Das Gerücht

Breimann

Mitglied
Seit fast zwei Monaten arbeitete die Gruppe schon auf dem Holzplatz. Sie waren im letzten Lehrjahr, sollten Erfahrungen sammeln, wie der Meister lächelnd gesagt hatte.
Frank arbeitete oben auf dem Waggon, stand auf den geschälten Bäumen, die aus den finnischen Wäldern stammten. Er stieß die Stämme, deren Harzduft in der Sommerhitze fast betäubend war, mit den Füßen herunter. Mit dumpfem Knall schlugen sie auf den Boden, rollten den leichten Abhang herunter.
Unten standen die Holzplatzarbeiter, maßen die Stämme ab, hoben sie mit ächzend ausgestoßenen Kommandorufen hoch, wuchteten sie auf einen riesigen Sägetisch. Ein flirrendes Sägeblatt kreischte, fraß sich durch Kreidezeichen und Holz und fegte klebrige Späne in die Luft. Die Jungen aus Franks Gruppe packten die zerschnittenen Stämme, schleppten sie, die jetzt schon als Grubenstempel erkennbar waren, auf bereit stehende Wagen.
Der Vorarbeiter stand plötzlich zwischen den Holzstapeln, sah auf seine Armbanduhr und rief mit dünner Stimme: „Pause!“
„Komm rauf, Dirk! Hier sitzt man prima!“, rief Frank und schwenkte die Arme.
Dirk kletterte hoch, setzte sich neben Frank und packte seine Brote aus. Sie kauten ihre dicken Stullen, steckten die Gesichter in den warmen Wind, genossen die Ruhe und den harzigen Holzgeruch.
Der Vorarbeiter watschelte unter ihnen vorbei und stieß mit einem Fuß gegen die Stämme, die sich neben dem Gleis verhakt hatten.
Die stämmigen, verkehrt eingehängten Beine mussten einen schweren Körper tragen; er hatte einen spitz zulaufenden Brustkorb, den sie spöttisch Hühnerbrust nannten. Der Mann überragte selbst den längsten Arbeiter um mehr als eine Kopflänge; das breite Gesicht wirkte freundlich; er lächelte ständig, was durch die wabbeligen Hängebacken verzerrt wirkte.
„Die hättet ihr ja wohl noch runter rollen können“, sagte er mit seiner Fistelstimme vorwurfsvoll, aber lächelnd. Die Jungen, die auf einem der Stämme saßen und ihre Brote futterten, antworteten nicht, kauten heftig, rochen am Brotbelag, stierten an ihm vorbei.
„Ob das stimmt?“, fragte Dirk nachdenklich.
„Na klar! Warum geht der sonst nicht in die Waschkaue?“ Frank hatte sofort verstanden, was Dirk beschäftigte; sie kannten seit zwei Monaten kein anderes Thema.
„Könnte ja auch sein, dass er nur wegen seiner krummen Beine nicht geht“, zweifelte Dirk.
„Quatsch! - Wegen krummer Beine! Nein! Der ist bestimmt ein Zwitter!“
„Wäre aber blöd, wenn das nicht stimmen würde. Alle Jungen sagen das - einfach so; jeder sagt Zwitter zu ihm -, eigentlich ist das doch blöd. Wissen tut´s keiner!“
„Hör auf. Der müsste doch nur einmal nackt durch die Waschkaue gehen, dann wär alles geklärt!“, sagte Frank heftig.
„Wie sieht wohl ein Zwitter aus? Glaubst du, was die erzählen?“
„Keine Ahnung, hab noch keinen gesehen. Aber wenn man´s überlegt, - da gibt´s ja wohl nur eine Möglichkeit.“
Sie lachten verlegen und gehemmt, hatten ein ungutes Gefühl, - und genossen gleichzeitig das Geheimnisvolle dieses Gerüchtes.
„He! Blum!“
Der Vorarbeiter stand zwischen zwei mannshohen Holzstapeln, hatte keine Sicht; er drehte sich langsam in die Richtung, aus der er die Stimme vernommen hatte, aber da war niemand zu sehen; der Mann musste weiter weg sein – stand wohl hinter einem der großen Stapel am Platzende.
„He, Zwitter – äh – ich meine Blum, machst du´s mit dir selber? Zeig uns mal den Trick! Zeig es uns! Wir sagen´s auch nicht weiter“, rief die Stimme, die wohl durch einen Handtrichter verstärkt und verfälscht war.
Blum ging langsam auf den Stapel zu, hinter dem er den Rufer vermutete; lautes Lachen begleitete ihn; es dröhnte über den ganzen Platz.
Alle lachten, - die Jungen und die Alten. Dirk und Frank fielen verspätet ein, lachten einfach mit.
Die anderen Jungen schlugen sich gegenseitig auf die Schultern, klopften vor Begeisterung auf das Holz und wiederholten immer wieder: „Zeig es uns!“
Blum blieb stehen; es sah aus, als ob er über etwas nachdenken müsste. Sie lachten immer noch; es reizte sie, den schweren Mann hilflos, unentschlossen stehen zu sehen.
Blum drehte sich langsam um; er sah sie an, nacheinander; er fing mit denen an, die dicht bei ihm ihre Brote kauten, denen die Brocken beim Lachen aus dem Mund fielen. Dann fand er die, die an der Säge saßen, den gerade geschluckten Tee rausprusteten.
Er nahm sich jedes Gesicht vor; er wollte sie einzeln, jeden für sich. Er befragte ihre Augen, beobachtete ohne erkennbare Regung, wie dabei ihr Lachen erfror, ihre Blicke sich senkten; - er nahm ihnen das Lachen aus dem Gesicht. Er blickte gleichmäßig langsam von einem zum anderen; man wusste genau, wann man dran war. Frank war der letzte in der Reihe der so Befragten.
Er war weit weg vom Vorarbeiter Blum, aber doch nicht weit genug; er konnte die Augen des Mannes sehen. Sie fragten ihn ruhig ab; er spürte seinen Hals eng werden, seine Gesichtszüge froren ein. Er bewegte sich nicht, atmete nur ganz flach.
Dann, als Blum alles gesehen hatte, ging er an ihnen vorbei, quer über den Platz, drehte sich nicht einmal um. Die Tür an seiner Bude knarrte böse, als er hinter ihr verschwand.
„Scheiße!“, sagte Dirk laut.
„Ganz große Scheiße!“, flüsterte Frank und schämte sich.
Dirk stieg vom Waggon; die Pause war vorbei. Sie arbeiteten bis zum Schichtende; niemand sprach mehr über den Vorfall.

Am nächsten Morgen goss es in Strömen, als sie zum Holzplatz rannten, hastig, wie eine ängstliche Schafherde dicht aneinander gedrängt.
„Am besten setzen wir uns alle zum Zwitter in die Bude“, rief einer und einige Jungen lachten freudlos.
Die älteren Arbeiter waren schon da, standen rauchend vor der Bude des Vorarbeiters.
„Der Zwitter hat verpennt, - denk ich mal!“, sagte ein Arbeiter.
Sie konnten ohne Vorarbeiter nicht beginnen, kannten die Aufträge nicht. Sie blieben unter der überstehenden Dachkante der Bude stehen, suchten Schutz vor dem unaufhörlichen Regen.
„Da kommt einer! Ein Steiger!“, rief Dirk.
Langsam kam ein gelbweiß gekleideter Mann näher, kümmerte sich nicht um den strömenden Regen. Er blieb dicht vor ihnen stehen. Das Wasser lief ihm vom Helm in den Nacken, perlte glitzernd in seinem Gesicht; ernst und prüfend sah er die Männer an; die Jungen beachtete er nicht.
„Braucht nicht zu warten. Herr Blum kommt nicht; er wird überhaupt nicht mehr kommen. Sie haben ihn heute morgen gefunden - hat sich aufgehängt!“, sagte er leidenschaftslos, ohne Anteilnahme, ohne eine erkennbare Regung.
Die Jungen und die Alten standen still, wie angefroren; sie starrten den Steiger an; manche Augen blickten unstet, als warteten ihr Besitzer auf eine Schuldzuweisung.
„Soll unheilbar krank gewesen sein, – sagt man“, erklärte der Steiger beiläufig. Nach einem Rundblick blieben seine Augen an dem krummbeinigen Arbeiter mit der rauen Stimme hängen, der Blum schon mal vertreten hatte.
„Melker, du übernimmst die Holzplatzaufsicht! Hol dir den Schlüssel für die Bude und die Aufträge bei mir im Büro ab.“
Dann ging er einfach weg, ließ sie stehen, hinterließ einen Haufen Männer und Jungen, die sich krank, elend und schuldbewusst fühlten; sie konnten sich nicht ansehen.

Bis zur Kaffeepause sprachen Dirk und Frank nicht mehr miteinander; sie hatten genug Stoff zum Nachdenken. Es regnete nicht mehr aber der Himmel war immer noch dunkel; schwere Wolken drückten sich über den Himmel, schoben sich hastig an die nahen Hügel.
Als der Ruf „Pause!“ ertönte, legten alle ihre Taschen unter sich auf die nassen Stämme. Frank biss lustlos in sein Brot und starrte zu den Arbeitern rüber, die dicht aneinander gedrängt, etliche Meter weiter, ihre Brote aßen. Die anderen Jungen saßen dicht bei den Arbeitern, lauschten auf ihre Gespräche.
Die Männer sprachen erregt, fuchtelten mit den Händen; neigten ihre Oberkörper pendelnd vor, verstärkten so ihre Worte. Einmal sprang ein Arbeiter erregt auf, zeigte auf einen kleinen Mann, der etwas abgerückt von den anderen saß. Sie konnten nur Wortfetzen hören, wussten trotzdem genau, worüber sie stritten.
Frank fühlte einen schweren Klumpen im Magen und packte sein Brot wieder in die Butterdose.
„Schmeckt mir nicht“, sagte er achselzuckend, als Dirk ihn forschend ansah.
„Davon wird er auch nicht mehr lebendig.“
„Ist mir scheißegal; es war jedenfalls die größte Scheiße unseres Lebens, was wir da gemacht haben!“
„Wir haben doch nichts gemacht! – Verdammt noch mal!“
„Hast du gesehen, wie er uns angesehen hat? Ich hab´s gesehen, ich hab gedacht, der würde meine Gedanken lesen.“
„Hat er auch, - klar.“
„Ob er sich wegen diesem, - diesem dämlichen Mist aufgehängt hat?“, fragte Frank mit leiser Stimme.
„Ich weiß nicht.“
„War bestimmt der letzte Anstoß, - der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie haben ihn so oft gehänselt!“
Sie schwiegen, warteten lustlos auf das Ende der Pause.
„Mein Großvater hat mal gesagt: Lachen ist wunderbar; jemanden lächerlich machen, ihn auslachen, ist fürchterlich. Ich glaube, er hat sogar gesagt, es wär tödlich“, murmelte Frank.
„Dein Großvater ist wohl oberschlau – was? Der hat wohl für jeden Mist ein Sprichwort? Mann! Was haben wir denn gemacht? Ich wollte dem doch nichts!“, schrie Dirk und weinte plötzlich.
„Blödmann, dämlicher Blödmann! Was hast du denn? Du kanntest ihn doch gar nicht! Ich war es, - ich war verantwortlich! Mir hat er das nicht zugetraut; er mochte mich. Ich hätte ihn nicht auslachen dürfen! Ich bin schuld, - ich bin schuld daran, du blöder Kerl!“
Die anderen waren still geworden, starrten auf die zwei Jungen, die dicht voreinander standen, haltlos weinten und sich nicht schämten.
Eduard Breimann
 

urte

Mitglied
Hallo, Eduard,
Da ich aufgrund Deiner Antwort zu Kyra heute auf Deine "alten" und leider, wie das hier häufig passiert, ganz unbeantwortet gebliebenen großartigen Geschichten gestoßen bin, hier noch schnell eine weitere Antwort. Diese bedrückende Geschichte geht (wie auch Deine anderen geschichten) sehr genau auf eine Situation ein, die realistisch mit vielen Details dargestellt und in ihrer ganzen Tragweite ausgeschöpft wird. Es wird keine billige Lösung zugelassen, vielmehr die härteste Konsequenz bei allen Beteiligten. Das sollte auch den Härtesten nachdenklich machen.
Und: endlich mal einmal ein Autor, mit dem ich sprachlich auch nicht das geringste Problem habe! Sehr erfreulich.
Herzlich, Urte
 

Breimann

Mitglied
Antwort

Hallo urte,
und für mich ist dieser Tag der beste, seitdem ich bei leselupe veröffentliche.
Danke
eduard
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

hallo, breimann, auch von mir ein großes kompliment für diese anrührende geschichte. das sit mal wieder was für meine sammlung. ganz lieb grüßt
 

Kyra

Mitglied
Klasse

Hallo Eduard,

eine sehr gut erzählte Geschichte. Genau und flüssig erzählt.
Grosses Komplimet.

Viele Grüße

Kyra
 



 
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