Das Kreuz mit dem Kreuz

Raniero

Textablader
Das Kreuz mit dem Kreuz

Unsicheren Schrittes bewegte sich der hagere Mann im vorgerückten Alter durch die langen Flure des Rathauses.
„Kann ich Ihnen helfen?“ sprach ihn eine Frau Ende zwanzig, die soeben aus einer der zahlreichen Türen heraustrat, an.
„Nun ja“, antwortete der Besucher verschämt, „eigentlich möchte ich zum Herrn Oberbürgermeister, doch ich kann mir vorstellen, dass man einen Termin braucht, um diesen Herrn zu sprechen.“
Die junge Frau musterte den Mann genauer.
„Den brauchen Sie in der Tat, einen Termin, denn unser Oberbürgermeister ist sehr beschäftigt, wie Sie sich wohl vorstellen können. Haben Sie es schon einmal in seinem Vorzimmer versucht? Ich meine, jetzt, wo Sie schon einmal da sind, können Sie sich doch dort einen Termin geben lassen.“
„Oh, vielen Dank, sehr freundlich. Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich dieses Vorzimmer finde?“
„Aber natürlich. Kommen Sie mit, ich begleite Sie dahin. Ich muss nämlich zufällig in dieselbe Etage.“

Gemeinsam bestiegen die Frau und der Besucher den obligatorischen Paternoster, fast hätte der hagere Mann dabei das Gleichgewicht verloren.
Die junge Dame konnte ein Lächeln kaum unterdrücken.
„Sie kommen wohl nicht allzu oft zu uns?“
„Nein, eigentlich nicht. Das heißt, ich war schon mal hier. Einmal nur. Bei Ihrem Herrn Oberbürgermeister?
„Sie waren schon einmal bei unserem Oberbürgermeister?“ fragte die Frau ungläubig, „dann waren Sie doch bestimmt auch schon in seinem Vorzimmer, denn auf direktem Wege kommen Sie in dessen Büro nicht hinein.“
„Nun ja, so direkt in seinem Dienstraum war ich noch nicht, sondern im offiziellen Empfangssalon der Stadt, und der Herr Oberbürgermeister ist dahin gekommen und hat mir dort dieses Ding da verliehen, mir und noch ein paar anderen Leuten.“
Verschämt wies der Besucher auf dieses Ding da, an seiner linken Brusthälfte, das sich als Verdienstorden am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland herausstellte.
Die junge Dame betrachtete den merkwürdigen Besucher von oben bis unten; sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Sie haben das Bundesverdienstkreuz am Bande,“ rief sie aus, „und das nennen Sie dieses Ding da? Und was wollen Sie jetzt beim Oberbürgermeister? Noch so ein Ding da?“
Sie konnte nicht mehr an sich halten und prustete los, vor Lachen.
Der Paternoster hatte die Etage erreicht, die junge Frau reichte dem hageren Mann eine Hand.
„Nicht, dass Sie mir hier noch stürzen; das fehlte noch, ein Ordenträger, der aus dem Paternoster fällt.“
Der Ordenträger lächelte matt.
„Lassen Sie es gut sein, mit dem blöden Kreuz; ich mag schon gar nicht mehr daran denken. Hätte ich das Ding doch bloß nicht angenommen!“
„Nanana, wie reden Sie denn von einem Verdienstorden dieser Republik; andere würden sich die Hände danach lecken.“
„Sollen sie ruhig.“
„Wissen Sie was“, schmunzelte die junge Dame, „Sie haben mich richtig neugierig gemacht. Ich begleite Sie am besten zum Vorzimmer des OB. Dort können Sie meiner Kollegin ja die Gründe für Ihr Kommen erläutern.“
„Oh, vielen Dank für Ihre Hilfe; ja, kommen Sie ruhig mit.“

Energisch klopfte die junge Frau an der Tür.
„Herein!“ klang es unwirsch zurück.
„Wer klopft denn hier auf diese Art?“ zeigte sich die Vorzimmerdame erstaunt. „Ach, du bist es, Karin. Seit wann klopfen wir denn untereinander an unseren Türen?“
„Hallo Gisela. Ich habe einen Gast mitgebracht. Er hat ein ganz spezielles Anliegen.“
Die Vorzimmerdame mit Namen Gisela musterte den Gast erstaunt.
„Ein ganz spezielles Anliegen. Ja, dann nehmen Sie mal Platz.“
„Oh, vielen Dank. Guten Tag, gnädige Frau. Mein Name ist Roland Bellböker. In der Tat ist mein Anliegen, wie diese reizende Dame bereits ausführte, sehr speziell, wenn nicht gar außergewöhnlich.“
Gisela blickte ihre Kollegin an, krampfhaft versucht, ein Lachen zu unterdrücken.
Was war das denn für ein Kauz; gnädige Frau, reizende Dame; altmodischer ging’s kaum.
Karin lächelte zurück.
‚Warte mal, was noch kommt, das war noch nicht alles’, signalisierten ihre Blicke.
„Ja, wie ich bereits dieser reizenden Dame erklärte“, fuhr Roland Bellböker fort, „wollte ich den Herrn Oberbürgermeister aufsuchen, doch wie mir diese reizende Dame erklärte…“
„Diese reizende Dame“, unterbrach ihn die Vorzimmerdame gereizt, „heißt Karin Scholz, und mein Name ist Gisela Schmitz. Steht sogar draußen an der Tür. So, nun können Sie weiter reizen.“

Roland Bellböker zeigte sich irritiert.
„Wie meinen Sie, bitte? Ach so, ja, reizend, sehr reizend.“
Gisela Schmitz zog verärgert ihre Augenbrauen nach oben, während ihre Kollegin sich zur Seite wandte, da sie unmittelbar vor dem nächsten Lachanfall stand.
„Ja, wie ich bereits der reizenden…Ihrer Kollegin auf dem Weg hierhin erklärt habe… ich will’s mal kurz machen, möchte ich dem Herrn Oberbürgermeister dieses Ding da“, wies er auf seine linke Brusthälfte, „zurückgeben.“
Die Vorzimmerdame schluckte einige Male, bevor sie reagierte.
„Sie wollen was? Das Ding da zurückgeben? Dem Oberbürgermeister? Und was soll der damit? Der hat doch schon die ganze Brust voll, von diesen Dingern, wie Sie es ausdrücken. Der braucht erst mal ein Schild vorne, mit der Aufschrift siehe weitere Orden hinten. Nein, mal im Ernst, warum wollen Sie denn Ihr Bundes
verdienstkreuz zurückgeben?“
„Es stört mich einfach.“
„Wie, es stört Sie einfach?“
„Na ja, eigentlich stört mich das Kreuz selbst nicht so sehr, nur die Umstände.“
„Was denn für Umstände?“
„Nun, ja, die Begleitumstände, die ein solches Kreuz mit sich bringen, oder besser gesagt, die Vergünstigungen, die Privilegien, meine ich.“
„Wollen Sie damit sagen, dass diese Umstände, wie Sie sagen, diese Vergünstigungen, die ein Bundesverdienstkreuz mit sich bringt, Sie stören. Ja, wissen Sie denn nicht, dass sich viele die Finger danach lecken, nach diesen Umständen, dass sie alles oder fast alles dafür tun würden, in den Genuss solcher Begleitumstände zu kommen?“
Roland Bellböker zuckte mit den Schultern.
„Das hat mir Ihre Kollegin auch schon gesagt, doch ich kann gerne darauf verzichten, nein, ich werde künftig sogar darauf verzichten, weil mir das mittlerweile außerordentlich lästig geworden ist.“
„Was ist Ihnen daran denn so lästig geworden? Meinen Sie eine bestimmte Vergünstigung?“
„In der Tat, das meine ich.“
„Und das wäre? Ich bin ganz Ohr, und meine Kollegin nicht minder.“

Beide Frauen blickten den Bundesverdienstkreuzträger, der keiner mehr sein wollte, erwartungsvoll an.
„Es verhält sich so, meine Damen“, setzte Roland Bellböker zu einer längeren Erklärung an, „Sie müssen wissen, seit zwei Jahren bin ich Frührentner, und um meine Frau im Haushalt zu entlasten, tätige ich seit dieser Zeit praktisch die gesamten Einkäufe bei uns im Supermarkt um die Ecke. Meine Frau ist hocherfreut über diesen Umstand, denn schon lange Zeit vorher konnte sie nichts Schweres mehr tragen, und ich habe ihr damals schon immer gesagt, als ich noch berufstätig war, Schatz, warte doch mit dem Einkaufen, bis ich zuhause bin…“
„Herr Bellböker, können Sie uns bitte erklären“, schnitt die resolute Vorzimmerdame des ersten Bürgers der Stadt ihrem Besucher das Wort ab, „was die Einkäufe beziehungsweise Nichteinkäufe Ihrer Frau mit Ihrem Bundes-
verdienstkreuz zu tun haben?“
„Vieles, vieles haben sie damit zu tun, glauben Sie mir. Lassen Sie mich bitte weiter ausführen!“
Gisela Schmitz verdrehte die Augen und schickte ein unhörbares Stoßgebet zum Himmel, ihre Kollegin drehte sich erneut zur Seite.
„Also“, nahm Roland Bellböker den Faden wieder auf, „wo war ich stehen geblieben? Ach so, die Einkäufe. Ja, anfangs klappte das ja auch ganz gut, mit diesen Einkäufen; meine Frau schrieb mir eine Liste, und ich arbeitete sie ab, im Supermarkt. Doch dann kam das blöde Kreuz dazwischen, ich kann Ihnen sagen, das ist wirklich ein Kreuz mit dem Kreuz.“
Die beiden Damen blickten sich verständnislos an.
„Wir können Ihnen nicht folgen; was ist denn passiert, mit dem Kreuz, haben Sie es an der Kasse versetzt? Aber nein, das geht ja nicht, Sie tragen es ja bei sich.“
„Da sagen Sie was“, rief der Bundesverdienstkreuzträger wider Willen, „Kasse, das ist das Stichwort. Sie müssen nämlich wissen, dass eine Vergünstigung des Bundesverdienstkreuzes darin besteht, an allen Warteschlangen vor den Kassen in bestimmten Supermärkten vorbeiziehen zu dürfen, das wird einem dort sogar schriftlich garantiert. Und jetzt kommen wir zum Kern des Problems. Ich bin von Natur aus ein höflicher Mensch und als ein solcher war ich es bis dato nicht gewohnt, an den Leuten in der Schlange vorbeizuziehen, im Gegenteil, ich sah und sehe diese Vordrängler immer noch als äußerst unangenehme Zeitgenossen an.Und jetzt, was mache ich jetzt? Seitdem ich das blöde Kreuz habe, bin ich selbst einer von denen geworden, so ein Vordrängler, so ein Angeber, wenn auch mit verbrieftem Recht.“
„Ja, sagen Sie mal“, rief Gisela Schmitz aus, „tragen Sie das Bundesverdienstkreuz denn im Supermarkt sichtbar bei sich, zum Einkaufen? Das gibt’s doch gar nicht!“
„Ich sagte Ihnen ja bereits, ich habe das verbriefte Recht dazu, folglich mache ich auch Gebrauch davon. Außerdem, der Filialleiter meines Supermarktes besteht sogar darauf, aber es ist mir sehr unangenehm.“
„Waaas, der Filialleiter besteht darauf, dass Sie das Bundesverdienstkreuz zum Einkaufen tragen, am Bande?“
„Er besteht darauf, dass ich es an der Kasse vorweise, wenn ich von meinem Recht Gebrauch mache, damit kein Kunde meckern kann, aber ich wiederhole, es ist mir unangenehm.“
Die beiden Kolleginnen blickten sich ratlos an.
„Also, langsam beginne ich zu verstehen, Herr Bellböker. Da sind Sie ja ganz schön in die Zwickmühle geraten. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann ist es Ihnen auf der einen Seite unangenehm, an der Kasse Ihres Supermarktes von Ihrem Privileg Gebrauch zu machen, andererseits aber wollen Sie beim Einkaufen nicht darauf verzichten.“
„Genau so ist es, Sie haben es erfasst, mein ganzes Dilemma, und in erhabene Worte gefasst, besser hätte ich es selbst nicht formulieren können.“
Roland Bellböker schossen Tränen in die Augen.
„Aber da muss es doch eine Lösung geben, Gisela“, mischte sich Karin Scholz, die junge Kollegin, die bisher geschwiegen hatte, ein „der arme Mann ist ja ganz verzweifelt.“
„Die wird es bestimmt geben“, erwiderte Gisela Schmitz, „ich habe da auch schon so eine Idee, noch nichts Konkretes, doch wozu haben wir schließlich unseren Chef, den OB.“
„Lieber Herr Bellböker“, beschied sie dem Verzweifelten, „geben Sie nicht auf, und geben Sie es vor allem nicht zurück, Ihr Bundesverdienstkreuz. Glauben Sie mir, es gibt für alles eine Lösung. Sie hören von uns.“

Fast wäre er vor ihr auf die Knie gefallen, der Ärmste, und hätte ihre Hände mit seinen Tränen benetzt, doch er konnte sich beherrschen.
„Darf ich also noch hoffen?“ flüsterte er und verließ wie in Trance das Vorzimmer.
„Hoffen Sie, guter Mann, hoffen Sie.“
Die Kolleginnen blickten sich bedeutungsvoll an.
„Jetzt haben wir doch glatt vergessen, ihn zu fragen, wofür er eigentlich den Orden erhalten hat, Karin.“
„Tatsächlich! Ist aber auch eigentlich egal, meinst du nicht auch?“
Beide mussten lachen.

Eine Woche später erhielt ein überglücklicher Roland Bellböker die erlösende Nachricht per Telefon.
Der Filialleiter seines Supermarktes bot ihm eine Aushilfsstelle an, als Kassierer.
Jetzt kann er in aller Ruhe zu früher Morgenstunde seine Einkäufe tätigen, vor Öffnung des Ladenlokals, und braucht sich nicht mehr an der Warteschlange.
vorbeizuschmuggeln.
Im Gegenteil, die Kolleginnen an den anderen Kassen reißen sich darum,
ihn zu bedienen, und ihre Schmeicheleien klingen süßer als alle Lockrufe der Loreley.
Manchmal aber kann er ein Schmunzeln kaum unterdrücken, an der Kasse seiner Filiale bei ALDI Nord, das breite Verdienstkreuz auf der schmalen Brust, wenn ihn ein Kunde verschämt fragt, in welchem Regal dieses Kreuz da wohl zu finden sei…
 



 
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