Das Lied der Seekuh

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huwawa

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Das Lied der Seekuh

Jeden Morgen, wenn ich in die Küche komme, nehme ich Balduin aus der Bestecklade. Balduin ist mein Lieblingsküchenmesser, mit scharfer, dauerhafter Klinge und gut in der Hand liegendem, braunem Holzheft. Zum Schneiden von Frühstücksspeck, Käse, Tomaten, Obst, Brot, kurz allem, was ein Mensch morgens an fester Nahrung zu sich nehmen kann, eignet sich Balduin hervorragend.

Sie meinen, Balduin wäre ein komischer Name für ein Küchenmesser? Ich habe ihn vom Balmung abgeleitet, dem sagenhaften Schwert Siegfrieds, das er von den Nibelungen erhalten hatte und mit dem er den Drachen tötete. Ich mag diese alten germanischen Götter- und Heldensagen und natürlich das Nibelungenlied. Genau wie die antike Mythologie und die Epen von Homer, Ilias, die Odyssee...Ah, Odysseus - mal sehen ob er schon wach ist, vom Küchenfenster aus kann ich gut zu seiner Behausung blicken. Odysseus ist meine griechische Landschildkröte, er lebt von April bis Mitte Oktober im Garten, den Winter über schläft er im Kühlschrank. Gleich dort neben dem Glasbeet ist sein Refugium. Sie können ruhig hingehen, er ist sehr zutraulich und tut ihnen bestimmt nichts!

Odysseus heisst nicht nur seiner griechischen Abstammung wegen so, sondern auch, weil er gern auf Wanderschaft geht und länger fortbleibt. Irgend etwas scheint ihn immer wieder aus demGarten wegzulocken. Es muss wie der Gesang der Sirenen auf ihn wirken, jener sagenumwobenen Nymphen, die auch dem antiken Helden schon zu schaffen machten. Wer an der Insel der Sirenen vorbeikam und ihre zauberhafte Musik hörte, war ihnen unrettbar verfallen. Odysseus, der Listenreiche, entkam ihnen nur, indem er seinen Gefährten Wachs in die Ohren goss und sich selbst am Schiffsmast festbinden ließ.

Meinem Odysseus verstopfe ich die Ohren nicht und ich binde ihn auch nirgends fest. Er ist ein freier griechischer Bürger in meinem Garten und darf sich hinbewegen, wo er will. Am liebsten bewegt er sich allerdings über die Grenze in den Garten des Nachbarn. Von dort scheinen seine Sirenenklänge herzukommen. Warum übrigens christliche Seefahrer im vorigen Jahrtausend ausgerechnet in Seekühen die antiken Sirenen des Homer zu erkennen glaubten, ist nicht völlig geklärt. Obwohl sich diese Tiere sehr anmutig und elegant im Wasser bewegen, sind sie doch von recht plumpem Körperbau und singen oder andersartig musizieren können sie überhaupt nicht. Dennoch gab ihnen die Wissenschaft den lateinischen Namen Sirenia. Sie sind übrigens eine eigene Ordnung und nicht, wie oft vermutet, mit den Robben verwandt. Robben sind Fleischfresser, während sich die Seekühe von Wasserpflanzen ernähren und entwicklungsgeschichtlich den Elefanten nahe stehen.

Ehrlich gesagt glaube ich aber nicht, dass das meinen Odysseus sonderlich interessiert. Er folgt einfach dem magischen Gesang, möge er nun von Sirenen oder Seekühen kommen. Dort drüben, zwischen dem zweiten und dritten Johannisbeerstrauch von rechts schlüpft er immer durch, dort scheint der Ruf am deutlichsten zu sein. Gehen sie einmal hin, vielleicht hören sie etwas. Sie müssen sich bücken, nein, legen sie sich hin, das Signal ist in Odysseus´ Kopfhöhe sicher am besten wahrnehmbar. Wie - sie hören nichts? Die Seekuh schweigt? Das tut mir aber leid, jetzt haben sie sich auch noch schmutzig gemacht! Aber vielleicht nimmt Odysseus den Klang der Sirenen auch gar nicht mit den Ohren, sondern mit der Nase wahr. Seine Seekühe dürften nämlich die zwei Reihen Kopfsalat vor dem Küchenfenster des Nachbarn sein, dort zieht es ihn unwiderstehlich hin.

Mein Nachbar übrigens, ein sehr verschlossener, immer griesgrämig dreinblickender Mann, scheint Tiere nicht besonders zu lieben. Griechische Landschildkröten, glaube ich, hasst er sogar. Immer wenn sich Odysseus einer seiner Seekühe nähert, um zärtlich liebkosend an den frischen, grünen Blättern zu knabbern, eilt mein mürrischer Anrainer, drohend einen Stock schwingend, aus dem Haus. Seltsamerweise überkommt mich just in so einem Augenblick ein geradezu unbändiges Verlangen nach frischen Kräutern, das mich unverzüglich in den Garten hinaus stürzen lässt. Natürlich habe ich Balduin mit, zum Schneiden von Schnittlauch, Petersilie, oder Basilikum. Wenn der Nachbar meiner ansichtig wird, stutzt er und lässt den Stock sinken. Von mir zwar nicht im geringsten beabsichtigt, scheint ihm das Messer doch Respekt einzuflößen. Er murmelt dann etwas von "verdammter Kröte" und "schon zeigen werden" und schlurft wieder ins Haus zurück. Kürzlich sah ich ihn jedoch einen länglichen, in Wachstuch gewickelten Gegenstand heim tragen, dessen Umrisse bedenklich denen eines Gewehrs ähnelten. Bevor er im Haus verschwand warf er noch einen Blick zu meinem Küchenfenster herüber und fast schien mir, als würde sich der Anflug eines hämischen Grinsens um seine Mundwinkel legen. Sollte er tatsächlich die waffentechnischen Kraftverhältnisse zu seinen Gunsten verändert haben?

Das alles habe ich bereits vor zwei Wochen niedergeschrieben. Jetzt beobachte ich die Welt nur mehr von hier heroben. Ich hatte die lange aufgestauten Aggresionen und den konsequenten Vernichtungswillen meines Nachbarn unterschätzt, bis ich ihn den Finger am Abzug seiner Flinte krümmen sah. Sie können sich wohl vorstellen, wie schnell und weit eine Ladung Schrot in die Brust einen Menschen von allen irdischen Sorgen, allem Zank und Streit entrückt… Es ist sehr still hier, auf meiner Wolke. Balduin liegt jetzt in einem Schrank, im Gerichtsgebäude. Seine blanke Klinge hat ein paar Dellen und am zersplitterten Holzgriff hängt ein Zettel mit einer langen Aktennummer. Er soll für meinen Nachbarn auf Notwehr zeugen. Gegen mich! Ich bin ziemlich enttäuscht von ihm!

Odysseus hingegen, welch tapferer, braver Kerl. Brechenden Auges schon, sah ich ihn noch auf seinen Stummelbeinchen zur Hilfe herbeieilen, den Kopf angriffslustig vorgestreckt - was weiß eine griechische Landschildkröte schon von Schrotflinten - dass sie fast immer zwei Läufe haben! Die großzügige Notwehrauslegung unseres Nachbarn wurde auch Odysseus zum Verhängnis.

Jetzt krabbelt er neben mir herum - sie sollten ihn sehen! Er ist nackt! Seinen durchlöcherten Schild haben sie ihm gleich als er ankam abgenommen, den könnten sie in der Küche brauchen, haben sie gesagt. Es gibt oft Nudeln hier heroben. Und Salat, viel frischen, grünen Salat - sehr gesund! Wenn der Servierengel mit einer großen Schüssel heranschwebt, reckt Odysseus den Kopf in die Höhe und legt ihn ein wenig schief, als würde er fernen Sirenklängen lauschen. Ob er die Seekuh singen hört?

(©) gregor riegler 2005
 



 
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