Das Gewicht eines Lächelns in einer ausweglosen situation

Als er auf dem Brückengeländer stand und in die Tiefe blickte, schien ihm die flirrende Hitze vom Abgrund entgegenzukommen, wie ein Kissen, daß ihn beim Sturz auffangen und behutsam am Boden niederlegen würde. Aber dann dachte er an die Fata Morgana, die den Durstenden in der Wüste auch durch flirrende Bilder das Vorhandensein von Wasser und dadurch Rettung ihrer Qualen vorgaukelte. So war er wieder froh, daß die ihm entgegensteigende Hitze sein Vorhaben nicht verhindern würde.

Daß er jetzt dort oben stand, schien ihm logisch und konsequent zu sein. Die Abläufe in den vergangenen Wochen und Monaten hatten eigentlich gar keinen anderen Weg zugelassen. Wenn ihn jemand gefragt hätte, ob er in irgendeiner Form ein schlechtes Gewissen hätte, so hätte er dies verneint. Vielleicht wäre im Unterbewußtsein ein Bedauern vorhanden gewesen, daß er durch das
Umsetzen seines Vorhabens bei seiner Familie großen Schmerz hinterlassen werde, aber im Grunde
war er sich völlig sicher, daß die Stelle wo er stand die richtige Stelle war und daß er durch seinen
Sprung nur das vollenden würde, was ihm in den letzten Wochen und Monaten als richtig, konsequent
und unausweichlich erschienen war.

Er blickte zur anderen Seite der Brücke und sah dort eine Frau, die ihn anlächelte. Er hatte gleich ein Gefühl des Erkennens und gleichzeitig von Wärme, das er seit langem nicht mehr gehabt hatte. Ohne weitere Vorwarnung löste dieses Lächeln in ihm ein kaleidoskopartiges Ablaufen längst verloren geglaubter Erinnerungen aus. Erinnerungen an die Anfänge in Unschuld und Zärtlichkeit, das gemeinsame Kennen und Lieben lernen, die erste Liebesnacht, mit dem behutsamen Suchen und Finden. Die Freude über das Wunder des Entstehen neuen Lebens und das unbeschreibliche Glücksgefühl bei der Geburt des ersten Kindes. Die Zeit, in der gemeinsam das Leben geplant wurde, mit Bau und Einrichtung eines Hauses, Zukunft der Kinder, gemeinsame herrliche Urlaubsfahrten.
Dann aber auch das langsame Abbröckeln der gemeinsam errichteten Fassade, erst durch Kleinigkeiten, später durch offenen Streit. Im Rückblick sah er die Schuld bei sich, die Schuld für das Scheitern aller Bemühungen und das Auseinanderbrechen einer auf immer eingerichteten Beziehung.
Er war zu egoistisch gewesen, hatte nicht gemerkt, daß seine Partnerin genau wie er Wünsche und
Vorstellungen hatte, die sie versuchte, umzusetzen. Irgendwann vor langer Zeit war es dann vorbei
gewesen und er war wieder allein. Dieses Alleinsein und seine Selbstvorwürfe hatte ihn jetzt auf diese Brücke geführt.

Seine Füße lösten sich von dem Geländer den Bruchteil einer Sekunde bevor er daran dachte, ob nicht doch noch einmal ein Neuanfang möglich wäre. Und die Frau von der gegenüberliegenden Seite der Brücke sprang mit, ihr lächelndes Gesicht im Fallen ihm zugewendet. Als sie fast gleichzeitig unten aufschlugen, waren sie durch weiter nichts getrennt, als ihre gemeinsam verlorenen Jahre - und die Breite der Brücke, von der sie gesprungen waren. .
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
uff,

das erschlägt einen ja! nee, mit dem schluß hätte ich auf keinen fall gerechnet! hab immer noch den mund offen vor bewunderung. mach mal so weiter! ganz lieb grüßt
 



 
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