Das Gespenst vom Montmartre
Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und er war müde. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kirche Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kundschaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen. Aber bei diesem Mann packte ihn Unbehagen. Er konnte nicht genau sagen, was es war. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Das wiederum war es gerade, was ihn irritierte. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten können. Das Gesicht des Mannes war auf eine merkwürdige Weise nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. In seinen Augen lag kein Ausdruck, sie waren völlig leer.
Ein leichtes Grauen überfiel den Maler. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, konnte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Arbeit. Wenn sein Gegenüber nicht gegenständlich war, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es. Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium. Das Bild entstand und seine eigene Persönlichkeit floss in es hinein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitierten. Mit einem Schaudern bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Es saugte ihn aus. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen, hatte die Kontrolle verloren…
Schließlich war er fertig. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie war wie ausgelaugt. Er hatte nicht die Kraft zu protestieren, sackte in sich zusammen. So konnte er heute nicht mehr arbeiten. Niedergeschlagen ging er nach Hause. Er sollte sein Zimmer für die nächsten Tage nicht mehr verlassen. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und ans Bett gefesselt.
Es kam schlimmer. Er konnte zwar wieder aufstehen, hatte aber jeglichen Antrieb verloren. Zu seiner Tätigkeit als Maler kehrte er nie wieder zurück. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, vegetierte nur noch vor sich hin. Nicht, dass er physisch krank gewesen wäre. Seinen Körper spürte er überhaupt nicht. Er war wie betäubt. Sein psychischer Zustand ähnelte einer Depression. Tag und Nacht verschwammen in einem Nebel. Nichts ergab mehr einen Sinn. Was ihn befallen hatte, war aber keine normale Krankheit. Es war überhaupt mit keinem natürlichen Phänomen vergleichbar. Seltsame Dinge gingen vor: Er überlebte, ohne irgendetwas zu essen oder zu trinken, noch zu schlafen. Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durchwühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts.
Hatte er früher jede Stunde seines Lebens genossen, so wurde ihm jetzt die Zeit zur Qual. Sie verstrich ohne Ereignisse, während er vor sich hin dämmerte. Wenn er überhaupt noch einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Für die nächsten Jahre blieb es bei seinem Schattendasein. Jahre, die vergingen, ohne dass er es bemerkte – jegliches Zeitgefühl hatte er verloren. Er geisterte in der Stadt herum – ziellos und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.
So verging die Zeit. Für ihn änderte sich nichts. Lange, lange Zeit nicht. Doch dann kam, ganz unerwartet, der Tag, an dem etwas geschah. Seine endlosen Streifzüge durch Paris hatten ihn auf den Place du Tertre geführt, seine alte Wirkungsstelle. Nicht mit Absicht hatte er ihn aufgesucht, nein, er war wie immer ziellos umhergeirrt und fand sich plötzlich dort wieder. Hier nun zog es ihn mit aller Macht zu einem unausgeschlafenen Portraitmaler, der gerade seine Malutensilien ausgepackt hatte. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kiefermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zusammenbiss. Der Auftrag war ihm unangenehm, so viel war klar, aber er konnte ihn nicht ablehnen. Während der Maler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Es war nicht wie in seinem früheren Leben, aber immerhin spürte er eine Änderung. Etwas war anders. Alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler fertig war, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.
Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und er war müde. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kirche Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kundschaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen. Aber bei diesem Mann packte ihn Unbehagen. Er konnte nicht genau sagen, was es war. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Das wiederum war es gerade, was ihn irritierte. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten können. Das Gesicht des Mannes war auf eine merkwürdige Weise nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. In seinen Augen lag kein Ausdruck, sie waren völlig leer.
Ein leichtes Grauen überfiel den Maler. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, konnte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Arbeit. Wenn sein Gegenüber nicht gegenständlich war, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es. Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium. Das Bild entstand und seine eigene Persönlichkeit floss in es hinein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitierten. Mit einem Schaudern bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Es saugte ihn aus. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen, hatte die Kontrolle verloren…
Schließlich war er fertig. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie war wie ausgelaugt. Er hatte nicht die Kraft zu protestieren, sackte in sich zusammen. So konnte er heute nicht mehr arbeiten. Niedergeschlagen ging er nach Hause. Er sollte sein Zimmer für die nächsten Tage nicht mehr verlassen. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und ans Bett gefesselt.
Es kam schlimmer. Er konnte zwar wieder aufstehen, hatte aber jeglichen Antrieb verloren. Zu seiner Tätigkeit als Maler kehrte er nie wieder zurück. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, vegetierte nur noch vor sich hin. Nicht, dass er physisch krank gewesen wäre. Seinen Körper spürte er überhaupt nicht. Er war wie betäubt. Sein psychischer Zustand ähnelte einer Depression. Tag und Nacht verschwammen in einem Nebel. Nichts ergab mehr einen Sinn. Was ihn befallen hatte, war aber keine normale Krankheit. Es war überhaupt mit keinem natürlichen Phänomen vergleichbar. Seltsame Dinge gingen vor: Er überlebte, ohne irgendetwas zu essen oder zu trinken, noch zu schlafen. Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durchwühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts.
Hatte er früher jede Stunde seines Lebens genossen, so wurde ihm jetzt die Zeit zur Qual. Sie verstrich ohne Ereignisse, während er vor sich hin dämmerte. Wenn er überhaupt noch einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Für die nächsten Jahre blieb es bei seinem Schattendasein. Jahre, die vergingen, ohne dass er es bemerkte – jegliches Zeitgefühl hatte er verloren. Er geisterte in der Stadt herum – ziellos und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.
So verging die Zeit. Für ihn änderte sich nichts. Lange, lange Zeit nicht. Doch dann kam, ganz unerwartet, der Tag, an dem etwas geschah. Seine endlosen Streifzüge durch Paris hatten ihn auf den Place du Tertre geführt, seine alte Wirkungsstelle. Nicht mit Absicht hatte er ihn aufgesucht, nein, er war wie immer ziellos umhergeirrt und fand sich plötzlich dort wieder. Hier nun zog es ihn mit aller Macht zu einem unausgeschlafenen Portraitmaler, der gerade seine Malutensilien ausgepackt hatte. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kiefermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zusammenbiss. Der Auftrag war ihm unangenehm, so viel war klar, aber er konnte ihn nicht ablehnen. Während der Maler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Es war nicht wie in seinem früheren Leben, aber immerhin spürte er eine Änderung. Etwas war anders. Alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler fertig war, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.