah mich die ganze Zeit aufmerksam an.
„Meine Mutter ist in Madras geboren. Erst als sie mit unserem Vater verheiratet wurde, kam sie nach Varanasi.“

Die ältere Frau nahm einen herzhaften Zug von der selbst gedrehten Zigarette und musterte mich. Nach einer halben Ewigkeit hatte sie das Foto zwischen etliche Stoffbahnen geschoben, die wie ein breiter Gürtel um ihre Taille gewickelt waren.
„Ich habe mich immer gefragt, ob Elisabeths Tochter so blonde Locken hat wie sie selbst.“
Wir saßen auf dem Boden der Küche, lehnten mit dem Rücken an der kühlen Wand, die Knie angezogen, wie zwei Hausfrauen, und schwiegen. Sie die indische Agraringenieurin und ich die Europäerin.
„Ich habe deine Mutter an der Universität kennen gelernt. Es war unausweichlich. So viele Frauen gab es damals noch nicht an indischen Universitäten und noch weniger Ausländer.“ Meena grinste schief.
„Hier in Indien ist alles viel komplizierter als bei euch. Als mein Vater mir Kamal vorstellte, konnte ich nicht nein sagen. Damals war es nicht so leicht, einen Mann zu finden, der bereit war, eine studierte Frau zu heiraten, auch in Madras nicht. Kamal war gut zu mir und den Kindern. Ich konnte arbeiten, als sie größer waren.“ Sie schwieg kurz und betrachtete mich eingehend.
„Du legst den Kopf so zur Seite wie deine Mutter.“ Meena lachte kehlig und blies eine Rauchwolke in den Raum.
„25 Jahre ist eine lange Zeit.“ Sie schnippte Zigarettenasche ins Herdfeuer.
„Wann ist Elisabeth gestorben?“
Ich spürte, wie sich meine Kehle zuzog. „Im Februar dieses Jahres.“
„Ich habe Elisabeth zu meiner Hochzeit eingeladen. Sie ist nicht gekommen. Damals konnte ich ihr nicht verzeihen. Was waren wir beide dumm. Wussten nicht, was aus uns werden sollte.“
Meena seufzte leise, fast unmerklich. Dann stützte sie sich auf meinem Knie ab, um aufzustehen.
„Hoffentlich hast du Zeit fürs Essen mitgebracht.“ Sie lächelte mich an.
Ich nickte nur. Sagen konnte ich nichts.
„Ich dachte immer, wenn meine Kinder aus dem Haus sind, dann besuche ich Europa und Elisabeth“, sagte sie, ohne mich anzusehen, während sie frische Holzscheite in den Herd schob.
Ich lächelte in mich hinein. „Europa kannst du immer noch besuchen.“
 
Hallo Devika!

Schön zu lesen. Für mich ein weitgehend einwandfreier Text. Etwas fragmentarisch vielleicht, ich meine, es wirkt auf mich wie ein Ausschnitt. Die eigentliche Geschichte beginnt doch erst, wenn der Text aufhört. Angefangen vom Essen bis zum weiteren Aufenthalt in Indien. Oder die Geschichte geschah, ehe die vorliegende Szene anfängt. Und müsste episch nachgetragen werden. Es könnte Kapitel eines Romans sein, der dann aus Sicht der Tochter die Muttergeschichte erzählt, zumal sie Mutter eben erst gestorben ist. Die geschilderte Begegnung ist ja nur der Angelpunkt. Das ist mein Gefühl. Aber natürlich kann der Text auch so, als farbige Szene, dastehen.

Stimmung, Atmosphäre, Dialoge – sehr sicher. Beim ersten Lesen ein ausgezeichneter Eindruck. Ich will dich eigentlich nicht damit behelligen, dass ich nie „Schwarz/Weiß-Fotografie“ schreiben würde. Es heißt Schwarzweiß-Fotografie. Nach der neuen Regelung gibt es allerdings noch mehr Varianten. Auch: Schwarz-Weiß-Fotografie. Für mein Gefühl sind ein paar veraltende Begriffe drin, jedenfalls eine etwas anheimelnde Sprache stellenweise: gerne statt gern; lugten ist für mich ein Schulaufsatzwort oder Zwangsynonym, dabei finde ich es am Anfang so prima, dass zweimal das Atmen kommt.

„Hotel Sri Nagar“, sagte ich sehr knapp. Ist das „sehr“ nicht verzichtbar?

So oder so, atmosphärisch sehr dichter Text. Gern gelesen!!! Vor allem hat man den Eindruck, die Autorin weiß, wovon sie schreibt!

Viele Grüße

Monfou
 

Arezoo

Mitglied
Hallo Devika,

sehr dicht und flüssig erzählt! Stimmungsvoll.
Trotzdem bleibt es mir zu angerissen, um eine eigene Kurzgeschichte zu sein.
Zu offen das Ende und auch der Anfang. Eher wie ein Ausschnitt aus etwas Großem.
Eindrucksvoll finde ich in wie wenigen Worten du Indien beschreibst und ich mich wieder zurückerinnern kann.

Liebe Grüße,
Arezoo
 

Devika

Mitglied
Ja ich streiche das sehr. :)
Ja der Anfang ist etwas seltsam und abgehackt, das stimmt.
Nein ich will hier nicht konkreter werden, Fragen beantworten. Es ging mir um Stimmung und Gefühle. Danke übrigens für die Empfehlung.
 



 
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