Das Gespenst vom Montmartre

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poetix

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Das Gespenst vom Montmartre


Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und er war müde. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kirche Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kundschaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen. Aber bei diesem Mann packte ihn Unbehagen. Er konnte nicht genau sagen, was es war. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Das wiederum war es gerade, was ihn irritierte. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten können. Das Gesicht des Mannes war auf eine merkwürdige Weise nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. In seinen Augen lag kein Ausdruck, sie waren völlig leer.

Ein leichtes Grauen überfiel den Maler. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, konnte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Arbeit. Wenn sein Gegenüber nicht gegenständlich war, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es. Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium. Das Bild entstand und seine eigene Persönlichkeit floss in es hinein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitierten. Mit einem Schaudern bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Es saugte ihn aus. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen, hatte die Kontrolle verloren…

Schließlich war er fertig. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie war wie ausgelaugt. Er hatte nicht die Kraft zu protestieren, sackte in sich zusammen. So konnte er heute nicht mehr arbeiten. Niedergeschlagen ging er nach Hause. Er sollte sein Zimmer für die nächsten Tage nicht mehr verlassen. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und ans Bett gefesselt.

Es kam schlimmer. Er konnte zwar wieder aufstehen, hatte aber jeglichen Antrieb verloren. Zu seiner Tätigkeit als Maler kehrte er nie wieder zurück. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, vegetierte nur noch vor sich hin. Nicht, dass er physisch krank gewesen wäre. Seinen Körper spürte er überhaupt nicht. Er war wie betäubt. Sein psychischer Zustand ähnelte einer Depression. Tag und Nacht verschwammen in einem Nebel. Nichts ergab mehr einen Sinn. Was ihn befallen hatte, war aber keine normale Krankheit. Es war überhaupt mit keinem natürlichen Phänomen vergleichbar. Seltsame Dinge gingen vor: Er überlebte, ohne irgendetwas zu essen oder zu trinken, noch zu schlafen. Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durchwühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts.

Hatte er früher jede Stunde seines Lebens genossen, so wurde ihm jetzt die Zeit zur Qual. Sie verstrich ohne Ereignisse, während er vor sich hin dämmerte. Wenn er überhaupt noch einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Für die nächsten Jahre blieb es bei seinem Schattendasein. Jahre, die vergingen, ohne dass er es bemerkte – jegliches Zeitgefühl hatte er verloren. Er geisterte in der Stadt herum – ziellos und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.

So verging die Zeit. Für ihn änderte sich nichts. Lange, lange Zeit nicht. Doch dann kam, ganz unerwartet, der Tag, an dem etwas geschah. Seine endlosen Streifzüge durch Paris hatten ihn auf den Place du Tertre geführt, seine alte Wirkungsstelle. Nicht mit Absicht hatte er ihn aufgesucht, nein, er war wie immer ziellos umhergeirrt und fand sich plötzlich dort wieder. Hier nun zog es ihn mit aller Macht zu einem unausgeschlafenen Portraitmaler, der gerade seine Malutensilien ausgepackt hatte. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kiefermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zusammenbiss. Der Auftrag war ihm unangenehm, so viel war klar, aber er konnte ihn nicht ablehnen. Während der Maler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Es war nicht wie in seinem früheren Leben, aber immerhin spürte er eine Änderung. Etwas war anders. Alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler fertig war, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.
 

jon

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Teammitglied
Gefällt mir, hübsche kleine Story mit Flair.

Ab und an verlässt du aber diese Stimmung durch unpassende Formulierungen oder (mich) störende Inhalts-Wiederholungen.


Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel.
Sehr schönes Bild.

Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen. Aber bei diesem Mann packte ihn Unbehagen.
Das heißt: Es wäre normal, dass der Mann fragt, aber Jean-Marie findet die Frage „unbehaglich“. – Irgendwie fühlt sich das nicht ganz rund an.

In seinen Augen lag kein Ausdruck, sie waren völlig leer.
Das ist doppelt gemoppelt. Das mit „lag kein Ausdruck" klingt mir zu abstrakt in diesem Umfeld, ich würde es also bei "Seine Augen waren leer.“ lassen.

Ein leichtes Grauen überfiel den Maler.
Grauen ist ein starkes Gefühl, das gibt es nicht „in leicht“. Gruseln gibt es „in leicht“. Auch ein Schauern kann ihn durchlaufen.

Wenn sein Gegenüber nicht gegenständlich war,
Wie "nicht gegenständlich"? Was meinst du damit? Nicht körperlich? Das ist er doch aber. Meinst du, dass sein Wesen nicht erkennbar war? Dass er nichts Markantes an sich hatte? Nichts Typisches?

Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es. Hier würde ich einen Absatz machen. Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium.
Das Bild entstand und seine eigene Persönlichkeit floss in es hinein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitierten.
Klingt etwas unbholfen; vor alle das "in es hinein" wirkt wie hintenrum (auch wenn es formal völlig richtig ist).


Mit einem Schaudern bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Es saugte ihn aus.
Hier fehlt was dazwischen - das Aussehen und das Aussaugen sind
zwei verschiedene Dinge, irgendwie fehlt die Verbindung.

Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen, hatte die Kontrolle verloren…
"Kontrolle verloren" passt stilistisch nicht, das klingt zu sehr nach einer Psychoanalyse.



Schließlich war er fertig. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie war wie ausgelaugt. Er hatte nicht die Kraft zu protestieren, sackte in sich zusammen.
Das "wie ausgelaugt" ist keine "Antwort" auf das Fortgehen des Kunden, deshalb wirkt es wie eine Dopplung zu "saugt ihn aus". "Er hatte nicht die Kraft zu protestieren" ist eine „Antwort“, das Ausgelaugt-Sein der grund für diese Art „Antwort". Ich würde deshalb sowas vorschlagen: Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie hatte nicht die Kraft zu protestieren, er war wie ausglaugt. Er sackte in sich zusammen. Wobei ich "er sackte zusammen" nicht ganz verstehe: Kippt er um? Für den Anschluss an "nicht mehr arbeiten" brauchst du den Satz auch gar nicht, du kannst ihn also streichen.


So konnte er heute nicht mehr arbeiten. Niedergeschlagen ging er nach Hause. Er sollte sein Zimmer für die nächsten Tage nicht mehr verlassen. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und ans Bett gefesselt.
Niedergeschlagen (sehr traurig bzw. enttäuscht) ist nicht das richtige Wort.
Ich würde neu ansetzen, um zwischen konkreter Szene und Erzählung der kommenden Zeit zu trennen:
So konnte er heute nicht mehr arbeiten. Matt schlich er nach Hause und legte sich sofort ins Bett.

Dort blieb er für die nächsten Tage. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und erlaubte ihm nur die nötigsten Verrichtungen zu erledigen. Und es kam noch schlimmer: Zwar legt sich das Fieber nach und nach, doch die Mattigkeit blieb.



Es kam schlimmer. Er konnte zwar wieder aufstehen, hatte aber jeglichen Antrieb verloren. Zu seiner Tätigkeit als Maler kehrte er nie wieder zurück.
Das klingt amtlich ("Tätigkeit als Maler") und greift zu sehr vor ("nie" ist ja praktisch schon die Aussage für den Rest seines Lebens).

Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, vegetierte nur noch vor sich hin.
Hier fragte ich mich, wo er dann hinging.

Nicht, dass er physisch krank gewesen wäre.
Kling etwas zu "fachlich", das bricht die Stimmung.

Sein psychischer Zustand ähnelte einer Depression.
Das ist defintiv zu fachlich-abstrakt. Streich den Satz einfach, du zeigst ja dann, wie es ihm geht.


Was ihn befallen hatte, war aber keine normale Krankheit. Es war überhaupt mit keinem natürlichen Phänomen vergleichbar. Seltsame Dinge gingen vor:
Diese Erklärung von außen stört die Stimmung auch ein bisschen.

Er überlebte, ohne irgendetwas zu essen oder zu trinken, noch zu schlafen.
Auch das ist eher eine Feststellung von außen, als das, was JM erlebt. Idee: Tag und Nacht verschwammen in einem Nebel. Nichts ergab mehr einen Sinn, nichts berührte ihn mehr. Sogar der Hunger erlosch und Jean-Marie hörte auf zu essen. Irgendwann durchzog ihn ein leichtes Wundern darüber, dass er dennoch weiterlebte, doch auch das verflog rasch wieder.

Hatte er früher jede Stunde seines Lebens genossen,
Genau genommen stimmt das nicht - wenigstens den Vormittag, an dem diese Story beginnt, genoss er nicht.

Für die nächsten Jahre blieb es bei seinem Schattendasein.
Der Satz ist sehr passiv, fast schon "amtlich angesagt". Außerem doppeln sich sowhl das Wort "Jahre" als auch die Aussage mit dem folgenden Satz.


So verging die Zeit. Für ihn änderte sich nichts. Lange, lange Zeit nicht. Doch dann kam, ganz unerwartet, der Tag, an dem etwas geschah. Seine endlosen Streifzüge durch Paris hatten ihn auf den Place du Tertre geführt, seine alte Wirkungsstelle. Nicht mit Absicht hatte er ihn aufgesucht, nein, er war wie immer ziellos umhergeirrt und fand sich plötzlich dort wieder.
Die vielfache Betonung von "plötzlich" wirkt ein bisschen, als hättest du dir erst beim Schreiben ausgedacht, was genau da jetzt passiert. Idee: So verging die Zeit, bis ihn seine ziellosen Streifzüge eines Vormittags auf den Place du Tertre führten.Zum ersten Mal sein Jahren lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein junger, unausgeschlafen wirkender Potraitmaler packte sein Malutensilien aus. Es zog ihn zu ihm hin. Mit einer …

Es war nicht wie in seinem früheren Leben, aber immerhin spürte er eine Änderung. Etwas war anders.
Unschöne Dopplung. Die Dopplung zum nächsten Satz ist hingegen völlig okay.
Es war nicht wie in seinem früheren Leben, aber immerhin spürte er eine Änderung. Und alles, was anders war, war gut.
 

poetix

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Das Gespenst vom Montmartre


Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und er war müde. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kir-che Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kund-schaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen – bei jedem anderen Kunden. Aber bei diesem Mann wurde Jean-Marie von Unbehagen gepackt. Er konnte nicht genau sagen, was es war. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Das wiederum war es gerade, was ihn irritierte. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten kön-nen. Das Gesicht des Mannes war auf eine merkwürdige Wei-se nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. Seine Augen waren leer.

Ein leichter Schauer lief dem Maler über den Rücken. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, konnte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Ar-beit. Wenn sein Gegenüber nichts Charakteristisches an sich hatte, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es.

Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium. Das Bild ent-stand unter seinen Händen. Seine eigene Persönlichkeit floss in das Portrait ein anstelle der nicht vorhandenen des Portrai-tierten. Mit seiner Persönlichkeit floss auch seine Energie in das Werk hinüber. Es saugte ihn aus. Schwäche breitete sich in ihm aus. Er zitterte. Schaudernd bemerkte er, dass das Por-trait immer mehr ihm selbst ähnelte. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen …

Schließlich war er fertig. Der Anflug eines traurigen Lä-chelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie hatte nicht die Kraft zu protestieren, war wie ausgelaugt. Er sackte zusammen wie ein nasser Sack. So konnte er heute nicht mehr arbeiten. Matt schlich er nach Hause und legte sich sofort ins Bett.

Dort blieb er für die nächsten Tage. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und erlaubte ihm nur die nötigsten Verrichtungen zu erledigen. Und es kam noch schlimmer: Zwar legt sich das Fieber nach und nach, doch die Mattigkeit blieb. Nicht einmal zur Malerei konnte er sich mehr aufraffen. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, lebte auf der Straße, vegetierte nur noch vor sich hin. Tag und Nacht verschwammen in ei-nem Nebel. Tags dämmerte er vor sich hin, nachts schlief er nicht. Nichts ergab mehr einen Sinn, nichts berührte ihn mehr. Sogar der Hunger erlosch und Jean-Marie hörte auf zu essen. Hatte er früher gern ein Gläschen Rotwein genossen, trank er jetzt überhaupt nichts mehr, nicht einmal Wasser. Dass er auf diese Weise überleben konnte, hätte ihn wundern müssen, aber er nahm es einfach als gegeben hin.

Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durch-wühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts. Wenn er überhaupt einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwa-chen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Es blieb bei seinem Schattendasein. Er geisterte in der Stadt herum – ohne mit jemandem zu sprechen und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.

So verging die Zeit, bis ihn seine ziellosen Streifzüge eines Vormittags auf den Place du Tertre führten. Zum ersten Mal seit Jahren lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein junger, unausgeschlafen wirkender Portraitmaler packte seine Malutensilien aus. Es zog ihn zu ihm hin. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kie-fermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zu-sammenbiss. Der Auftrag war ihm unangenehm, so viel war klar, aber er konnte ihn nicht ablehnen. Während der Maler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer ent-rang sich seiner Brust. Es war nicht wie in seinem früheren Leben, aber immerhin spürte er eine Änderung. Und alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler fertig war, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.
 

poetix

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Das Gespenst vom Montmartre


Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und er war müde. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kirche Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kundschaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen – bei jedem anderen Kunden. Aber bei diesem Mann wurde Jean-Marie von Unbehagen gepackt. Er konnte nicht genau sagen, was es war. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Das wiederum war es gerade, was ihn irritierte. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten können. Das Gesicht des Mannes war auf eine merkwürdige Weise nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. Seine Augen waren leer.

Ein leichter Schauer lief dem Maler über den Rücken. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, konnte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Arbeit. Wenn sein Gegenüber nichts Charakteristisches an sich hatte, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es.

Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium. Das Bild entstand unter seinen Händen. Seine eigene Persönlichkeit floss in das Portrait ein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitierten. Mit seiner Persönlichkeit floss auch seine Energie in das Werk hinüber. Es saugte ihn aus. Schwäche breitete sich in ihm aus. Er zitterte. Schaudernd bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen …

Schließlich war er fertig. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie hatte nicht die Kraft zu protestieren, war wie ausgelaugt. Er sackte zusammen wie ein nasser Sack. So konnte er heute nicht mehr arbeiten. Matt schlich er nach Hause und legte sich sofort ins Bett.

Dort blieb er für die nächsten Tage. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und erlaubte ihm nur die nötigsten Verrichtungen zu erledigen. Und es kam noch schlimmer: Zwar legt sich das Fieber nach und nach, doch die Mattigkeit blieb. Nicht einmal zur Malerei konnte er sich mehr aufraffen. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, lebte auf der Straße, vegetierte nur noch vor sich hin. Tag und Nacht verschwammen in ei-nem Nebel. Tags dämmerte er vor sich hin, nachts schlief er nicht. Nichts ergab mehr einen Sinn, nichts berührte ihn mehr. Sogar der Hunger erlosch und Jean-Marie hörte auf zu essen. Hatte er früher gern ein Gläschen Rotwein genossen, trank er jetzt überhaupt nichts mehr, nicht einmal Wasser. Dass er auf diese Weise überleben konnte, hätte ihn wundern müssen, aber er nahm es einfach als gegeben hin.

Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durch-wühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts. Wenn er überhaupt einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Es blieb bei seinem Schattendasein. Er geisterte in der Stadt herum – ohne mit jemandem zu sprechen und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.

So verging die Zeit, bis ihn seine ziellosen Streifzüge eines Vormittags auf den Place du Tertre führten. Zum ersten Mal seit Jahren lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein junger, unausgeschlafen wirkender Portraitmaler packte seine Malutensilien aus. Es zog ihn zu ihm hin. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kiefermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zusammenbiss. Der Auftrag war ihm unangenehm, so viel war klar, aber er konnte ihn nicht ablehnen. Während der Maler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer ent-rang sich seiner Brust. Es war nicht wie in seinem früheren Leben, aber immerhin spürte er eine Änderung. Und alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler fertig war, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.
 

poetix

Mitglied
Hallo Jon,
vielen Dank für deine freundlichen Ratschläge. Das hat mir wirklich sehr geholfen.
Dass du den Text sogar zum Werk des Monats erkoren hast, macht mich sehr stolz und auch dafür danke ich dir.
Viele Grüße
Christoph
 

molly

Mitglied
Hi Christoph,

das ist eine besondere Geschichte und zu Recht empfehlenswert.

Ich freue mich, dass Du hier wieder Deine Texte einstellst

Liebe Grüße

molly
 

poetix

Mitglied
Hi Monika,
danke für deine freundlichen Worte und die Bewertung.
Freue mich auch, wieder hier unterwegs zu sein.
Viele Grüße
Christoph
 
Hallo poetix,
ich finde es auch richtig, dass deine Geschichte zum Werk des Monats vorgeschlagen wird.
Sehr mysteriös. Auf jeden Fall regt sie zum Nachdenken an.
Hat mir sehr gut gefallen.

Viele Grüße,
Marie-Luise
 

Ji Rina

Mitglied
Mir hat diese düster-mystische Geschichte gut gefallen; im Aufbau und sprachlich, nochzumal sie verschiedene Interpretationsmöglichkeiten bietet.
Eine Frage:
Seine Augen waren leer.
Würde man nicht eher sagen: "Sein Blick war leer"?
Und warum wird hier darauf aufmerksam gemacht?
Das Bild ent-stand unter seinen Händen.
Es wird ja bereits erklärt, dass er das Bild malt.

Herzlichen Glückwunsch.
Wohlverdient!
 

poetix

Mitglied
Das Gespenst vom Montmartre


Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und er war müde. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kirche Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kundschaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen – bei jedem anderen Kunden. Aber bei diesem Mann wurde Jean-Marie von Unbehagen gepackt. Er konnte nicht genau sagen, was es war. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Das wiederum war es gerade, was ihn irritierte. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten können. Das Gesicht des Mannes war auf eine merkwürdige Weise nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. Sein Blick war leer.

Ein leichter Schauer lief dem Maler über den Rücken. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, konnte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Arbeit. Wenn sein Gegenüber nichts Charakteristisches an sich hatte, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es.

Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium, während das Bild nach und nach unter seinen Händen entstand. Seine eigene Persönlichkeit floss in das Portrait ein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitierten. Mit seiner Persönlichkeit floss auch seine Energie in das Werk hinüber. Es saugte ihn aus. Schwäche breitete sich in ihm aus. Er zitterte. Schaudernd bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen …

Schließlich war er fertig. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie hatte nicht die Kraft zu protestieren, war wie ausgelaugt. Er sackte zusammen wie ein nasser Sack. So konnte er heute nicht mehr arbeiten. Matt schlich er nach Hause und legte sich sofort ins Bett.

Dort blieb er für die nächsten Tage. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und erlaubte ihm nur die nötigsten Verrichtungen zu erledigen. Und es kam noch schlimmer: Zwar legt sich das Fieber nach und nach, doch die Mattigkeit blieb. Nicht einmal zur Malerei konnte er sich mehr aufraffen. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, lebte auf der Straße, vegetierte nur noch vor sich hin. Tag und Nacht verschwammen in ei-nem Nebel. Tags dämmerte er vor sich hin, nachts schlief er nicht. Nichts ergab mehr einen Sinn, nichts berührte ihn mehr. Sogar der Hunger erlosch und Jean-Marie hörte auf zu essen. Hatte er früher gern ein Gläschen Rotwein genossen, trank er jetzt überhaupt nichts mehr, nicht einmal Wasser. Dass er auf diese Weise überleben konnte, hätte ihn wundern müssen, aber er nahm es einfach als gegeben hin.

Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durch-wühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts. Wenn er überhaupt einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Es blieb bei seinem Schattendasein. Er geisterte in der Stadt herum – ohne mit jemandem zu sprechen und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.

So verging die Zeit, bis ihn seine ziellosen Streifzüge eines Vormittags auf den Place du Tertre führten. Zum ersten Mal seit Jahren lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein junger, unausgeschlafen wirkender Portraitmaler packte seine Malutensilien aus. Es zog ihn zu ihm hin. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kiefermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zusammenbiss. Der Auftrag war ihm unangenehm, so viel war klar, aber er konnte ihn nicht ablehnen. Während der Maler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer ent-rang sich seiner Brust. Es war nicht wie in seinem früheren Leben, aber immerhin spürte er eine Änderung. Und alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler fertig war, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.
 

poetix

Mitglied
Hallo,
vielen Dank für deine netten Worte und die Verbesserungsvorschläge. Obwohl man "seine Augen waren leer" als Enallage ansehen könnte, gefällt mir dein Vorschlag besser. Die Situation des entstehenden Bildes habe ich jetzt in einen Nebensatz gepackt, um den zeitlichen Aspekt zu betonen.
Beste Grüße
poetix
 

poetix

Mitglied
P.S. Eigentlich ist es keine Enallage, sondern eine Metonymie.
Bevor ich es vergesse, liebe Ji Rina, vielen Dank auch für die gute Bewertung.
 

Ji Rina

Mitglied
....
P.S. Eigentlich ist es keine Enallage, sondern eine Metonymie
.
Musste erstmal googeln :D

Die Enallage ist eine Sonderform der Hypallage und ein sprachliches Stilmittel, das eine Verschiebung der Wortbeziehungen innerhalb eines Satzes meint. Das bedeutet, dass sich ein Wort innerhalb eines Satzes nicht auf das logische Beziehungswort bezieht, sondern auf ein anderes. Sehr häufig werden dabei Adjektive grammatisch einem Wort oder Wortbestandteil zugeordnet, zu denen sie inhaltlich nicht gehören. Die Enallage dient demnach zumeist der Ausschmückung der Sprache.
Die Metonymie ist ein rhetorisches Stilmittel, das in sämtlichen Gattungen Verwendung findet. Bei der Metonymie wird das gemeinte Wort durch ein anderes ersetzt, welches zum Gemeinten in einer realen Beziehung steht. Es gibt demzufolge einen logischen, räumlichen, ursächlichen oder auch zeitlichen Zusammenhang zwischen Gesagtem und Gemeintem. Verwandt ist die Stilfigur mit der Metapher sowie der Synekdoche, wobei es in einigen Fällen zu Überschneidungen der Stilmittel kommt.
Vielen Dank dafür!

Den Satz las ich als wolltest Du erklären: “Also das Bild entstand allmählich….” (Vielleicht ist das also als Metonymie gemeint ?…:confused:

Wie dem auch sei, dies hier finde ich perfekt:

Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium, während das Bild nach und nach unter seinen Händen entstand.
Find auch, dass der Text mit allen Verbesserungsvorschlägen, die Jon gemacht hat, stark gewonnen hat.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Poetix,

ich finde, Du könntest aus diesem Text stilistisch noch mehr herausholen, wenn Du die vielen Hilfsverben und Wortwiederholungen ersetzen bzw. streichen würdest. Sätze wie
Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und er war müde.
wirken doch recht schlicht gestrickt. Man könnte z. B. schreiben
Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und seine Müdigkeit wollte nicht weichen.

Schau mal über den Text, wie oft ein „war“, ein „konnte“ oder ein „mehr“ auftauchen, manchmal sehr kurz hintereinander, z. B. hier
Der Auftrag war ihm unangenehm, so viel war klar, aber er konnte ihn nicht ablehnen.
Natürlich war ihm der Auftrag unangenehm, aber

Gruß Ciconia
 

poetix

Mitglied
Hallo Ciconia,
vielen Dank für deine Hinweise. Werde den Text gleich noch einmal daraufhin durchgehen.
Beste Grüße
poetix
 

poetix

Mitglied
Das Gespenst vom Montmartre


Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und seine Müdigkeit wollte nicht weichen. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kirche Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kundschaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen – bei jedem anderen Kunden. Aber bei diesem Mann wurde Jean-Marie von Unbehagen gepackt. Er konnte nicht genau sagen, was es war. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Das wiederum irritierte ihn gerade. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten können. Das Gesicht des Mannes erwies sich auf eine merkwürdige Weise nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. Sein Blick war leer.

Ein leichter Schauer lief dem Maler über den Rücken. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, durfte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Arbeit. Wenn sein Gegenüber nichts Charakteristisches an sich hatte, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es.

Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium, während das Bild nach und nach unter seinen Händen entstand. Seine eigene Persönlichkeit floss in das Portrait ein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitier-ten. Mit seiner Persönlichkeit ging auch seine Energie auf das Werk über. Es saugte ihn aus. Schwäche breitete sich in ihm aus. Er zit-terte. Schaudernd bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen …

Schließlich beendete er das Bild. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie hatte nicht die Kraft zu protestieren, fühlte sich ausgelaugt. Er sackte zusammen wie ein nasser Sack. Wie sollte er so arbeiten? Matt schlich er nach Hause und legte sich ins Bett.

Dort blieb er für die nächsten Tage. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und erlaubte ihm nur die nötigsten Verrichtungen zu erledigen. Und es kam noch schlimmer: Zwar legt sich das Fieber nach und nach, doch die Mattigkeit blieb. Nicht einmal zur Malerei raffte er sich auf. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, lebte auf der Straße, vegetierte nur noch vor sich hin. Tag und Nacht verschwammen in einem Nebel. Tags dämmerte er vor sich hin, nachts schlief er nicht. Nichts ergab einen Sinn, nichts berührte ihn. Sogar der Hunger erlosch und Jean-Marie hörte auf zu essen. Hatte er früher gern ein Gläschen Rotwein genossen, trank er jetzt überhaupt nichts mehr, nicht einmal Wasser. Dass er auf diese Weise überlebte, hätte ihn wundern müssen, aber er nahm es einfach als gegeben hin.

Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durchwühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts. Wenn er überhaupt einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Es blieb bei seinem Schattendasein. Er geisterte in der Stadt herum – ohne mit jemandem zu sprechen und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.

So verging die Zeit, bis ihn seine ziellosen Streifzüge eines Vormittags auf den Place du Tertre führten. Zum ersten Mal seit Jahren lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein junger, unausgeschlafen wirkender Portraitmaler packte seine Malutensilien aus. Es zog ihn zu ihm hin. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kiefermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zusammenbiss. Der Auftrag passte dem anderen nicht, ganz offensichtlich, aber er durfte ihn nicht ablehnen. Während der Künstler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Nicht dass er sich in sein früheres Leben zurückversetzt gefühlt hätte, bei weitem nicht, aber immerhin spürte er eine Änderung. Und alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler den letzten Pinselstrich getan hatte, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.
 

poetix

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Das Gespenst vom Montmartre


Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und seine Müdigkeit wollte nicht weichen. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kirche Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kundschaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen – bei jedem anderen Kunden. Aber bei diesem Mann wurde Jean-Marie von Unbehagen gepackt. Er konnte nicht genau sagen, was nicht simmte. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Das wiederum irritierte ihn gerade. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten können. Das Gesicht des Mannes erwies sich auf eine merkwürdige Weise nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. Sein Blick war leer.

Ein leichter Schauer lief dem Maler über den Rücken. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, durfte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Arbeit. Wenn sein Gegenüber nichts Charakteristisches an sich hatte, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es.

Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium, während das Bild nach und nach unter seinen Händen entstand. Seine eigene Persönlichkeit floss in das Portrait ein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitier-ten. Mit seiner Persönlichkeit ging auch seine Energie auf das Werk über. Es saugte ihn aus. Schwäche breitete sich in ihm aus. Er zit-terte. Schaudernd bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen …

Schließlich beendete er das Bild. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie hatte nicht die Kraft zu protestieren, fühlte sich ausgelaugt. Er sackte zusammen wie ein nasser Sack. Wie sollte er so arbeiten? Matt schlich er nach Hause und legte sich ins Bett.

Dort blieb er für die nächsten Tage. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und erlaubte ihm nur die nötigsten Verrichtungen zu erledigen. Und es kam noch schlimmer: Zwar legt sich das Fieber nach und nach, doch die Mattigkeit blieb. Nicht einmal zur Malerei raffte er sich auf. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, lebte auf der Straße, vegetierte nur noch vor sich hin. Tag und Nacht verschwammen in einem Nebel. Tags dämmerte er vor sich hin, nachts schlief er nicht. Nichts ergab einen Sinn, nichts berührte ihn. Sogar der Hunger erlosch und Jean-Marie hörte auf zu essen. Hatte er früher gern ein Gläschen Rotwein genossen, trank er jetzt überhaupt nichts mehr, nicht einmal Wasser. Dass er auf diese Weise überlebte, hätte ihn wundern müssen, aber er nahm es einfach als gegeben hin.

Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durchwühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts. Wenn er überhaupt einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Es blieb bei seinem Schattendasein. Er geisterte in der Stadt herum – ohne mit jemandem zu sprechen und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.

So verging die Zeit, bis ihn seine ziellosen Streifzüge eines Vormittags auf den Place du Tertre führten. Zum ersten Mal seit Jahren lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein junger, unausgeschlafen wirkender Portraitmaler packte seine Malutensilien aus. Es zog ihn zu ihm hin. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kiefermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zusammenbiss. Der Auftrag passte dem anderen nicht, ganz offensichtlich, aber er durfte ihn nicht ablehnen. Während der Künstler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Nicht dass er sich in sein früheres Leben zurückversetzt gefühlt hätte, bei weitem nicht, aber immerhin spürte er eine Änderung. Und alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler den letzten Pinselstrich getan hatte, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.
 



 
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