Rainer Heiß
Mitglied
Das Gesetz
Metallische Kälte war das letzte, was er spürte, bevor er das Bewusstsein verlor. Festgeschnallt auf eine eiserne, kalte Klinikbahre, kaum bekleidet. Weggerollt aus der Wirklichkeit in die Übergangswelt des OPs. Er fror, nicht so sehr wegen der glatten, dunklen Metalloberfläche, auf der er mit freiem Rücken - sein Operationshemd war auf der Rückseite offen - lag, sondern wegen der Sterilität, die zuletzt sogar der Raum absolut verkörperte, in den sie ihn gebracht hatten. Steril waren auch sie gewesen in ihrer Rechtfertigung, die nichts als eine verzweifelte Verteidigung gewesen war. Verteidigung gegen ihn, der ihr Rechtssystem öffentlich enttarnt hatte, sich einen heroischen Abgang bzw. Auftritt gegen sie zugemutet hatte, wie vermessen.
Übermütig war seine Rede gewesen, verteidigt hatte er sich selbst vor Gericht. "Ihr wollt mich also richten, nach Buchstaben, die auf Papier gedruckt sind, wollt ihr mich richten, Euer Ehren? Das sieht euch ähnlich, und ich habe von euch auch nichts anderes erwartet."
Hinnehmen hätten wir das sollen, unser, zugegeben, antiquiertes Rechtssystem, das so den Menschen in ihrer Individulität, und das war schließlich ihre hervorstechendste Wesensart, die Individualität, nicht gerecht werden konnte, ändern, über den Haufen schmeißen? Niemals!
Was hält letztlich unsere Zivilisation, so wie wir sie kennen, und dringend brauchen, mein Freund, aufrecht? Das Gesetz, einzig das Gesetz, seine Überwachung und der Vollzug. Und da kommt dieser Schnösel..."Stimmen sie mir zu, Euer Ehren, dass es keine zwei gleichen Menschen gibt? Warum sollten sie dann plötzlich vor dem Gesetz gleich sein? Sie sind auch vor dem Gesetz nicht gleich! Niemals. Genausowenig, wie zweimal dieselbe Straftat verübt wird. Sie geschieht immer unter anderen Bedingungen, in anderem Kontext, Euer Ehren."
Was er da ausgesprochen hatte, war nicht neu, nur, es war ungeheuerlich! Den Boden wollte er unserer Rechtsstaatlichkeit entziehen, Anarchie womöglich, was weiß ich? Sehen sie aus dem Fenster, was wären all diese Menschen ohne die Sicherheit des Gesetzes? Sie gehen durch eine Welt, die sie nicht begreifen, aber das Gesetz, das begreifen sie, es allein gibt ihnen Halt. Wie sollte es ohne diesen Halt sein, ohne etwas Festes, an das sie sich halten können? Barbarisch, schrecklich,...natürlich. Hätte er nur auf mich gehört...ganz zu Beginn seines Prozesses wurde ich ihm als Pflichtverteidiger zugewiesen. Bewährung hätte er bekommen, hätte er auf mich gehört, nichts Großes. Doch bereits nach der ersten Unterredung mit mir, er hatte mich verhöhnt, lehnte er es ab, verteidigt zu werden, das übernähme er selbst, hatte er selbstsicher geprahlt.
Von Beginn an legte er es auf Konfrontation an, hinterfragte alles, was das Gericht als erwiesen aufzählte. Zweifelte, eher Spaßes halber, wie ich vermute, gar die Existenz des Gerichtsgebäudes an. Zum Exempel wollte er sich und seinen Fall machen, nun gut, zum Exempel wird er jetzt auch werden, nur in völlig anderem Sinne, nicht wahr?
Zum Einsturz wolle er dieses marode Rechtssystem bringen und mit ihm unsere gesamte verrottete Gesellschaft bloß stellen. Dachte er wirklich, sie würden das zulassen? Dachte er, er sei der Messias? Hochmütig war er, als er bemerkte, dass er den Unwillen der Vorsitzenden auf sich gezogen hatte, als Zeichen seines Erfoges verbuchte er, dass sich sein Prozess immer weiter verschleppte und tatsächlich immer grundsätzlichere Fragen auf die Tagesordnung kamen.
Ungerechtigkeit wollte er am eigenen Leib demonstrieren, erdulden, bis ein Aufschrei durch die Massen gehen würde, der alles zum Zusammenbruch bringen sollte.
Fein hatte er sich das ausgedacht. Zunächst hatte ja die Presse auch einiges begründetes Interesse an ihm und seinem belanglosen, anfangs belanglosen Fall. Nun, inzwischen war auch sein Fall wieder bedeutungslos geworden. Es gab so viele Winkel in diesem Rechtssystem, er musste sich darin verirren, unausweichlich.
Nach dem Ausschluss der Öffentlichkeit, dieser markierte übrigens den Bruch zum Schlechteren für ihn, war es, juristisch gesehen, bergab mit ihm gegangen. Sein eigentliches Vergehen, erinnern sie mich doch bitte an sein Vergehen, wurde in den Hintergrund gestellt, vielmehr wurde der Zustand seiner Person, seine mentale Verfassung zum Gegenstand der Verhandlung. Absehbar, hatte ich ihm noch gesagt, absehbar, mein Junge.
Die Operationslampen blendeten ihn unwirklich. Verschwommen nurmehr nahm er den mintfarbenen, beruhigenden Anstrich der Decke wahr. Kälte, die Kälte der Kraftlosigkeit durchdrang ihn gänzlich. Die Narkose tat ihre Wirkung, warum auch nicht. Er dachte nicht an sein vermessenes Vorhaben und sein Scheitern, sein völliges Scheitern, wie er im Gerichtssaal aufrecht geschlagen wurde. Dass das Gesetz ein fremdes Feld ist, wusste er ja, es war sozusagen der Hauptpunkt seiner Anklage gewesen. Seiner Anklage, man überlege sich das. Immerhin, soweit hatte er es gebracht, den Staat und seine Mittel anzuklagen, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment.
Nein, er dachte an fette, grüne Wiesen, die auch jetzt wieder nahe seiner früheren Heimatstadt im warmen Wind sich wiegten, sanft. Wie er darüberschritt, erhaben und leicht, einst.
Das verstehen sie doch, dass in einem solchen Fall der Staat sich wehren muss, allein aufgrund der Mechanismen, die in ihm geschaffen sind für den Fall der Notwehr. Schließlich werden alle diese Mechanismen von Menschen bedient. Und Menschen lassen sich nicht wie Maschinen austauschen, nicht einmal verändern lassen sie sich. Verlagert hatten sie den Fall, natürlich ist das in einem solchen Fall zunächst einmal außergewöhnlich, zugegeben. Als aber die wachsende Aufmerksamkeit der Journaille erst einmal davon überzeugt worden war, dass hier überhaupt nichts Außergewöhnliches vor sich ging, dass vielmehr auf Initiative des Angeklagten der Prozess sein Hauptaugenmerk verlagern hatte müssen, da war die Entscheidung bereits gefallen. Armer Kerl. Ob er sich an irgendetwas erinnern wird? Natürlich nicht, ich kenne die Methode. Aber eine kleine Ahnung, vielleicht beim Anblick eines Gerichtsgebäudes. Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. Nicht die geringste. Natürlich nicht.
Eine vermummte Schwester trat ein, nach den Instrumenten zu schauen, ob sein Zustand sich normal in Richtung Operationsfähigkeit entwickelte. Fünf Stunden hatte er vor sich, wenn alles gut ging. Er wollte die, aus Zwecken der Sterilität mit einer Atemmaske verhüllte, Schwester ansprechen, doch die Kraft fehlte ihm bereits. Sie ahnte sein Vorhaben und sah ihm für ein, zwei ewige Sekunden in die blauen, verzweifelt fragenden Augen, die von der Müdigkeit nur noch zur Hälfte geöffnet waren. Angst blickte sie an, das einzig Menschliche in diesem Raum, ängstliche, panische Augen.
Dann verließ ihn das letzte Fünkchen Willen, das ihm nach der Medikamentenbehandlung geblieben war, und er schlief ein.
Wissen sie, auch wenn mir dieser Einzelfall, nachdem es ja beinahe meiner geworden wäre, ziemlich nahe geht, glaube ich doch, dass es so besser ist, sagte der alte, verbrauchte Pflichtverteidiger und stand auf, um seinen Morgenkaffee zu bezahlen. Dann ging er wortlos hinaus in die Frühlingssonne und hielt sein Gesicht für einen Moment mit geschlossenen Augen in die wärmenden Strahlen.
Metallische Kälte war das letzte, was er spürte, bevor er das Bewusstsein verlor. Festgeschnallt auf eine eiserne, kalte Klinikbahre, kaum bekleidet. Weggerollt aus der Wirklichkeit in die Übergangswelt des OPs. Er fror, nicht so sehr wegen der glatten, dunklen Metalloberfläche, auf der er mit freiem Rücken - sein Operationshemd war auf der Rückseite offen - lag, sondern wegen der Sterilität, die zuletzt sogar der Raum absolut verkörperte, in den sie ihn gebracht hatten. Steril waren auch sie gewesen in ihrer Rechtfertigung, die nichts als eine verzweifelte Verteidigung gewesen war. Verteidigung gegen ihn, der ihr Rechtssystem öffentlich enttarnt hatte, sich einen heroischen Abgang bzw. Auftritt gegen sie zugemutet hatte, wie vermessen.
Übermütig war seine Rede gewesen, verteidigt hatte er sich selbst vor Gericht. "Ihr wollt mich also richten, nach Buchstaben, die auf Papier gedruckt sind, wollt ihr mich richten, Euer Ehren? Das sieht euch ähnlich, und ich habe von euch auch nichts anderes erwartet."
Hinnehmen hätten wir das sollen, unser, zugegeben, antiquiertes Rechtssystem, das so den Menschen in ihrer Individulität, und das war schließlich ihre hervorstechendste Wesensart, die Individualität, nicht gerecht werden konnte, ändern, über den Haufen schmeißen? Niemals!
Was hält letztlich unsere Zivilisation, so wie wir sie kennen, und dringend brauchen, mein Freund, aufrecht? Das Gesetz, einzig das Gesetz, seine Überwachung und der Vollzug. Und da kommt dieser Schnösel..."Stimmen sie mir zu, Euer Ehren, dass es keine zwei gleichen Menschen gibt? Warum sollten sie dann plötzlich vor dem Gesetz gleich sein? Sie sind auch vor dem Gesetz nicht gleich! Niemals. Genausowenig, wie zweimal dieselbe Straftat verübt wird. Sie geschieht immer unter anderen Bedingungen, in anderem Kontext, Euer Ehren."
Was er da ausgesprochen hatte, war nicht neu, nur, es war ungeheuerlich! Den Boden wollte er unserer Rechtsstaatlichkeit entziehen, Anarchie womöglich, was weiß ich? Sehen sie aus dem Fenster, was wären all diese Menschen ohne die Sicherheit des Gesetzes? Sie gehen durch eine Welt, die sie nicht begreifen, aber das Gesetz, das begreifen sie, es allein gibt ihnen Halt. Wie sollte es ohne diesen Halt sein, ohne etwas Festes, an das sie sich halten können? Barbarisch, schrecklich,...natürlich. Hätte er nur auf mich gehört...ganz zu Beginn seines Prozesses wurde ich ihm als Pflichtverteidiger zugewiesen. Bewährung hätte er bekommen, hätte er auf mich gehört, nichts Großes. Doch bereits nach der ersten Unterredung mit mir, er hatte mich verhöhnt, lehnte er es ab, verteidigt zu werden, das übernähme er selbst, hatte er selbstsicher geprahlt.
Von Beginn an legte er es auf Konfrontation an, hinterfragte alles, was das Gericht als erwiesen aufzählte. Zweifelte, eher Spaßes halber, wie ich vermute, gar die Existenz des Gerichtsgebäudes an. Zum Exempel wollte er sich und seinen Fall machen, nun gut, zum Exempel wird er jetzt auch werden, nur in völlig anderem Sinne, nicht wahr?
Zum Einsturz wolle er dieses marode Rechtssystem bringen und mit ihm unsere gesamte verrottete Gesellschaft bloß stellen. Dachte er wirklich, sie würden das zulassen? Dachte er, er sei der Messias? Hochmütig war er, als er bemerkte, dass er den Unwillen der Vorsitzenden auf sich gezogen hatte, als Zeichen seines Erfoges verbuchte er, dass sich sein Prozess immer weiter verschleppte und tatsächlich immer grundsätzlichere Fragen auf die Tagesordnung kamen.
Ungerechtigkeit wollte er am eigenen Leib demonstrieren, erdulden, bis ein Aufschrei durch die Massen gehen würde, der alles zum Zusammenbruch bringen sollte.
Fein hatte er sich das ausgedacht. Zunächst hatte ja die Presse auch einiges begründetes Interesse an ihm und seinem belanglosen, anfangs belanglosen Fall. Nun, inzwischen war auch sein Fall wieder bedeutungslos geworden. Es gab so viele Winkel in diesem Rechtssystem, er musste sich darin verirren, unausweichlich.
Nach dem Ausschluss der Öffentlichkeit, dieser markierte übrigens den Bruch zum Schlechteren für ihn, war es, juristisch gesehen, bergab mit ihm gegangen. Sein eigentliches Vergehen, erinnern sie mich doch bitte an sein Vergehen, wurde in den Hintergrund gestellt, vielmehr wurde der Zustand seiner Person, seine mentale Verfassung zum Gegenstand der Verhandlung. Absehbar, hatte ich ihm noch gesagt, absehbar, mein Junge.
Die Operationslampen blendeten ihn unwirklich. Verschwommen nurmehr nahm er den mintfarbenen, beruhigenden Anstrich der Decke wahr. Kälte, die Kälte der Kraftlosigkeit durchdrang ihn gänzlich. Die Narkose tat ihre Wirkung, warum auch nicht. Er dachte nicht an sein vermessenes Vorhaben und sein Scheitern, sein völliges Scheitern, wie er im Gerichtssaal aufrecht geschlagen wurde. Dass das Gesetz ein fremdes Feld ist, wusste er ja, es war sozusagen der Hauptpunkt seiner Anklage gewesen. Seiner Anklage, man überlege sich das. Immerhin, soweit hatte er es gebracht, den Staat und seine Mittel anzuklagen, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment.
Nein, er dachte an fette, grüne Wiesen, die auch jetzt wieder nahe seiner früheren Heimatstadt im warmen Wind sich wiegten, sanft. Wie er darüberschritt, erhaben und leicht, einst.
Das verstehen sie doch, dass in einem solchen Fall der Staat sich wehren muss, allein aufgrund der Mechanismen, die in ihm geschaffen sind für den Fall der Notwehr. Schließlich werden alle diese Mechanismen von Menschen bedient. Und Menschen lassen sich nicht wie Maschinen austauschen, nicht einmal verändern lassen sie sich. Verlagert hatten sie den Fall, natürlich ist das in einem solchen Fall zunächst einmal außergewöhnlich, zugegeben. Als aber die wachsende Aufmerksamkeit der Journaille erst einmal davon überzeugt worden war, dass hier überhaupt nichts Außergewöhnliches vor sich ging, dass vielmehr auf Initiative des Angeklagten der Prozess sein Hauptaugenmerk verlagern hatte müssen, da war die Entscheidung bereits gefallen. Armer Kerl. Ob er sich an irgendetwas erinnern wird? Natürlich nicht, ich kenne die Methode. Aber eine kleine Ahnung, vielleicht beim Anblick eines Gerichtsgebäudes. Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. Nicht die geringste. Natürlich nicht.
Eine vermummte Schwester trat ein, nach den Instrumenten zu schauen, ob sein Zustand sich normal in Richtung Operationsfähigkeit entwickelte. Fünf Stunden hatte er vor sich, wenn alles gut ging. Er wollte die, aus Zwecken der Sterilität mit einer Atemmaske verhüllte, Schwester ansprechen, doch die Kraft fehlte ihm bereits. Sie ahnte sein Vorhaben und sah ihm für ein, zwei ewige Sekunden in die blauen, verzweifelt fragenden Augen, die von der Müdigkeit nur noch zur Hälfte geöffnet waren. Angst blickte sie an, das einzig Menschliche in diesem Raum, ängstliche, panische Augen.
Dann verließ ihn das letzte Fünkchen Willen, das ihm nach der Medikamentenbehandlung geblieben war, und er schlief ein.
Wissen sie, auch wenn mir dieser Einzelfall, nachdem es ja beinahe meiner geworden wäre, ziemlich nahe geht, glaube ich doch, dass es so besser ist, sagte der alte, verbrauchte Pflichtverteidiger und stand auf, um seinen Morgenkaffee zu bezahlen. Dann ging er wortlos hinaus in die Frühlingssonne und hielt sein Gesicht für einen Moment mit geschlossenen Augen in die wärmenden Strahlen.