Das Grauen einer jungen Ehefrau

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Sie vermied den Ostflügel. In der Hochzeitsnacht vor einer Woche hatte Sophia von Klingenstein mit ihrem Mann Karl den Westflügel bezogen. Karl jedoch bestand darauf, das Abendessen gemeinsam mit seiner Mutter im Ostflügel einzunehmen.
Die zwanzigjährige Frau stand vor dem weit geöffneten Kleiderschrank und überlegte, ob wohlmöglich irgendein Kleidungsstück unter den bedrohlich grauen Augen ihrer Schwiegermutter Gnade finden könnte. Sie dachte daran, wie Karl sie mit denselben Augen oft so liebevoll ansah. Der eidottergelbe Hosenanzug war der Schwiegermutter zu männlich, das lange traubengrüne Etuikleid mit dezentem V-Ausschnitt zu festlich und der Rock mit ihrer malvenfarbenen Lieblingsbluse zu farblos erschienen. Es gab kaum etwas, was sie anziehen konnte. Missmutig entschied sie sich für die selbst geschneiderte Wickelhose mit einem hellen rosafarbigen Shirt. Sicherlich würde die Schwiegermutter auch an dieser Kombination ihr Missfallen deutlich machen.
Pünktlich um halb sieben klopfte Karl an ihre Schlafzimmertür, öffnete sie einen Spalt, schob seinen Kopf hindurch und sagte wie jeden Abend: "Es wird Zeit!"
"Karl", rief sie ihm zögerlich nach, aber er kam nicht noch einmal. Sie verspürte keinen Hunger und überlegte sich, ob sie sich entschuldigen lassen sollte, weil sie mit einer Migräne im Bett läge. Den Gedanken verwarf sie sofort wieder, nicht zu früh wollte sie mit solchen Ausflüchten aufwarten.
Sie verließ den Raum. Draußen wartete lächelnd bereits Karl und bot ihr seinen Arm dar.
"Kopf hoch, mein Mädchen, kopf hoch. Sie beißt doch nicht!", amüsierte er sich über seine junge Frau.
"Sie hasst mich!"
"Quatsch! Sie braucht Zeit. Sie muß dich nur kennen lernen!"
"Karl, warum fahren wir nicht in die Flitterwochen?"
"Das hab ich dir doch schon erklärt. Der Auftrag!" Sie stiegen die Treppe runter.
"Danach?"
"Kommt ein neuer Auftrag!"
"Und wenn wir nur eine Woche wegflögen? Nur du und ich?"
"Komm schon, so schlimm ist sie nicht. Du übertreibst. Daran merkt man, dass du ohne Mutter groß geworden bist!"
"Karl, ich bin einsam!"
"Dann such dir doch ein Hobby. Oder werde schwanger!" Er grinste sie verschlagen von der Seite an und fügte hinzu: "Mutter würde sich sicher auch sehr freuen."
"Ich will mit dir zusammen sein!"
Inzwischen standen sie jedoch schon vor der reichlich verzierten Verbindungstür, die den Ost- und Westflügel voneinander trennte. Jedes Mal, wenn sie durch diese Tür schritt, bezahlte sie als Zoll ein Stück ihre Privatsphäre; vielleicht würde sie eines Tages aufgezehrt sein. Aller Wegezoll wäre dann gezahlt. Für immer.

Ihre Schwiegermutter war eine makellose imposante Erscheinung, hoch gewachsen mit schmallippigem ovalen Gesicht, aus welchem wachsam graue Augen auf sie herabsahen. Sie erwartete das frisch vermählte Paar in ihrem blauen Salon, die Bedienstete beeilte sich den Wein in Gläser zu füllen und gab Zeichen, dass der erste Gang zu servieren wäre.
Die ältere Dame bot ihrem Sohn die Wange zum Kuss dar, während sie Sophia mit einer Geste an den Tisch lud. Genau genommen hob sie die linke Augenbraue und neigte leicht ihren Kopf Richtung Stuhl am Ende des Tisches.
"Wie immer unpassend gekleidet, meine Liebe?", leitete sie das Gespräch ein, "Wenn ich nicht so viele dringende Termine in nächster Zeit hätte, würde ich dir schon zeigen, wie man sich standesgemäß kleidet!" Das Wort "standesgemäß" verhalte nur mühsam in Sophias Ohren. Ihr Gesicht lief purpurfarben vor Scham an. Insgeheim ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie diesen Attacken der Schwiegermutter nichts entgegensetzen konnte.
"Nun, meine Liebe, ich hoffe, Du wirst recht bald in freudiger Erwartung sein! Karl und ich wünschen uns einen Erben. Nicht wahr, mein Sohn?"
"Ja, Mama. Gerade eben sprach ich mit Sophia auf der Treppe darüber. Sie fühlt sich so einsam hier!"
"So?"
Sophia funkelte ihren Mann wütend an, der unschuldig zu ihr vom anderen Ende des Tisches herüber lächelte.
"Hast du denn keine Hobbys?"
Ihr Mann und seine Mutter sahen sie erwartungsvoll an, Sophia spürte, dass sie etwas sagen musste. Die Suppe wurde serviert.
"Ich wollte wieder schneidern, vielleicht auch mehr entwerfen, da ich ja jetzt viel Zeit haben werde!"
"Du willst entwerfen?", fragte die ältere Dame gedehnt, lachte amüsiert auf und fügte hinzu: "Du hast doch keinen Geschmack, keinen Sinn für Farben oder für Stil. Versuch es doch erstmal mit Knüpfen oder Makramee!"
Schweigend löffelte Sophia ihre Suppe und hoffte, auch dieser Abend ginge vorüber.
Der zweite Gang wurde aufgetischt. Ein strenger Geruch von geschmortem Rind hing in der Luft.
"Mama, Sophia möchte gerne mit mir fort. Kannst du ihr nicht erklären, dass ich unabkömmlich bin in der Firma?"
"Du bist so ein guter Junge!" Milde lächelte sie ihren Sohn an und berührte kurz seine Hand. Sophia stellte zum wiederholten Male fest, wie zärtlich diese eiserne alte Frau sein konnte, wenn sie sich ihrem Sohn zuwandte. Der Geruch des Fleisches verursachte bei Sophia ein Würgen, das sie zu unterdrücken versuchte. Wenn sie nun aufstünde, sich entschuldigte, wäre das sehr unhöfflich.
"Sophia, es ist dir doch klar, dass du deine eigenen egoistischen verschwenderischen Bedürfnisse als Ehefrau eines so erfolgreichen Mannes hintan stellen musst. Kümmere dich anständig um meinen Karl und vertreibe ..."
In dem Moment sprang Sophia auf, wollte noch zur Toilette hasten, doch entleerte sie ihren Magen auf dem hübsch dekorierten Tafelspitz mit den glasierten Möhrchen. Das Erbrochene spritzte über die Spitzendecke und tropfte am Tischrand auf dem Boden. Die Bediensteten eilten herbei, säuberten flink den Tisch und lüfteten sofort. Entsetzt hatte Karl aufgeschrieen, fragte sich, was wohl in sie gefahren seien möge. Seine Mutter rückte langsam ihren Stuhl ab, legte stirnrunzelnd die Serviette über den Teller, ließ ihren Teller mit einer Geste fortnehmen und sagte:
"Wollen wir alle hoffen, dass es ein Junge wird!"
 

Mo

Mitglied
Hi Scarlett,

da bin ich endlich. :)

Die arme Sophia. Es ist nicht nur die Einsamkeit, die spürbar ist, sondern auch ein Hauch von Angst.
Könnte sich auch eine Art Horrorgeschichte draus entwickeln. Aber ich glaube Du magst das nicht. Oder?

Das mit dem Übergeben kommt für mich noch nicht so gut rüber (Ich weiß, ich hab aber auch immer was zu meckern ;) )

[blue]In dem Moment sprang Sophia auf, wollte noch zur Toilette hasten, doch entleerte sie ihren Magen auf dem hübsch dekorierten Tafelspitz mit den glasierten Möhrchen. [/blue]
Vielleicht so in der Art:
Bei diesen Worten rebellierte Sophias Magen entgültig und sie erbrach sich auf dem hübsch dekorierten Tafelspitz mit den glasierten Möhrchen.
Auf jeden Fall werde ich in der nächsten Zeit keine glasierten Möhrchen mehr essen. Igittigitt *schüttel*

Der letzte Satz von der Schwiegermutter ist ziemlich cool.

LG
MO

P.S.
Dauert nicht mehr lange, dann hab ich das DATE endlich überarbeitet.
 

Mumpf Lunse

Mitglied
hallo scarlett

Ursprünglich veröffentlicht von ScarlettMirro

Der zweite Gang wurde aufgetischt. Ein strenger Geruch von geschmortem Rind hing in der Luft.
Aus einem Rezept
"1,5 L Wasser mit der Zwiebel, Nelken, Pfefferkörnern, Lorbeerblatt, Salz und Suppengrün zum Kochen bringen. Tafelspitz (s. Text unter Zutaten) in das Wasser geben und auf kleinste Stufe stellen. Das Fleisch darf nicht kochen, sondern nur 90 Minuten in der Brühe ziehen. ..."

einen schönen tag
Mumpf
 
Etwas umständlich formuliert, dass Tafelspitz nicht geschmort werden darf, kann oder sollte?

Danke ansonsten für den Hinweis. Ich hätte das auch verstanden, wenn ich nicht erst meine Logik hätte bemühen müssen ... vielen dank auch für den Denksport!

Grüsse
Scarlett
 
HI Mo,

schön von dir zu lesen... Ja, ist Gemschacksache, auch was man isst! :) Mir sind glasierte Möhren zu süss!

Ich weiß nicht, was ich mit dieser Figur noch anstelle (sie Blaue Birke hinter schwarzem Quadrat); ist so ne richtige Antifigur für mich (also so persönlich) u da kann man noch ne Menge abarbeiten an vorurteilen und sowas ... Mal schauen. Vielleicht wird sie was Universelles, so wie Kafkas K. ;)
Horror? hab ich noch nicht probiert! So mit fantasy ebenfalls noch nicht. Käme auf einen Versuch an! :) Vielleicht, vielleicht ... bin eh immer zu bodenständig beim schreiben!

Grüsse
Scarlett
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Hallo Scarlett,
es war nicht als Denksport gedacht.
Tut mir Leid, wenn du es so empfunden hast.
Es schien mir am einfachsten dir den
Auszug aus einem Rezept (Google Suchwort: Tafelspitz)
zu kopieren.

Ja, Tafelspitz wird nicht geschmort.
ich wusste nicht, dass du es nicht weißt,
dachte es wäre ein Flüchtigkeitsfehler.

Gruß Munpf
 

Mo

Mitglied
Noch mal guten Morgen,:)

ich meinte nicht mit Horror, daß du das Blut spritzen lassen sollst. Habe mich nicht richtig ausgedrückt.

Ich meinte eher Psychoterror. So etwas ganz verworrenes, wo man nicht mehr durchblickt. Wer ist böse, wer ist gut?
WEr hats auf die gute Sophia abgesehen?

Ich vermisse schon seit langem Bücher, bei denen ich mich bis zuletzt frage, was ist denn jetzt? WEil immer unerwartete Wendungen auftreten.

Ich kann es nicht ausstehen, nach der Hälfte des Buches schon zu wissen, wie es ausgeht.
Ich will am Ende Atembeschwerden bekommen und noch lange mit dem geschlossenen Buch dasitzen und einfach vom Finale begeistert sein. Ja, genau, jetzt geht es gerade mit mir durch.*prust*

Ciaoiii (meine Tochter färbt auf mich ab;))
Mo
 



 
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