Das Mädchen das vom Himmel fiel

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Cirias

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Das Mädchen, das vom Himmel fiel

Das Mädchen, das vom Himmel fiel


Es war eine jener Nächte, in denen die Landschaft ihr Alter zeigte. Tarski presste sein Gesicht ans Fenster. Eine flüchtige Spur von Mondlicht haftete in der durchsichtigen Luft. Einen Augenblick lang spiegelten sich die Hügelketten und der stille Saum des Waldes darin wieder , Schattenflächen, die über sein Gesicht glitten. Er lehnte sich erschöpft zurück und schloss die Augen. Der Zug fuhr weiter, obwohl es ihm in diesem Augenblick so schien, als könne er den Zug anhalten und damit auch sein Leben.
Als er in Olpe ausstieg, blieb er benommen auf dem Bahnsteig stehen. Es war zu spät, um noch nach Heinrichsdorf zu fahren, obwohl Tarski keinen Augenblick mehr verlieren wollte, um herauszufinden was mit Isaiah passiert war. Und es war etwas passiert, das wusste er, denn Isaiah war seit zwei Monaten wie vom Erdboden verschwunden. Auf seine Anrufe, Briefe und Mails hatte er nicht reagiert. In seinem letzten Anruf, Ende Februar, hatte er verstört gewirkt, eigenartig verschlossen. Sein letzter Brief endete mit dem merkwürdigen Satz: I came out from the sky.
Tarski war vor zwei Stunden in Köln gelandet. Ein feiner Nieselregen hatte blasse Spuren in den Himmel gefurcht. Ihm waren die Sprüche von damals eingefallen: "Sieht man im Sauerland die Berge, wird es bald regnen. Sieht man sie nicht, regnet es schon." Als er vor dreißig Jahren das Sauerland verlassen hatte, war es das gleiche Bild, das sich unauslöschlich in seine Erinnerung geprägt hatte. Es war als wäre die Zeit stehen geblieben. Während seine Schritte durch den leeren Bahnhof hallten, musste er an diesen Tag denken, an seine überstürzte Flucht von zu Hause, an ein Mädchen, das er schwanger und allein in Altenfeld zurückgelassen hatte, den riesigen Berg von Verantwortung, vor dem er fortgelaufen war. Er hatte nur eine einzige Adresse in Kanada, ein zusammengeknüllter Zettel in der Tasche seines schwarzen Lodenmantels, den er am Tag seines Fortgehens getragen hatte. Tarski war fort gegangen.
Als er zwei Tage später in einem Überlandbus saß, der ihn in den Süden bringen sollte, legte er seinen müden Kopf an die Scheiben und sah hinaus auf eine Landschaft, die ihm in ihrer stillen Ferne so eigenartig vertraut erschien, als wäre er niemals irgendwohin gefahren, als würde er immer irgendwie nach Hause fahren. Im Büro des Onkels seines Schulfreundes wurde er als Laufbursche geduldet. Aber es war ein Anfang. Er holte seinen Schulabschluss nach, besuchte eine Polizeischule, arbeitete als Detektiv in einem Kaufhaus und später in einer großen Detektei in Toronto. Er sah nicht zurück. Zehn Jahre später stand Isaiah eines Tages vor seiner Wohnung in Toronto. Aber Tarski kehrte nicht zurück. Der Kontakt zu Isaiah blieb. Es war wie eine vertraute Stimme, wie ein Ruf aus einem Nebelmeer, der ihn all die Jahre an etwas anschloss, von dem er nur noch eine vage Empfindung hatte, dass es existierte.
Tarski ging auf den Taxistand zu. Der Bahnhofsvorplatz lag verlassen. Die Fassaden der Häuser zeichneten sich blass wie Spinnengewebe gegen die Nachtlichter ab. Er fragte den Taxifahrer nach einem Hotel in Olsberg, vielleicht auch näher, in Ramsbeck. Der Fahrer war armenischer Abstammung und Tarski fiel auf, dass sein Deutsch nicht viel besser war als das des Fahrers, der während der langen Fahrt in abgehackter Sprache über das Wetter, die Politik und die Musik im Radio fluchte. Angestrengt versuchte er etwas zu erkennen, den Schemen, die das Scheinwerferlicht des Wagens aus der Dunkelheit schälte, einen Sinn zu geben, einen Namen, aber es war als würde er ein Buch in einer fremden Sprache lesen: Grevenbrück, Oedingen, Eslohe? Das Taxi hielt vor einem dunklen Gebäude am Rand Olsbergs. Tarski hockte sich auf sein Bett. Während er auf die Schattenschrift an der Wand starrte und die Luft einsog, die aus dem geöffneten Fenster in das Zimmer strömte, versuchte er sich vorzustellen, wie Isaiah all die Jahre über gelebt hatte. Tarski war nicht wieder in Deutschland gewesen, aber aus den Fotos und den Briefen, die Isaiah ihm geschickt hatte, wusste er warum sein Freund hier geblieben war. Manchmal glaubte er, Isaiah hätte sein, Tarskis Leben, gelebt, wenn er an seiner Stelle hier geblieben wäre. Isaiah hatte seine Heimat geliebt. Deshalb war er auch niemals länger verreist und hatte den alten Hof bei Frielingshausen gekauft, um dort in Ruhe seine Bilder malen zu können, immer wenn ihm das seine Dozentur, die er an der Siegener Universität inne hatte, erlaubte. Er hätte zu gern noch eine Schlackwurst verzehrt, aber dafür war es zu spät. Bald fiel er in einen unruhigen Schlaf.
Am Morgen betrat er den Frühstücksraum. Ein Mädchen war mit dem Eindecken der Tische beschäftigt. Während Tarski seinen Kaffee trank, beobachtete er sie. Ihr schlanker Körper bewegte sich wie ein Schatten zwischen den Tischen entlang. Alles was sie tat, tat sie fast lautlos, als hätten die Dinge in ihrer Nähe alle Schwere verloren. Verstohlen traf ihn ihr Blick . Er sprach sie unvermittelt an.
"Gibt es einen Bus, der nach Frielingshausen fährt?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Nein, es gibt keinen Bus. Die fahren nur nach Meschede und Winterberg und so. Da draußen gibt es gar nichts. Dort ist es nur dunkel und kalt".
Sie blickte ihn nachdenklich an. Ihre Haut war dunkel und in ihrer Stimme lag ein fremder Akzent. Sie war sicher nicht von hier. In ihren grünen Augen lag ein Ausdruck, der Tarski an etwas erinnerte. Er fühlte den Schmerz dieser Erinnerung, nichts sonst. Mit der gleichen Direktheit fragte sie ihn, was er dort suche. Sie verwendete genau dieses Wort, was ihn irritierte. Er erzählte ihr von seinem Schulfreund, nannte ihr aber nicht den Grund für sein Kommen.
"Ich habe sogar einen Schlüssel", sagte er. " Isaiah wollte immer, dass ich ihn besuche und er glaubte, dann könnte ich nicht mehr nein sagen."
Sie kaute nervös an ihren Fingernägeln, dann verschwand sie plötzlich in die Küche. Als sie wieder vor ihm stand, legte sie einen Schlüssel auf seinen Teller. Eine fiebrige Röte glänzte auf ihren Wangen.
"Sie können mein Auto haben, der schwarze, gleich vor der Kellertür. Ich hab bis sechs Dienst, dann brauch ich den Wagen wieder".
Bevor Tarski antworten konnte , hatte sie sich umgedreht. Er sah ihrem fast schwebenden Gang nach und starrte dann auf den Schlüssel. Warum hatte sie das getan?

Augenblicke später steuerte er den japanischen Kleinwagen auf die Hauptstraße Richtung Gevelinghausen und weiter nach Elpe. Graue Nebelschleier hingen zwischen den hohen Fichten. Die Straße wand sich gerade durch die schweigende Mauer des Waldes. Der Nebel wich und die Landschaft seiner Kindheit gab ihre Geheimnisse preis. Immer wieder öffnete sich der Blick auf eine weite, von Hügelkämmen durchzogene Landschaft, über der die Wolken wie ein Baldachin aus Flügeln standen. Das Licht hatte, Atemwolken gleich, silberne Spuren auf die Wiesen gelegt. Plötzlich tauchte der Weg vor ihm auf, genau wie auf den Fotos, die Isaiah ihm geschickt hatte, ein schmaler Weg zum Hohenstein hinauf. An seinem Ende sah er ein großes Gebäude,dahinter die verkohlten Ruinen von Stallungen und Wirtschaftsgebäuden. In Tarski zog sich etwas zusammen, während er langsam die Schotterpiste hinab fuhr. Das Haus stand auf einer plateauförmigen Anhöhe. In der Ferne sah man das helle Scherengitter der Häuser Ransbecks, die wie zerbrochene Scherben aus dem Waldland ragten. Er ließ den Wagen stehen und lief auf das Backsteingebäude mit dem Schieferdach zu. Tarski sog die würzige Kühle der Luft ein. Ein rauchiger Geruch mischte sich in die klare Frühlingsluft. Er blieb vor dem Haus stehen. Die Scheune nebenan war unversehrt geblieben. Das Scheunentor stand offen. Isaiahs schwarzer Citroen DS war von einer zähen Staubschicht bedeckt. Ein Poltern ließ Tarski herumfahren. Der Hof lag verlassen. In der oberen Etage des alten Hauses standen zwei Fensterflügel offen. Tarski zerrte den Schlüsselbund aus seinem Lodenmantel. Als er vor der schweren Eichentür stand, fiel ihm ein Strauß vertrockneter Rosen auf, der hinter dem Türgriff steckte. Zeitungen verstopften den Briefschlitz. Ein modriger Geruch schlug ihm entgegen, als er den fast hallenartigen Flur betrat. Das Haus machte allerdings nicht den Eindruck, als ob es schon lange nicht mehr bewohnt wäre. Tarski ging langsam durch alle Räume. Alles war ihm eigenartig vertraut, so genau hatte Isaiah es ihm beschrieben oder fotografiert. Alles schien an dem ihm zugedachten Platz, in allen Zimmern herrschte eine penible Ordnung. Hatte Isaiah nicht immer von seinem Chaos im Haus geschrieben? Und auch die Fenster schienen nur eben zum Lüften geöffnet worden zu sein. Nichts wies auf ein Verschwinden Isaiahs hin. Wo sollte er anfangen? Tarski setzte sich an den riesigen Schreibtisch in der Bibliothek. An den Wänden hingen geometrische Zeichnungen. Isaiah war Professor für analytische Mathematik. Er hatte nie viel über seine Arbeit gesprochen, erinnerte sich Tarski. Aber vor ungefähr einem Jahr hatte sich etwas im Ton seiner Briefe verändert. In Isaiahs Leben musste sich etwas verändert haben. Tarski erschien es fast aussichtslos, hier im Haus etwas zu finden, aber irgendwo musste er anfangen. Tarski suchte den ganzen Tag. Es war, als ob das Haus bewohnt war. Immer wieder schienen Schritte die Bodendielen über ihm knarren zu lassen, Geräusche wie von raschelndem Papier verklangen in den Räumen. Tarski beruhigte sich damit, nur den Widerhall der auf der Straße vorüber fahrenden Autos gehört zu haben. In einer der Küchenschubladen entdeckte er nachmittags die Fotografie einer jungen Frau, dann Isaiah, Armin Arm mit dieser Frau, die man nur undeutlich sah. Darunter lag ein schmales Bündel Kunstpostkarten von Gustav Klimt, alle in einer fremden Sprache beschrieben, mit ungelenken, fast kindlichen Buchstaben. Isaiah war ein Einzelgänger. Es hatte nie für längere Zeit eine Frau in seinem Leben gegeben. War das der Grund für die Veränderung in seinem Leben? Tarski ging hinauf ins Schlafzimmer. Das Bett schien frisch bezogen. Auf dem Kopfkissen lagen zwei vertrocknete Rosen. Tarski sah aus dem Fenster. Dichte Wolken zogen über die Baumwipfel. Von hier aus sah man bis zum Bastenberg. In diesem Augenblick schien er Jahre von der bewohnten Welt entfernt zu sein. Tarski fühlte sich müde und einsam. Das Licht schwand. Erschrocken sah er auf die Uhr: Siebzehn Uhr. Er musste zurück, er konnte die Kellnerin unmöglich warten lassen. Hastig packte er die Dinge, die ihm wichtig erschienen, in einen Karton und verließ das Haus. Auf der Wiese oberhalb des Schotterwegs standen zwei Rehe. Ohne Scheu hoben sie die Köpfe, als Tarski auf den Weg trat. Er blieb stehen. Die Rehe nahmen Witterung auf, dann wandten sie sich lautlos zur Flucht.

Tarski war noch rechtzeitig im Hotel. Die Kellnerin saß auf der Treppe, die hinauf zu den Zimmern führte. Sie sah ihn erwartungsvoll an. Tarski gab ihr den Schlüssel.
"Danke", sagte er. "Ich habe nicht getankt. Vielleicht kann ich Sie dafür heute Abend zum Essen einladen?"
Die Kellnerin lächelte.
"Was haben Sie herausgefunden?"
"Nichts. Oder, nicht sehr viel."
"Da gibt es eine Hütte im Wald, wenn Sie den Weg zum Hohenstein hinauf gehen, nur ein paar hundert Meter vom Haus. Dort war er sehr gern."
"Sie kannten ihn?"
"Ich gebe nicht jedem Fremden einfach mein Auto. Hier im Hochsauerland sind wir vorsichtig mit Fremden. "
Sie stand auf und ging an ihm vorbei.
"Um neun im Capri. Das werden Sie schon finden. Suchen ist doch Ihr Job, glaube ich?"
"Wie heißen Sie eigentlich?"
"Nicole", rief sie im Hinausgehen.

Tarski starrte aus dem Fenster seines Hotelzimmers. Es war ein Uhr nachts. In der Turmuhr gegenüber schlug das Gedächtnis der Nacht. Tarski wehrte sich nicht mehr gegen seine Erinnerungen. Während er die Briefe Isaiahs las, dachte er an einen Satz Isaiahs, als er dessen Bitte, ihn im Hochsauerland zu besuchen, zum wiederholten Mal ausgeschlagen hatte: "Heim kommt man nie , aber wo befreundete Wege zusammen laufen, da sieht die ganze Welt für eine Stunde wie Heimat aus." In dieser Nacht begriff er auf einmal, was Isaiah gemeint hatte. Er war erst 32 Stunden wieder hier und doch war es, als würde alles was ihm begegnete, nach innen wachsen. Die Entfernung zwischen der Vergangenheit und diesen Augenblicken schrumpfte unaufhörlich, mit jedem Atemzug. Er konnte nicht mehr schlafen.
Nicole hatte Isaiah gekannt. Sie hatte seine Seminare und Vorlesungen besucht. Als ihr Vater starb, brach sie das Studium ab und blieb im Hotel ihrer Eltern. Sie war oft bei Isaiah zu Hause gewesen. Sie hatte mit ihm geschlafen. Als er verschwand, hatte sie ihn schon lange nicht mehr besucht. Warum, verschwieg sie. In ihren Augen wurde Isaiah zu einem Teil der Nacht. Das unbewegliche Profil auf ihrem Gesicht hatte Tarski an das Mädchen erinnert, das er vor dreißig Jahren hier zurückgelassen hatte. Beim Abschied hatte ihre Hand für einen Augenblick in ihrer gelegen. Er spürte ihren Atem wie den Atem eines Tieres in seinem Gesicht. Er spürte ihre Einsamkeit und Verletzlichkeit. Er spürte, dass sie ihm etwas verbarg.

Es regnete. Dünne Glasfäden hingen in der Luft. Die Landschaft klebte wie eine durchsichtige Folie dahinter. Das alte Haus lag unter Regenschleiern versunken. Tarski folgte dem schmalen Pfad hinter den verkohlten Trümmern. Sternenmoos und Farn drängten sich an den Weg, die hohen Stämme der Fichten standen in der Einsamkeit. Er erreichte den Waldbuckel. Eine kleine Treppe führte zu den Überresten einer Hütte. Plötzlich sah Tarski auf einen frisch aufgeworfenen Erdhügel. Der Sturm hatte eine riesige Kiefer gefällt, die nun wie ein Wegzeichen pfeilartig auf diesen vorher offenbar gut verborgenen Platz wies. Tarski kletterte den steilen Hang hinab. Keuchend stand er vor dem Erdwall, der wie ein Grabhügel aus dem Gestrüpp ragte. Tarski überlief ein Schauer. Warum hatte Nicole ihn hierher geschickt? Er lief zurück. In der Scheune fand er eine Hacke und einen Spaten. Als er sich wieder zum Gehen wandte, fiel sein Blick auf das Auto. Lack- und chromglänzend stand es zwischen alten landwirtschaftlichen Geräten. Noch gestern war der DS von einer dicken Staubschicht überzogen gewesen. Oder war es das Licht, ihn geblendet hatte? Was ging hier vor? Er kannte keine Angst, doch während er dem schmalen Pfad in den Wald folgte, raste sein Blick in alle Richtungen. Er wischte sich die Regennässe aus dem Gesicht und begann die Erde mit dem Spaten wegzuschaufeln. Der Erdauswurf war frisch, höchstens wenige Monate alt. Die Erde war lehmig und weich. Er musste auf zweieinhalb Meter Länge graben, während die Breite nur einen guten Meter Durchmesser betrug. Ein splitterndes Geräusch ließ ihn aufhorchen. In den Wipfeln der Bäume flogen die Dohlen auf, ein dumpfer Nachhall ebbte durch das Tal. Tarski wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Verbissen schaufelte er weiter. Er stand bereits über einen Meter tief in der Grube, als er plötzlich auf ein Stück Stoff stieß. Vorsichtig schabte er mit dem Spaten über die Stelle. Darunter war etwas Hartes, etwas das keine Erde sein konnte. Unter den Bewegungen des Spatens zeichnete sich noch mehr Stoff, vielleicht der Arm einer Jacke ab. Tarski griff nach einem Stück Stoff und zog daran. In Zeitlupentempo reckte sich ein Arm in die Höhe. Zwischen den Fingern einer Hand rieselte Erde zu Boden. Tarski ließ den Arm fallen. Entsetzt starrte er auf seine Füße. Kein Zweifel, er stand auf einer Leiche. Einen Augenblick lang war er unfähig, sich zu bewegen. Das lautlose Pochen seines Herzens füllte seinen ganzen Körper aus. Er atmete tief durch. Minuten vergingen. Tarski riss einen Ärmel seines Hemdes entzwei und band ihn sich über Mund und Nase. Verbissen schaufelte er weiter. Wie in einem düsteren Traumbild wich die Erde und gab einen menschlichen Körper frei. Mit den bloßen Händen griff er in die Erde, bis unter seinen Händen ein halb verwester Schädel auftauchte, aus dem er die Gesichtszüge Isaiahs ablas. Über seine Hände krochen die Maden, an seine schlammverkrusteten Hosenbeine klammerten sich längliche Insekten und Würmer. Tarski kroch aus dem Loch und rannte in den Wald. Zweige schlugen ihm ins Gesicht, weiße Felder schwankten vor seinen Augen, er drehte sich im Kreis, als hätte er Angst vor seinem eigenen Schatten, und doch stand er wieder unversehens auf dem Hof, atmete den brandigen Geruch des Holzes und sah einen Schatten quer über den Hof hinter der Hauswand verschwinden. Tarski ging auf das Haus zu. Die Tür stand offen. Er war sich sicher, sie gestern nicht nur zugezogen sondern auch abgeschlossen zu haben.
"Ist hier jemand?"
Seine Stimme klang brüchig, hohl, wie die eines Fremden. Er riss sich die Kleidung vom Leib und stellte sich unter die Dusche im oberen Geschoss. Während das Wasser über seinen immer noch straffen und muskulösen Körper rann, fuhren die Bilder in seinen Kopf, wie schwarze Vögel verdunkelten sie seinen Blick, ohne jede Möglichkeit zu vergessen. Isaiah ist tot. Etwas in ihm wiederholte diesen Satz in einem endlosen Flüstern, bis er vor Nicoles Wagen stand. Die Windschutzscheibe war zerschlagen, die vorderen Reifen platt. Hau ab, hatte jemand in silberner Sprühfarbe auf die Motorhaube gesprayt.
"Verdammt", murmelte Tarski. Es schien höchste Zeit, zur Polizei zu gehen.

Der alte DS schnurrte wie eine Zooraubkatze. Isaiahs Anzug war ihm etwas eng. Trotz der frischen Kleidung hatte er immer noch das Gefühl, den Leichengeruch nicht loszuwerden. Wenn er sich die Haare noch ein wenig zurückkämmen würde und sein Gesicht noch etwas voller wäre, dann hätte er für Isaiah durchgehen können. Der DS war makellos sauber. Als hätte ihn jemand für ihn sauber gemacht. Sogar der Tank war voll. Tarski bog in die Hotelauffahrt ein. Nicole war nicht da. Auf seinem Nachttisch lag eine Nachricht für ihn: Warten Sie auf mich. Ich komme um Mitternacht zu Ihnen. Nicole.
Tarski wartete. Er dachte an das Grab im Wald da draußen. Er war einfach davon gestürzt, hatte es noch nicht einmal abgedeckt. Mehrmals lag seine Hand auf dem Telefon. Aber er war auch in Kanada oft andere Wege gegangen. Etwas ließ ihn zögern, eine fremde Stimme, eine Stimme, die aus dem Nebel dieser dreißig Jahre auftauchte.

Wieder und wieder begegnete ihm die durchsichtige Stille dieser Landschaft, im schweigenden Gesicht des Waldes, den Silhouetten der Dörfer, die wie unauffällige Tupfer die Landschaft sprenkelten, in den Gesichtern Vorübergehender, deren stolze und stets ein wenig in sich zurückgezogene Gesichtszüge ihn wie in einen Spiegel blicken ließen, in den lang gezogenen und unvermutet in steile Kehren übergehenden Straßen und Pisten, die sich durch das karge Bergland zogen, in den Wolken, die ihm nirgends näher und großartiger erschienen als hier.
Tarski war auf dem Weg nach Oberkirchen bei Schmallenberg. Dort gab es ein Hotel namens "Alter Flecken". Nicoles geheimnisvolle Andeutungen liefen darauf hinaus, dass der Besitzer, ein Mann namens Stanislav Graf, ihm mehr über das Verschwinden von Isaiah sagen konnte. Tarski beschleunigte den Wagen. Es war, als wäre Nicole letzte Nacht nicht bei sich gewesen. Sie schien besessen von der Idee, dass er, Tarski, Isaiah sei. Tarski hatte vergessen, seine Kleidung zu wechseln, und als sie ihn im Halbdunkel des Zimmers hatte stehen sehen, hatte sich ihr Blick verändert. Ein Lächeln glitt über ihre hohen Wangenknochen , spielte um ihre vollen Lippen und blieb fortan auf ihrem Gesicht liegen. Ihre grünen Augen taxierten ihn sanft. Nicoles Bewegungen erinnerten ihn an die des Mädchens. Und auch das Licht, das ihr schlanker nackter Körper einfing und wurzellos in ihn eingrub. Sie ließ ihn zurück mit einem Geruch, der an nichts erinnerte. Sie hatte ihn getröstet, so wie sie sich selbst getröstet hatte. Nicole und Isaiah waren ein Paar gewesen. Dann war irgendetwas passiert. Isaiah zog sich zurück, er ließ sie fallen. Und dann tauchte da die Geschichte einer Fremden auf, einer Fremden, die bei Isaiah gewohnt habe und deren Spur zu Stanislav Graf zurückführte. Mehr wollte oder konnte Nicole nicht sagen. Nicole war hier in Olsberg aufgewachsen, wie Isaiah auch. Ihre dunkle Hautfarbe erklärte das allerdings nicht. Sie blieb merkwürdig gelassen, als er ihr erzählte, was mit ihrem Auto geschehen war. Aber er kannte die Menschen hier nicht anders. Die Kargheit der Landschaft und die unwirtlichen klimatischen Bedingungen machten die Existenz schwer. Man arbeitete nur für die notwendigen Dinge. Und man sprach auch nur das Notwendigste.
Das Hinweisschild "Alter Flecken" riss Tarski aus seinen Gedanken. Der DS folgte einer schmalen Straße an Wiesenhängen entlang, über denen der graue Himmel stand. Etwas zurückgesetzt von der Straße stand das Hotelgebäude. Tarski mietete sich für zwei Nächte ein. Graf war nicht da. Seine Tochter gab ihm den Zimmerschlüssel. Als er wieder hinunter kam, stand sie noch immer in dem kleinen Foyer, als hätte sie auf ihn gewartet. Tarski betrat den Speisesaal, dessen Fenster direkt an den Wald grenzten. Die junge Frau brachte ihm einen Kaffee. Ihre Hände zitterten und der Kaffee schwappte über den Tassenrand.
"Tut mir leid. Die viele Arbeit."
Tarski nickte. Er war der einzige Gast.
"Gefällt es Ihnen hier?"
Tarski nickte. Er sah sie an. Sie war nervös. Ihr schmales Gesicht wirkte blass. Sie war vielleicht Ende zwanzig. Irgendetwas an ihr kam ihm bekannt vor.
"Eigentlich wollte ich meinen Freund Isaiah besuchen", sagte er betont langsam.
Die junge Graf wurde noch nervöser.
"Aber wussten Sie das denn nicht? Der Professor ist doch für ein Jahr nach Amerika."
"Aha."
Hinter Tarskis Stirn begann es zu arbeiten.
"Aha", sagte er noch einmal. Sein Instinkt verriet ihm, dass sich die Rätsel zwar verdichteten, aber dass er der Wahrheit nie näher war als in diesem Augenblick.
"Nun, wenn Sie Isaiah auch kennen, würden Sie mich vielleicht begleiten? Ich habe da draußen noch mein Auto stehen. Na ja, es sieht etwas mitgenommen aus und ich müsste es noch heute in die Werkstatt bringen. Ich bin ja fremd hier. Ich würde auch gut dafür bezahlen."
Tarski zückte einen Hundert Euro Schein.
"Sie waren also schon dort?"
"Ja. Gestern. Na ja und dann ist das eben mit dem Auto passiert. Sie wären mir eine große Hilfe."
Tarski legte einen weiteren Schein auf den Tisch.
"Eigentlich darf ich hier gar nicht weg."
Unruhig rieb sie die Handinnenflächen gegeneinander.
"Es dauert nicht lange."
Tarski stand auf und drückte ihr die Scheine in die Hand.
Zwanzig Minuten später bogen sie in den schmalen Forstweg zum Haus. Als sie den DS gesehen hatte, hatte sie einen Augenblick gezögert, aber nichts gesagt.
"Da ist es."
Tarski wies auf Nicoles Wagen.
"Oh."
Tarski sah sie aufmerksam an. Sie schien wirklich überrascht.
"Verdammt. Ich habe die Autoschlüssel bei der Hütte im Wald gelassen. Es sind nur ein paar Minuten. Meine ganze Ausrüstung ist auch noch da. Es wäre prima, wenn Sie mir helfen könnten. Ist sowieso besser, als hier herumzustehen."
Sie sah ihn fragend an.
"Ich bin Archäologe. Egal wo ich bin, ich kann das Buddeln einfach nicht lassen."
Er grinste.
"Wenn´s sein muss."
Sie starrte auf die rauchschwarzen Trümmer.
"Wie ist das passiert?", fragte er sie, während sie unter den hohen Fichten entlang liefen.
"Weiß nicht, ich glaube es war ein Kurzschluss. Die Leitungen sind alt."
Es begann zu regnen. Die Erde wurde zu einem schwarzen Brunnen, der das Wasser aufsog.
"Was ist das?"
Sie war abrupt stehen geblieben. Ihre vor Schreck geweiteten Augen starrten auf den Hügel frisch aufgeworfener Erde und das was daneben aus der Grube ragte.
"Kommen Sie ruhig näher. So was sieht man nicht alle Tage."
Tarski zerrte die Wehrlose an den Rand des Loches. Julia Graf schlug die Hände vor den Mund. Sie sank zu Boden, kroch durch den Schlamm und übergab sich. Ihr Körper schüttelte sich unter Krämpfen, sie würgte und spie, bis sie sich erschöpft an einen Baumstamm lehnte. Tarski hockte sich neben sie. Seine Stunde war gekommen. Er legte ihr die Hand auf den Nacken, sanft zwar, aber so bestimmt, dass sie ihren Druck spürte.
"Los, raus damit. Was ist hier passiert?"
Sie schluckte. Der Wind schlug über ihnen zusammen und der Regen lief über Julias bleiches Gesicht. Ihre Hände krallten sich in den Waldboden, während ihre Worte das Steinmeer und alles um sie herum zum Schweigen brachten.

Tarski hockte in dem Dunkel seines kleinen Zimmers. Ich bin das Kind, dachte er, das Kind das nie fort gegangen ist. Ich war immer hier, die ganze Zeit. Meine Geschichte haben andere erzählt. Sie haben mich erfunden, während ich nie existiert habe. Warum bin ich gegangen? Dachte ich ,hinter meinem Rücken gäbe es keine Spur mehr von mir? Die Zeit ist wie brüchiges Glas, ist wie die Luft hier, der Regen, der anders riecht als an jedem anderen Ort der Welt.
Tarski horchte auf. Draußen auf dem Gang ging jemand vorüber. Vor seiner Tür verstummten die Schritte. Er stand auf. Die Bodendielen knarrten. Er hörte jemanden die Treppe hinab gehen. War Graf zurückgekehrt? Tarski ging unruhig auf und ab. Seine Gedanken zappelten an endlos langen Fäden. Wenn Julia Graf die Wahrheit gesagt hatte? War ein Mensch in ihrer Lage fähig zu lügen? Julia Graf war zusammengebrochen. Mit tränenerstickter Stimme hatte sie das Geheimnis der fremden Frau an Isaiahs Seite gelüftet. Tarski ballte die Fäuste ineinander.

Isaiah war Sela vor einem knappen Jahr begegnet. Es war ein warmer Spätsommertag. Isaiah war zum Schwimmen an den Hennesee gefahren. Als er die Mitte des Ufers erreicht hatte, den Sommerberg vor sich, war sie plötzlich neben ihm im Wasser aufgetaucht. Als wäre sie vom Himmel gefallen. Sie hatte noch ihre ganze Kleidung an und sie hatte Angst. Sela sollte ihm niemals erzählen, wie sie dorthin gelangt war. Vielleicht wusste sie es auch nicht. Isaiah brachte sie ans Ufer und nach Hause. Bald stellte sich heraus, dass Sela seit drei Monaten im Hotel der Grafs festgehalten wurde. Das Hotel lief seit geraumer Zeit schlecht. Stanislav Graf war irgendwann einmal auf den Gedanken verfallen, im Hinterraum seiner Gaststätte ein Zimmer zu vermieten. In zwei Kellerräumen hielt er ein oder zwei Frauen fest, meist Frauen ohne Aufenthaltsgenehmigung, Flüchtlinge, so wie Sela, die aus dem Kosovo stammte. Graf hatte Sela in Schmallenberg auf der Straße vor einem Supermarkt angesprochen, ihr Arbeit und Geld versprochen. Sela hatte ihm vertraut. Graf versprach sich um die behördlichen Dinge zu kümmern. Sela sprach nur wenig Deutsch. Sie verbrachte fast zwölf Wochen in dem dunklen Kellerraum. Das andere Mädchen sah sie kaum, wenn sie mehrmals am Abend und in der Nacht nach oben gebracht wurde. Eines Nachts, nachdem Graf sie betrunken in ihrem Zimmer aufgesucht hatte, hatte er vergessen, die Tür abzuschließen. In der Kellertür am Ende des Ganges stak noch der Schlüssel. Sie sollte frei sein, es konnte nicht anders sein. Sela zog sich an und lief fort. Sie irrte die ganze Nacht durch den Wald. Als es hell wurde, versteckte sich Sela in einer Wanderhütte oberhalb des Sees, 14 Kilometer vom Hotel entfernt. Damit hörte ihre Erinnerung auf.
Julia Graf redete, als ginge es um ihr Leben. Immer wieder weinte sie minutenlang. Den Regen spürte sie nicht.
Isaiah hatte Sela bei sich behalten. Er ging nicht zur Polizei, weil sie ihn anflehte, es nicht zu tun. Aber er wusste nicht, wie er ihr helfen konnte. Eines Tages hatte er sie leblos in der Scheune gefunden. Sie hatte versucht, sich am Dachbalken des Zwischenbodens zu erhängen. Aber das Seil war viel zu lose gebunden. Es riss und Sela war zu Boden gestürzt. Isaiah blieb jetzt bei ihr. Sela erholte sich. Sie lernte Deutsch. Sie weinte nicht mehr die ganze Nacht. Isaiah durfte nur niemals die Tür hinter ihr schließen. Notgedrungen hielt er sie versteckt. Nur manchmal fuhr er mit ihr zum Aussichtsturm auf den Wilzenberg oder an die stillen Ufer des Hennesees.
Offensichtlich hatten Julia Graf und Isaiah ein Verhältnis. Jedes ihrer Worte, ihrer Blicke und Gesten erzählte davon, auch wenn sie diese Tatsache mit keinem Wort erwähnte. Weil Isaiah nichts von Selas Schicksal wusste, hatte er Julia Graf arglos davon erzählt. Aber Julia schwieg. Sie schwieg auch noch, als Isaiah sich einen Monat nachdem er Sela bei sich aufgenommen hatte, von ihr abwandte.
Tarski dachte an das schmale Bündel Briefe, das er in der letzten Nacht gelesen hatte. Briefe, deren sensible, poetische Sprache und Bilder ihn tief berührt hatten, Briefe, die vom Schicksal zweier Menschen erzählten, die in einer Traumwelt lebten.
Und dann geschah es. Hier vermutete Tarski, dass Julia ihre Version der Geschichte erzählte, eine Wahrheit, die sich ihr Herz erfunden hatte. Graf hatte erfahren, wo sich Sela befand. In dieser Zeit, es war Frühjahr, hatte es in der Gegend eine ganze Reihe von Einbrüchen und Diebstählen gegeben. Graf wiegelte seine Bekannten und das halbe Dorf gegen Sela auf, die er als Kopf einer Bande von Kosovoalbanern bezeichnete. Hinzu kam ein nicht ausrottbarer Aberglaube. Plötzliche Todesfälle, erkranktes Vieh, Pechsträhnen, all das wurde Teil eines Bildes, in dem Sela, das Mädchen das aussah als käme es aus einem anderen Teil der Erde, als Hexe und Kriminelle erschien. Niemand wollte sie töten, sagte Julia Graf, sie wollten sie nur fortjagen.
Als Isaiah wieder den ganzen Tag in Siegen war, versammelten sie sich auf seinem Hof, zwanzig Leute oder mehr, Bürger aus Brabecke, Bödenfeld und anderen Orten, allen voran Stanislav Graf und seine Tochter. Es war abends. Es hatte geregnet und die Dämmerung griff mit harten Schatten nach dem letzten Licht. Sie trieben Sela den Weg hinab. Schweigend, nur ab und zu flog ein Stein aus der Menge auf ihren Körper. Ein Stein traf sie am Hinterkopf. Sie war gestürzt, hatte sich in die klaffende Wunde gefasst und war blutverschmiert weiter gelaufen, immer weiter, die Menge hinter ihr her, bis der Weg an einem schroffen Abhang endete. Sie hatte sich umgedreht, dann war sie ins Stolpern geraten und in die Tiefe gestürzt. Es war ein Unglück, sagte Julia Graf. Niemand hatte sich mehr die Mühe gemacht, nach ihr zu suchen. Die Bürger waren nach Hause gefahren und Sela war tot.

Tarski hatte seine Hand auf die Schulter von Julia Graf gelegt.
"Warum habt ihr Isaiah umgebracht?"
Sie schluchzte und schüttelte den Kopf. Tarski bekam nichts mehr aus ihr heraus. Aber es war klar, dass Julia Graf Isaiah die ganze Geschichte erzählt haben musste, schon im eigenen Interesse. Sie war naiv. Vielleicht glaubte sie ihn so zurückgewinnen zu können. Tarski erinnerte sich an die letzte Mail von Isaiah. Sie hatte verzweifelt geklungen, resignierend. Hatte er Selas Leichnam gefunden? Oder hatte Julia Graf ihm eine ganz andere Version erzählt? Warum hatte er ihm nie von Sela erzählt?
Tarski ließ Julia Graf allein zurück. Er rannte durch den Wald. Wieder wurde er das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Er tippte Nicoles Nummer in die Tastatur seines Handys. Sie antwortete nicht. Tarski jagte den DS über die kurvenreiche Straße zurück zum Hotel. Es war niemand da. Er setzte sich auf das Bett in seinem Zimmer und wartete.

Unmerklich hatte sich die Türklinke nach unten bewegt. Er zuckte zusammen. Seine Hand klammerte sich an den Griff einer Taschenlampe. Eine dunkle Gestalt erschien in der Türöffnung. Tarski schnellte nach oben. Die Gestalt bewegte sich auf ihn zu. Er holte aus und versetzte seinem Gegenüber einen Schlag. In diesem Augenblick sah er in die Mündung einer Schusswaffe. Blitzschnell ging er zu Boden. Ein Schuss hallte durch das Zimmer. Durch die offene Tür rannte er auf den Flur. Es war stockfinster. Jemand hatte die Notbeleuchtung ausgeschaltet. Die Taschenlampe ging nicht mehr an. Tarski tastete sich zur Treppe. Der Unbekannte folgte ihm. Er stolperte die letzten Stufen hinab und stand vor der Hoteltür. Die Tür war verschlossen. Tarski lief in den Speiseraum.Doch es gab keinen Ausgang hier. Er öffnete das Fenster.
"Halt! Stehen bleiben oder ich puste dir deine neugierige Fresse weg!"
Mit einem Satz sprang Tarski auf die Fensterbank. Ein Schuss traf die Fensterscheibe, die splitternd zerbarst. Tarski rannte auf den DS zu. Die Wagentür war nicht verschlossen. Als er den Wagen starten wollte, sah er, dass jemand das Zündschloss heraus gebrochen hatte. Der Unbekannte ging mit erhobener Waffe auf ihn zu. Er hatte keine Eile mehr. Tarski stieg aus.
"So ist es gut, woll. "
In diesem Augenblick bog ein Fahrzeug auf den Hotelparkplatz.
"Was zum Teufel-"
Der Wagen raste auf sie zu. Tarski sprang hinter den DS, der andere stürzte fluchend auf den Asphalt. Der Wagen wendete und hielt abrupt neben ihm. Es war Nicole.
"Los, einsteigen!"
Er kletterte auf den Beifahrersitz und der Wagen fuhr an. Der Mann starrte Nicole an, als wäre sie ein Gespenst. Der Wagen bog schleudernd auf die Hauptstraße.
"Das war Graf", sagte Nicole tonlos. Der Wagen raste in die Nacht, Richtung Meschede.
"Woher wusstest du das? Wo fahren wir überhaupt hin?"
"Fort von hier. Du musst weg. Graf hat Isaiah umgebracht. Was willst du noch mehr wissen?"
"Eine ganze Menge. Und woher willst du das wissen?"
Nicole schwieg. Ihr Make up war zerlaufen. Aus ihren Augen rannen schwarze Tränen.
Sie waren noch nicht lange gefahren, als sich plötzlich von hinten ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit näherte. Er drängte sich hinter sie, das Fernlicht blendete auf und plötzlich rammte er sie.
"Er ist wahnsinnig!"
Nicole beschleunigte den Wagen. Plötzlich riss sie das Steuer herum und fuhr von der Straße ab geradewegs in einen Forstweg. Ihr Verfolger bremste, geriet ins Schleudern, drehte sich und krachte frontal in die Leitplanke. Rauch stieg aus dem Motorraum. Tarski rannte zur Straße hinab. Graf hing leblos auf dem Fahrersitz. Sein Gesicht war von Glassscherben aufgerissen. Er röchelte. Tarski wollte ihn aus dem Wagen ziehen. Plötzlich stand Nicole neben ihm und fasste ihn an der Schulter.
"Da läuft Benzin aus, verdammt", sagte er.
"Um so besser."
Sie zog ihn zurück, entzündete ein Papiertaschentuch und warf es unter den Wagen. Tarski wollte irgendetwas tun, aber er war wie gelähmt. Sie zog ihn weiter zurück, bis zu ihrem Auto. Grafs Wagen ging in Flammen auf.

Es war fast früher Morgen. Tarski und Nicole standen auf dem Bahnsteig in Siegen. Nicoles Kopf lehnte an seiner Schulter. Leise begann sie zu summen: I came out from the sky... Tarski erstarrte. Ihre grünen Augen verloren sich mit ihren Blicken in der Ferne.
"In der Nacht, in der Graf Isaiah umgebracht hat", begann sie mit leiser Stimme, "in der Nacht bin ich durch den Wald geirrt. Ich weiß nicht, wie lange ich da unten unter dem Abhang gelegen habe. Als ich den Weg hoch kam, hab ich ihn gesehen, wie er das Loch gegraben hat und Isaiah hab ich gesehen, wie er so friedlich im Gras lag, aber er war tot und es war zu spät, ich konnte nichts tun, ich konnte ihm nicht sagen, dass ich lebe, dass alles gut wird. Er musste zu Graf gefahren sein, nachdem ihm irgend jemand davon erzählt hatte. Ich habe nur ganz leise geweint und mich versteckt. Ich bin dann weggefahren. Ich habe einen Onkel in Köln. Er hat mir geholfen. Und dann bin ich wieder gekommen, unter anderem Namen, mit anderem Aussehen, alles anders. Ich habe mich erfunden, damit ich weiterleben kann. Ich wollte bei ihm sein, auch wenn er nicht mehr da ist. Ich habe keine Heimat mehr, aber soll ich deshalb auch keine Wünsche mehr haben? Ich bleibe hier, auch wenn ich nur ein Gespenst bin in diesem Haus. Aber so lange es etwas gibt, das mich an ihn erinnert, bleibe ich."
Der Zug fuhr ein. Er hielt.
"Das Gepäck hole ich. Ich schicke es dir nach."
Tarski nickte. Er war müde. Sela küsste ihn zärtlich auf die Lippen.
"Danke. Danke für alles", sagte sie. "Du musst jetzt gehen."
Die Türen des Zuges schlossen sich. Die Wagen ruckten an. Tarski lächelte.
"Ich bin zu alt, um immer davonzulaufen."
Er legte seinen Arm um sie.
"Ich bringe dich zurück in den Himmel ,dort hin, wo du hergekommen bist."
 

Zinndorfer

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Hallo Cirias,

sprachlich ist das sehr ausgereift. Da gibt es nicht viel nachzubessern. Ich frage mich jedoch, ob es als Krimi oder Thriller spannend genug ist. Diese Leute haben zu wenig Ecken und Kanten, an denen man sich stoßen könnte. Speziell dieser Tarski scheint nur Reflektor zu sein - auch etwas zu enzyklopädisch, zu gründlich vorgestellt - insbesondere in viel zu langen Naturbeschreibungen für LAndschaften. Eine davon habe ich dir unten eingestellt, ein elendlanger Absatz, da rutschen dir Krimileser aus der Aufmerksamkeit raus - und ich auch, muss ich gestehen.

Danach habe ich nicht weitergelesen, es war mir nicht unterhaltsam genug; in einem Krimi suche ich kurzweilige oder klaustrophobische Unterhaltung.

Trotzdem ein sehr talentierter Text, nur würde ich versuchen, knackiger zu arbeiten. Nicht einen Roman in einem Krimi unterzubringen. Oder umgekehrt, nicht einen Krimi in einem Roman.

Was mich interessieren würde, in welcher Tradition du dein Krimischreiben siehst.


Nur die wenigen Dinge, die mir bis zu meinem Textausstieg aufgefallen sind:

Sie schüttelte den Kopf und wischte sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
besser strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht

Eine fiebrige Röte überglänzte ihre Wangen.
Was wolltest du mit dem überglänzte? Das (untrennbare) Verb ist für eine Neuschöpfung nicht interessant genug; falls es keine Neuschöpfung ist, ist es falsch.

Sie können mein Auto haben. Es ist der schwarze, gleich vor der Kellertür.
Es ist das schwarze. Dahinter fängst du aber mit dem Wagen an, auf der Suche nach einem abwechslungsreichen Synonym. Ist aber in solcher Kürze nicht notwendig.

Und hier ist der viel zu lange Absatz, der meiner Ansicht nach in einem Krimi tödlich wirkt und zudem mit epischer Landschaftsbeschreibung aufwartet. Atmosphäre ist gut, aber kürzer, und lieber mal den Fokus auf die Figur richten, wie in dem Moment, wo Tarski im Dunkel auf dem Hotelzimmer sitzt. Das ist fein beobachtet.

Augenblicke später steuerte Tarski den japanischen Kleinwagen der Kellnerin auf die Hauptstraße Richtung Gevelinghausen und weiter nach Elpe. Graue Nebelschleier hingen zwischen den hohen Fichten. Das dunkle Grün der Bäume schimmerte durch die Schattenhaut des Lichts. Die Straße wand sich gerade durch die schweigende Mauer des Waldes. Der Nebel wich und die Landschaft seiner Kindheit gab ihre Geheimnisse preis. Immer wieder öffnete sich der Blick auf eine weite, von Hügelkämmen durchzogene Landschaft, über der die Wolken wie ein Baldachin aus Flügeln standen. Das Licht hatte, Atemwolken gleich, silberne Spuren auf die Wiesen gelegt. In den Tälern stand der weiße Streif des Nebels. An manchen Tagen schien das Hochsauerland die Entfernungen schwinden zu lassen, die Stille über den Baumwipfeln wurde dann gläsern. Die Landschaft wirkte einsam und doch war immer etwas da, das einen fand, bevor man verloren gehen konnte. "Fort Fun",las er auf einem Schild. Das gab es damals noch nicht. Aber die flache Kuppe des Ohlenbergs ragte nach wie vor aus dem Wald. Plötzlich tauchte der Weg vor ihm auf, genau wie auf den Fotos, die Isaiah ihm geschickt hatte, ein schmaler Weg zum Hohenstein hinauf. An seinem Ende sah er ein großes Gebäude stehen, dahinter die verkohlten Ruinen von Stallungen und Wirtschaftsgebäuden. In Tarski zog sich etwas zusammen, während er langsam die Schotterpiste hinab fuhr. Das Haus stand auf einer plateauförmigen Anhöhe. In der Ferne sah man das helle Scherengitter der Häuser Ransbecks, die wie zerbrochene Scherben aus dem Waldland ragten. Er ließ den Wagen stehen und lief auf das Backsteingebäude mit dem Schieferdach zu. Tarski sog die würzige Kühle der Luft ein. Es war als würde man alles um sich herum einatmen, ein Teil von allem werden, so wie Tarski es als Kind oft empfunden hatte. Ein rauchiger Geruch mischte sich in die klare Frühlingsluft. Er blieb vor dem Haus stehen. Die Scheune nebenan war unversehrt geblieben. Das Scheunentor stand offen. Isaiahs schwarzer Citroen DS war von einer zähen Staubschicht bedeckt. Ein Poltern ließ Tarski herumfahren. Der Hof lag verlassen. In der oberen Etage des alten Hauses standen zwei Fensterflügel offen. Tarski zerrte den Schlüsselbund aus seinem Lodenmantel. Als er vor der schweren Eichentür stand, fiel ihm ein Strauß vertrockneter Rosen auf, der hinter dem Türgriff steckte. Zeitungen verstopften den Briefschlitz. Ein modriger Geruch schlug ihm entgegen, als er den fast hallenartigen Flur betrat. Das Haus machte allerdings nicht den Eindruck, als ob es schon lange nicht mehr bewohnt wäre. Tarski ging langsam durch alle Räume. Alles war ihm eigenartig vertraut, so genau hatte Isaiah es ihm beschrieben oder fotografiert. Alles schien an dem ihm zugedachten Platz, in allen Zimmern herrschte eine penible Ordnung. Hatte Isaiah nicht immer von seinem Chaos im Haus geschrieben? Und auch die Fenster schienen nur eben zum Lüften geöffnet worden zu sein. Nichts wies auf ein Verschwinden Isaiahs hin. Wo sollte er anfangen? Tarski setzte sich an den riesigen Schreibtisch in der Bibliothek. An den Wänden hingen geometrische Zeichnungen. Isaiah war Professor für analytische Mathematik. Er hatte nie viel über seine Arbeit gesprochen, erinnerte sich Tarski. Aber vor ungefähr einem Jahr hatte sich etwas im Ton seiner Briefe verändert. In Isaiahs Leben musste sich etwas verändert haben. Tarski erschien es fast aussichtslos, hier im Haus etwas zu finden, aber irgendwo musste er anfangen. Tarski suchte den ganzen Tag. Es war, als ob das Haus bewohnt war. Immer wieder schienen Schritte die Bodendielen über ihm knarren zu lassen, Geräusche wie von raschelndem Papier verklangen in den Räumen. Tarski beruhigte sich damit, nur den Widerhall der auf der Straße oben vorüber fahrenden Autos gehört zu haben. In eine der Küchenschubladen entdeckte er nachmittags die Fotografie einer jungen Frau, dann Isaiah, Armin Arm mit dieser Frau, die man nur undeutlich sah. Darunter lag ein schmales Bünde Kunstpostkarten von Gustav Klimt, alle in einer fremden Sprache beschrieben, mit ungelenken, fast kindlichen Buchstaben. Isaiah war ein Einzelgänger. Es hatte nie für längere Zeit eine Frau in seinem Leben gegeben. War das der Grund für die Veränderung in seinem Leben? Tarski ging hinauf ins Schlafzimmer. Das Bett schien frisch bezogen. Auf dem Kopfkissen lagen zwei vertrocknete Rosen. An den Wänden hingen riesige Bilder, auf denen sich Gebilde der Ebene und des Raums in unheimlichen Landschaften zu verflüchtigen schienen. Tarski sah aus dem Fenster. Dichte Wolken zogen über die Baumwipfel. Von hier aus sah man bis zum Bastenberg. In diesem Augenblick schien er Jahre von der bewohnten Welt entfernt zu sein. Tarski fühlte sich müde und einsam. Das Licht schwand. Erschrocken sah er auf die Uhr: Siebzehn Uhr. Er musste zurück, er konnte die Kellnerin unmöglich warten lassen. Hastig packte er die Dinge, die ihm wichtig erschienen, in einen Karton und verließ das Haus. Auf der Wiese oberhalb des Schotterwegs standen zwei Rehe. Ohne Scheu hoben sie die Köpfe, als Tarski auf den Weg trat. Er blieb stehen. Die Rehe nahmen Witterung auf, dann wandten sie sich lautlos zur Flucht.
 

Cirias

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Hallo Zinndorfer,
danke für deine Kritik.
Nun, ich sehe mich durchaus in der Tradition des epischen Krimis, habe damit bislang und gerade im vergangenen Jahr Erfolg gehabt, dennoch treffen deine Anmerkungen den richtigen Punkt.
Was die Landschaftsbeschreibungen angeht, so sind diese in der Tat zu lang geraten, jedenfalls an den falschen Stellen. Ich werde das in Kürze umarbeiten bzw. den ganzen Text kürzen, womit er dann auch mehr Dichte erreichen wird.
Die von dir bemängelten Textstellen sind zurecht kritisiert, bei einem Text von solcher Länge gerät manches aus dem Blick... Auch das werde ich ändern.
Die Schilderung von Tarski war so schon ein wenig beabsichtigt, weil er ja weniger Handelnder ist als zum Handeln gezwungen wird.
Einstweilen danke ich dir für deine guten Anmerkungen; wollen sehen, ob der Text in den nächsten Tagen durch die Umarbeitung gewinnt...
Gruß, Cirias
 

flammarion

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Korrekturvorschläge:

Das Mädchen; das vom Himmel fiel
Veröffentlicht von Cirias am 08. 03. 2005 20:34
Das Mädchen; das vom Himmel fiel


Es war eine jener Nächte, in denen die Landschaft ihr Alter zeigte. Tarski presste sein Gesicht ans Fenster. Eine flüchtige Spur von Mondlicht haftete in der durchsichtigen Luft. Einen Augenblick lang spiegelten sich die Hügelketten und der stille Saum des Waldes darin wieder (Leerfeld zuviel), Schattenflächen, die über sein Gesicht glitten. Er lehnte sich erschöpft zurück und schloss die Augen. Der Zug fuhr weiter, obwohl es Tarski in diesem Augenblick so[blue] erschien[/blue] (schien), als könne er den Zug anhalten und damit auch sein Leben.
Als er in Olpe ausstieg, blieb er benommen auf dem Bahnsteig stehen. Es war zu spät, um noch nach Heinrichsdorf zu fahren, obwohl Tarski keinen Augenblick mehr verlieren wollte, um herauszufinden(Komma) was mit Isaiah passiert war. Und es war etwas passiert, das wusste er, denn Isaiah war seit zwei Monaten wie vom Erdboden verschwunden. Auf Tarskis Anrufe, Briefe und Mails hatte er nicht reagiert. In seinem letzten Anruf, Ende Februar, hatte er verstört gewirkt, eigenartig verschlossen. Sein letzter Brief endete mit dem merkwürdigen Satz: I came out from the sky.
Tarski war vor zwei Stunden in Köln gelandet. Ein feiner Nieselregen hatte blasse Spuren in den Himmel gefurcht. Ihm waren die Sprüche von damals eingefallen: "Sieht man im Sauerland die Berge, wird es bald regnen. Sieht man sie nicht, regnet es schon." Als er vor dreißig Jahren das Sauerland verlassen hatte, war es das gleiche Bild, das sich unauslöschlich in seine Erinnerung geprägt hatte. Es war(Komma) als wäre die Zeit stehen geblieben. Während seine Schritte durch den leeren Bahnhof hallten, musste Tarski an diesen Tag denken, an seine überstürzte Flucht von zu Hause, an ein Mädchen, das er schwanger und allein in Altenfeld zurückgelassen hatte, den riesigen Berg von Verantwortung, vor dem er fortgelaufen war. Er hatte nur eine einzige Adresse in Kanada, ein zusammengeknüllter Zettel in der Tasche seines schwarzen Lodenmantels, den er am Tag seines Fortgehens getragen hatte. Tarski war fort gegangen.
Als er zwei Tage später in einem Überlandbus saß, der ihn in den Süden bringen sollte, legte er seinen müden Kopf an die Scheiben und sah hinaus auf eine Landschaft, die ihm in ihrer stillen Ferne so eigenartig vertraut erschien, als wäre er niemals irgendwohin gefahren, als würde er immer irgendwie nach Hause fahren. Im Büro des Onkels seines Schulfreundes wurde er als Laufbursche geduldet. Aber es war ein Anfang. Tarski holte seinen Schulabschluss nach, besuchte eine Polizeischule, arbeitete als Detektiv in einem Kaufhaus und später in einer großen Detektei in Toronto. Er sah nicht zurück. Zehn Jahre später stand Isaiah eines Tages vor seiner Wohnung in Toronto. Aber Tarski kehrte nicht zurück. Der Kontakt zu Isaiah blieb. Es war wie eine vertraute Stimme, wie ein Ruf aus einem Nebelmeer, der ihn all die Jahre an etwas anschloss, von dem er nur noch [blue] eine [/blue] (die) vage Empfindung besaß, dass es existierte.
Tarski ging auf den Taxistand zu. Der Bahnhofsvorplatz lag verlassen. Die Fassaden der Häuser zeichneten sich blass wie Spinnengewebe gegen die Nachtlichter ab. Tarski fragte den Taxifahrer nach einem Hotel in Olsberg, vielleicht auch näher, in Ramsbeck. Der Fahrer war armenischer Abstammung und Tarski fiel auf, dass sein Deutsch nicht viel besser war als das des Fahrers, der während der langen Fahrt in abgehackter Sprache über das Wetter, die Politik und die Musik im Radio fluchte. Angestrengt versuchte Tarski etwas zu erkennen, den Schemen, die das Scheinwerferlicht des Wagens aus der Dunkelheit schälte, einen Sinn zu geben, einen Namen, aber es war(Komma) als würde er ein Buch in einer fremden Sprache lesen: Grevenbrück, Oedingen, Eslohe? Das Taxi hielt vor einem dunklen Gebäude am Rand Olsbergs. (Absatz)Tarski hockte sich auf sein Bett. Während er auf die Schattenschrift an der Wand starrte und die Luft einsog, die aus dem geöffneten Fenster in das Zimmer strömte, versuchte er sich vorzustellen, wie Isaiah all die Jahre über gelebt hatte. Tarski war nicht wieder in Deutschland gewesen, aber aus den Fotos und den Briefen, die Isaiah ihm geschickt hatte, wusste er(Komma) warum sein Freund hier geblieben war. Manchmal glaubte er, Isaiah hätte sein, Tarskis Leben, gelebt, wenn er an seiner Stelle hier geblieben wäre. Isaiah hatte seine Heimat geliebt. Deshalb war er auch niemals länger verreist und hatte den alten Hof bei Frielingshausen gekauft, um dort in Ruhe seine Bilder malen zu können, immer wenn ihm das seine Dozentur, die er an der Siegener Universität inne hatte, erlaubte. Tarski hätte zu gern noch eine Schlackwurst verzehrt, aber dafür war es zu spät. Er fiel bald in einen unruhigen Schlaf.
Am Morgen betrat er den Frühstücksraum. Ein Mädchen war mit dem Eindecken der Tische beschäftigt. Während Tarski seinen Kaffee trank, beobachtete er sie. Ihr schlanker Körper bewegte sich wie ein Schatten zwischen den Tischen entlang. Alles was sie tat, tat sie fast lautlos, als hätten die Dinge in ihrer Nähe alle Schwere verloren. Verstohlen traf ihr Blick Tarski. Er sprach sie unvermittelt an.
"Gibt es einen Bus, der nach Frielingshausen fährt?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Nein, es gibt keinen Bus. Die fahren nur nach Meschede und Winterberg und so. Da draußen gibt es gar nichts. Dort ist es nur dunkel und kalt".
Sie blickte ihn nachdenklich an. Ihre Haut war dunkel und in ihrer Stimme lag ein fremder Akzent. Sie war sicher nicht von hier. In ihren grünen Augen lag ein Ausdruck, der Tarski an etwas erinnerte. Er fühlte den Schmerz dieser Erinnerung, nichts sonst. Mit der gleichen Direktheit fragte sie ihn, was er dort suche. Sie verwendete genau dieses Wort, was Tarski irritierte. Er erzählte ihr von seinem Schulfreund, nannte ihr aber nicht den Grund für sein Kommen.
"Ich habe sogar einen Schlüssel", sagte er. " (Leerfeld zuviel)Isaiah wollte immer, dass ich ihn besuche und er glaubte, dann könnte ich nicht mehr nein sagen."
Sie kaute nervös an ihren Fingernägeln, dann verschwand sie plötzlich in [blue] der [/blue] (die oder hinter der Küchentür) Küche. Als sie wieder vor ihm stand, legte sie einen Schlüssel auf seinen Teller. Eine fiebrige Röte glänzte auf ihren Wangen.
"Sie können mein Auto haben, der schwarze, gleich vor der Kellertür. Ich hab bis sechs Dienst, dann brauch ich den Wagen wieder".
Bevor Tarski antworten konnte (Leerfeld zuviel), hatte sie sich umgedreht. Er sah ihrem fast schwebenden Gang nach und starrte dann auf den Schlüssel vor[blue] ihm[/blue] (sich). Warum hatte sie das getan?

Augenblicke später steuerte Tarski den japanischen Kleinwagen [blue] der Kellnerin [/blue] (überflüssig) auf die Hauptstraße Richtung Gevelinghausen und weiter nach Elpe. Graue Nebelschleier hingen zwischen den hohen Fichten. Die Straße wand sich gerade durch die schweigende Mauer des Waldes. Der Nebel wich und die Landschaft seiner Kindheit gab ihre Geheimnisse preis. Immer wieder öffnete sich der Blick auf eine weite, von Hügelkämmen durchzogene Landschaft, über der die Wolken wie ein Baldachin aus Flügeln standen. Das Licht hatte, Atemwolken gleich, silberne Spuren auf die Wiesen gelegt. (Absatz)Plötzlich tauchte der Weg vor ihm auf, genau wie auf den Fotos, die Isaiah ihm geschickt hatte, ein schmaler Weg zum Hohenstein hinauf. An seinem Ende sah er ein großes Gebäude[blue] stehen[/blue] (überflüssig), dahinter die verkohlten Ruinen von Stallungen und Wirtschaftsgebäuden. In Tarski zog sich etwas zusammen, während er langsam die Schotterpiste hinab fuhr. (Absatz)Das Haus stand auf einer plateauförmigen Anhöhe. In der Ferne sah man das helle Scherengitter der Häuser Ransbecks, die wie zerbrochene Scherben aus dem Waldland ragten. Er ließ den Wagen stehen und lief auf das Backsteingebäude mit dem Schieferdach zu. Tarski sog die würzige Kühle der Luft ein. Ein rauchiger Geruch mischte sich in die klare Frühlingsluft. Er blieb vor dem Haus stehen. Die Scheune nebenan war unversehrt geblieben. Das Scheunentor stand offen. Isaiahs schwarzer Citroen DS war von einer zähen Staubschicht bedeckt. (Absatz)Ein Poltern ließ Tarski herumfahren. Der Hof lag verlassen. In der oberen Etage des alten Hauses standen zwei Fensterflügel offen. Tarski zerrte den Schlüsselbund aus seinem Lodenmantel. Als er vor der schweren Eichentür stand, fiel ihm ein Strauß vertrockneter Rosen auf, der hinter dem Türgriff steckte. Zeitungen verstopften den Briefschlitz. Ein modriger Geruch schlug ihm entgegen, als er den fast hallenartigen Flur betrat. Das Haus machte allerdings nicht den Eindruck, als ob es schon lange nicht mehr bewohnt wäre. (Absatz)Tarski ging langsam durch alle Räume. Alles war ihm eigenartig vertraut, so genau hatte Isaiah es ihm beschrieben oder fotografiert. Alles schien an dem ihm zugedachten Platz, in allen Zimmern herrschte eine penible Ordnung. Hatte Isaiah nicht immer von seinem Chaos im Haus geschrieben? Und auch die Fenster schienen nur eben zum Lüften geöffnet worden zu sein. Nichts wies auf ein Verschwinden Isaiahs hin. Wo sollte er anfangen? (Absatz)Tarski setzte sich an den riesigen Schreibtisch in der Bibliothek. An den Wänden hingen geometrische Zeichnungen. Isaiah war Professor für analytische Mathematik. Er hatte nie viel über seine Arbeit gesprochen, erinnerte sich Tarski. Aber vor ungefähr einem Jahr hatte sich etwas im Ton seiner Briefe verändert. In Isaiahs Leben musste sich etwas verändert haben. Tarski erschien es fast aussichtslos, hier im Haus etwas zu finden, aber irgendwo musste er anfangen. (Absatz)Tarski suchte den ganzen Tag. Es war, als ob das Haus bewohnt war. Immer wieder schienen Schritte die Bodendielen über ihm knarren zu lassen, Geräusche wie von raschelndem Papier verklangen in den Räumen. Tarski beruhigte sich damit, nur den Widerhall der auf der Straße [blue] oben [/blue] (überflüssig) vorüber fahrenden Autos gehört zu haben. (Absatz)In [red] eine [/red] (Einer) der Küchenschubladen entdeckte er nachmittags die Fotografie einer jungen Frau, dann Isaiah, Arm(getrennt)in Arm mit dieser Frau, die man nur undeutlich sah. Darunter lag ein schmales Bündel Kunstpostkarten von Gustav Klimt, alle in einer fremden Sprache beschrieben, mit ungelenken, fast kindlichen Buchstaben. Isaiah war ein Einzelgänger. Es hatte nie für längere Zeit eine Frau in seinem Leben gegeben. War das der Grund für die Veränderung in seinem Leben? (Absatz)Tarski ging hinauf ins Schlafzimmer. Das Bett schien frisch bezogen. Auf dem Kopfkissen lagen zwei vertrocknete Rosen. Tarski sah aus dem Fenster. Dichte Wolken zogen über die Baumwipfel. Von hier aus sah man bis zum Bastenberg. In diesem Augenblick schien er Jahre von der bewohnten Welt entfernt zu sein. Tarski fühlte sich müde und einsam. Das Licht schwand. Erschrocken sah er auf die Uhr: Siebzehn Uhr. Er musste zurück, er konnte die Kellnerin unmöglich warten lassen. Hastig packte er die Dinge, die ihm wichtig erschienen, in einen Karton und verließ das Haus. Auf der Wiese oberhalb des Schotterwegs standen zwei Rehe. Ohne Scheu hoben sie die Köpfe, als Tarski auf den Weg trat. Er blieb stehen. Die Rehe nahmen Witterung auf, dann wandten sie sich lautlos zur Flucht.

Tarski war noch rechtzeitig im Hotel. Die Kellnerin saß auf der Treppe, die hinauf zu den Zimmern führte. Sie sah ihn erwartungsvoll an. Tarski gab ihr den Schlüssel.
"Danke", sagte er. "Ich habe nicht getankt. Vielleicht kann ich Sie dafür heute Abend zum Essen einladen?"
Die Kellnerin lächelte.
"Was haben Sie herausgefunden?"
"Nichts. Oder, nicht sehr viel."
"Da gibt es eine Hütte im Wald, wenn Sie den Weg zum Hohenstein hinauf gehen, nur ein paar hundert Meter vom Haus. Dort war er sehr gern."
"Sie kannten ihn?"
"Ich gebe nicht jedem Fremden einfach mein Auto. Hier im Hochsauerland sind wir vorsichtig mit Fremden. "
Sie stand auf und ging an ihm vorbei.
"Um neun im Capri. Das werden Sie schon finden. Suchen ist doch Ihr Job, glaube ich?"
"Wie heißen Sie eigentlich?"
"Nicole", rief sie im Hinausgehen.

Tarski starrte aus dem Fenster seines Hotelzimmers. Es war ein Uhr nachts. In der Turmuhr gegenüber schlug das Gedächtnis der Nacht. Tarski wehrte sich nicht mehr gegen seine Erinnerungen. Während er die Briefe Isaiahs las, dachte er an einen Satz Isaiahs, als er dessen Bitte, ihn im Hochsauerland zu besuchen, zum wiederholten Mal ausgeschlagen hatte: "Heim kommt man nie , aber wo befreundete Wege zusammen laufen, da sieht die ganze Welt für eine Stunde wie Heimat aus." In dieser Nacht begriff er auf einmal, was Isaiah gemeint hatte. Er war erst 32 Stunden wieder hier und doch war es, als würde alles(Komma) was ihm begegnete, nach innen wachsen. Die Entfernung zwischen der Vergangenheit und diesen Augenblicken schrumpfte unaufhörlich, mit jedem Atemzug. Er konnte nicht mehr schlafen.
Nicole hatte Isaiah gekannt. Sie hatte seine Seminare und Vorlesungen besucht. Als ihr Vater starb, brach sie das Studium ab und blieb im Hotel ihrer Eltern. Sie war oft bei Isaiah zu Hause gewesen. Sie hatte mit ihm geschlafen. Als er verschwand, hatte sie ihn schon lange nicht mehr besucht. Warum, verschwieg sie. In ihren Augen wurde Isaiah zu einem Teil der Nacht. Das unbewegliche Profil auf ihrem Gesicht hatte Tarski an das Mädchen erinnert, das er vor dreißig Jahren hier zurückgelassen hatte. Beim Abschied hatte ihre Hand für einen Augenblick in [blue] ihrer [/blue] (seiner?) gelegen. Er spürte ihren Atem wie den Atem eines Tieres in seinem Gesicht. Er spürte ihre Einsamkeit und Verletzlichkeit. Er spürte, dass sie ihm etwas verbarg.

Es regnete. Dünne Glasfäden hingen in der Luft. Die Landschaft klebte wie eine durchsichtige Folie dahinter. Das alte Haus lag unter Regenschleiern versunken. Tarski folgte dem schmalen Pfad hinter den verkohlten Trümmern. Sternenmoos und Farn drängten sich an den Weg, die hohen Stämme der Fichten standen in der Einsamkeit. Er erreichte den Waldbuckel. Eine kleine Treppe führte zu den Überresten einer Hütte. Plötzlich sah Tarski auf einen frisch aufgeworfenen Erdhügel. Der Sturm hatte eine riesige Kiefer gefällt, die nun wie ein Wegzeichen pfeilartig auf diesen vorher offenbar gut verborgenen Platz wies. Tarski kletterte den steilen Hang hinab. Keuchend stand er vor dem Erdwall, der wie ein Grabhügel aus dem Gestrüpp ragte. (Absatz)Tarski überlief ein Schauer. Warum hatte Nicole ihn hierher geschickt? Er lief zurück. In der Scheune fand er eine Hacke und einen Spaten. Als er sich wieder zum Gehen wandte, fiel sein Blick auf das Auto. Lack- und chromglänzend stand es zwischen alten landwirtschaftlichen Geräten. Noch gestern war der DS von einer dicken Staubschicht überzogen gewesen. Oder war es das Licht, ihn geblendet hatte? Was ging hier vor? Er kannte keine Angst, doch während er dem schmalen Pfad in den Wald folgte, raste sein Blick in alle Richtungen. (Absatz)Er wischte sich die Regennässe aus dem Gesicht und begann die Erde mit dem Spaten wegzuschaufeln. Der Erdauswurf war frisch, höchstens wenige Monate alt. Die Erde war lehmig und weich. Er musste auf zweieinhalb Meter Länge graben, während die Breite nur einen guten Meter Durchmesser betrug. Ein splitterndes Geräusch ließ ihn aufhorchen. In den Wipfeln der Bäume flogen die Dohlen auf, ein dumpfer Nachhall ebbte durch das Tal. Tarski wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Verbissen schaufelte er weiter. (Absatz)Er stand bereits über einen Meter tief in der Grube, als er plötzlich auf ein Stück Stoff stieß. Vorsichtig schabte er mit dem Spaten über die Stelle. Darunter war etwas Hartes, etwas(Komma) das keine Erde sein konnte. Unter den Bewegungen des Spatens zeichnete sich noch mehr Stoff, vielleicht der [blue] Arm [/blue] (Ärmel) einer Jacke ab. Tarski griff nach einem Stück Stoff und zog daran. In Zeitlupentempo reckte sich ein Arm in die Höhe. Zwischen den Fingern einer Hand rieselte Erde zu Boden. Tarski ließ den Arm fallen. Entsetzt starrte er auf seine Füße. Kein Zweifel, er stand auf einer Leiche. Einen Augenblick lang war er unfähig, sich zu bewegen. Das lautlose Pochen seines Herzens füllte seinen ganzen Körper aus. Er atmete tief durch. Minuten vergingen. (Absatz)Tarski riss einen Ärmel seines Hemdes entzwei und band ihn sich über Mund und Nase. Verbissen schaufelte er weiter. Wie in einem düsteren Traumbild wich die Erde und gab einen menschlichen Körper frei. Mit den bloßen Händen griff er in die Erde, bis unter seinen Händen ein halb verwester Schädel auftauchte, aus dem er die Gesichtszüge Isaiahs ablas. Über seine Hände krochen die Maden, an seine schlammverkrusteten Hosenbeine klammerten sich längliche Insekten und Würmer. Tarski kroch aus dem Loch und rannte in den Wald. Zweige schlugen ihm ins Gesicht, weiße Felder schwankten vor seinen Augen, er drehte sich im Kreis, als hätte er Angst vor seinem eigenen Schatten, und doch stand er wieder unversehens auf dem Hof, atmete den brandigen Geruch des Holzes und sah einen Schatten quer über den Hof hinter der Hauswand verschwinden. Tarski ging auf das Haus zu. Die Tür stand offen. Er war sich sicher, sie gestern nicht nur zugezogen(Komma) sondern auch abgeschlossen zu haben.
"Ist hier jemand?"
Seine Stimme klang brüchig, hohl, wie die eines Fremden. Er riss sich die Kleidung vom Leib und stellte sich unter die Dusche im oberen Geschoss. Während das Wasser über seinen immer noch straffen und muskulösen Körper rann, fuhren die Bilder in seinen Kopf, wie schwarze Vögel verdunkelten sie seinen Blick, ohne jede Möglichkeit(Komma) zu vergessen. Isaiah ist tot. Etwas in ihm wiederholte diesen Satz in einem endlosen Flüstern, bis er vor Nicoles Wagen stand. Die Windschutzscheibe war zerschlagen, die vorderen Reifen platt. Hau ab, hatte jemand in silberner Sprühfarbe auf die Motorhaube gesprayt.
"Verdammt", murmelte Tarski. Es schien höchste Zeit, zur Polizei zu gehen.

Der alte DS schnurrte wie eine Zooraubkatze. Isaiahs Anzug war ihm etwas eng. Trotz der frischen Kleidung hatte er immer noch das Gefühl, den Leichengeruch nicht loszuwerden. Wenn er sich die Haare noch ein wenig zurückkämmen würde und sein Gesicht noch etwas voller wäre, dann hätte er für Isaiah durchgehen können. Der DS war makellos sauber. Als hätte ihn jemand für ihn sauber gemacht. Sogar der Tank war voll. Tarski bog in die Hotelauffahrt ein. Nicole war nicht da. Auf seinem Nachttisch lag eine Nachricht für ihn: Warten Sie auf mich. Ich komme um Mitternacht zu Ihnen. Nicole.
Tarski wartete. Er dachte an das Grab im Wald da draußen. Er war einfach davon gestürzt, hatte es noch nicht einmal abgedeckt. Mehrmals lag seine Hand auf dem Telefon. Aber er war auch in Kanada oft andere Wege gegangen. Etwas ließ ihn zögern, eine fremde Stimme, eine Stimme, die aus dem Nebel dieser dreißig Jahre auftauchte.

Wieder und wieder begegnete ihm die durchsichtige Stille dieser Landschaft, im schweigenden Gesicht des Waldes, den Silhouetten der Dörfer, die wie unauffällige Tupfer die Landschaft sprenkelten, in den Gesichtern Vorübergehender, deren stolze und stets ein wenig in sich zurückgezogene Gesichtszüge ihn wie in einen Spiegel blicken ließen, in den lang gezogenen und unvermutet in steile Kehren übergehenden Straßen und Pisten, die sich durch das karge Bergland zogen, in den Wolken, die ihm nirgends näher und großartiger erschienen als hier.
Tarski war auf dem Weg nach Oberkirchen bei Schmallenberg. Dort gab es ein Hotel namens "Alter Flecken". Nicoles geheimnisvolle Andeutungen liefen darauf hinaus, dass der Besitzer, ein Mann namens Stanislav Graf, ihm mehr über das Verschwinden von Isaiah sagen konnte. Tarski beschleunigte den Wagen. Es war, als wäre Nicole letzte Nacht nicht bei sich gewesen. Sie schien besessen von der Idee, dass er, Tarski, Isaiah sei. Tarski hatte vergessen, seine Kleidung zu wechseln, und als sie ihn im Halbdunkel des Zimmers hatte stehen sehen, hatte sich ihr Blick verändert. Ein Lächeln glitt über ihre hohen Wangenknochen (Leerfeld zuviel), spielte um ihre vollen Lippen und blieb fortan auf ihrem Gesicht liegen. Ihre grünen Augen taxierten ihn sanft. Nicoles Bewegungen erinnerten ihn an die des Mädchens. Und auch das Licht, das ihr schlanker nackter Körper einfing und wurzellos in ihn eingrub. Sie ließ ihn zurück mit einem Geruch, der an nichts erinnerte. Sie hatte ihn getröstet, so(Komma) wie sie sich selbst getröstet hatte. (Absatz)Nicole und Isaiah waren ein Paar gewesen. Dann war irgendetwas passiert. Isaiah zog sich zurück, er ließ sie fallen. Und dann tauchte da die Geschichte einer Fremden auf, einer Fremden, die bei Isaiah gewohnt habe und deren Spur zu Stanislav Graf zurückführte. Mehr wollte oder konnte Nicole nicht sagen. (Absatz)Nicole war hier in Olsberg aufgewachsen, wie Isaiah auch. Ihre dunkle Hautfarbe erklärte das allerdings nicht. Sie blieb merkwürdig gelassen, als er ihr erzählte, was mit ihrem Auto geschehen war. Aber er kannte die Menschen hier nicht anders. Die Kargheit der Landschaft und die unwirtlichen klimatischen Bedingungen machten die Existenz schwer. Man arbeitete nur für die notwendigen Dinge. Und man sprach auch nur das Notwendigste.
Das Hinweisschild "Alter Flecken" riss Tarski aus seinen Gedanken. Der DS folgte einer schmalen Straße an Wiesenhängen entlang, über denen der graue Himmel stand. Etwas zurückgesetzt von der Straße stand das Hotelgebäude. Tarski mietete sich für zwei Nächte ein. Graf war nicht da.[blue] Statt dessen hatte ihm seine Tochter den Zimmerschlüssel gegeben[/blue] (Seine Tochter gab ihm den Zimmerschlüssel). Als er wieder hinunter kam, stand sie noch immer in dem kleinen Foyer, als hätte sie auf ihn gewartet. Tarski betrat den Speisesaal, dessen Fenster direkt an den Wald grenzten. Die junge Frau brachte ihm einen Kaffee. Ihre Hände zitterten und der Kaffee schwappte über den Tassenrand.
"Tut mir leid. Die viele Arbeit."
Tarski nickte. Er war der einzige Gast.
"Gefällt es Ihnen hier?"
Tarski nickte. Er sah sie an. Sie war nervös. Ihr schmales Gesicht wirkte blass. Sie war vielleicht Ende zwanzig. Irgendetwas an ihr kam ihm bekannt vor.
"Eigentlich wollte ich meinen Freund Isaiah besuchen", sagte er betont langsam.
Die junge Graf wurde noch nervöser.
"Aber wussten Sie das denn nicht? Der Professor ist doch für ein Jahr nach Amerika."
"Aha."
Hinter Tarskis Stirn begann es zu arbeiten.
"Aha", sagte er noch einmal. Sein Instinkt verriet ihm, dass sich die Rätsel zwar verdichteten, aber dass er der Wahrheit nie näher war als in[blue] diesen Augenblicken[/blue] (diesem Augenblick).
"Nun, wenn Sie Isaiah auch kennen, würden Sie mich vielleicht begleiten? Ich habe da draußen noch mein Auto stehen. Na ja, es sieht etwas mitgenommen aus und ich müsste es noch heute in die Werkstatt bringen. Ich bin ja fremd hier. Ich würde auch gut dafür bezahlen."
Tarski zückte einen Hundert Euro Schein.
"Sie waren also schon dort?"
"Ja. Gestern. Na ja und dann ist das eben mit dem Auto passiert. Sie wären mir eine große Hilfe."
Tarski legte einen weiteren Schein auf den Tisch.
"Eigentlich darf ich hier gar nicht weg."
Unruhig rieb sie die Handinnenflächen gegeneinander.
"Es dauert nicht lange."
Tarski stand auf und drückte ihr die Scheine in die Hand.
Zwanzig Minuten später bogen sie in den schmalen Forstweg zum Haus. Als sie den DS gesehen hatte, hatte sie einen Augenblick gezögert, aber nichts gesagt.
"Da ist es."
Tarski wies auf Nicoles Wagen.
"Oh."
Tarski sah sie aufmerksam an. Sie schien wirklich überrascht.
"Verdammt. Ich habe die Autoschlüssel bei der Hütte im Wald gelassen. Es sind nur ein paar Minuten. Meine ganze Ausrüstung ist auch noch da. Es wäre prima, wenn Sie mir helfen könnten. Ist sowieso besser, als hier herumzustehen."
Sie sah ihn fragend an.
"Ich bin Archäologe. Egal wo ich bin, ich kann das Buddeln einfach nicht lassen."
Er grinste.
"Wenn´s sein muss."
Sie starrte auf die rauchschwarzen Trümmer.
"Wie ist das passiert?", fragte er sie, während sie unter den hohen Fichten entlang liefen.
"Weiß nicht, ich glaube(Komma) es war ein Kurzschluss. Die Leitungen sind alt."
Es begann zu regnen. Die Erde wurde zu einem schwarzen Brunnen, der das Wasser aufsog.
"Was ist das?"
Sie war abrupt stehen geblieben. Ihre vor Schreck geweiteten Augen starrten auf den Hügel frisch aufgeworfener Erde und das was daneben aus der Grube ragte.
"Kommen Sie ruhig näher. So was sieht man nicht alle Tage."
Tarski zerrte die Wehrlose an den Rand des Loches. Julia Graf schlug die Hände vor den Mund. Sie sank zu Boden, kroch durch den Schlamm und übergab sich. Ihr Körper schüttelte sich unter Krämpfen, sie würgte und spie, bis sie sich erschöpft an einen Baumstamm lehnte. Tarski hockte sich neben sie. Seine Stunde war gekommen. Er legte ihr die Hand auf den Nacken, sanft zwar, aber so bestimmt, dass sie ihren Druck spürte.
"Los, raus damit. Was ist hier passiert?"
Sie schluckte. Der Wind schlug über ihnen zusammen und der Regen lief über Julias bleiches Gesicht. Ihre Hände krallten sich in den Waldboden, während ihre Worte das Steinmeer und alles um sie herum zum Schweigen brachten.

Tarski hockte in dem Dunkel seines kleinen Zimmers. Ich bin das Kind, dachte er, das Kind(Komma) das nie fort gegangen ist. Ich war immer hier, die ganze Zeit. Meine Geschichte haben andere erzählt. Sie haben mich erfunden, während ich nie existiert habe. Warum bin ich gegangen? Dachte ich (Leerfeld zuviel),(Leerfeld fehlt)hinter meinem Rücken gäbe es keine Spur mehr von mir? Die Zeit ist wie brüchiges Glas, ist wie die Luft hier, der Regen, der anders riecht als an jedem anderen Ort der Welt.
Tarski horchte auf. Draußen auf dem Gang ging jemand vorüber. Vor seiner Tür verstummten die Schritte. Er stand auf. Die Bodendielen knarrten. Er hörte jemanden die Treppe hinab gehen. War Graf zurückgekehrt? Tarski ging unruhig auf und ab. Seine Gedanken zappelten an endlos langen Fäden. Wenn Julia Graf die Wahrheit gesagt hatte? War ein Mensch in ihrer Lage fähig zu lügen? Julia Graf war zusammengebrochen. Mit tränenerstickter Stimme hatte sie das Geheimnis der fremden Frau an Isaiahs Seite gelüftet. Tarski ballte die Fäuste ineinander.

Isaiah war Sela vor einem knappen Jahr begegnet. Es war ein warmer Spätsommertag. Isaiah war zum Schwimmen an den Hennesee gefahren. Als er die Mitte des Ufers erreicht hatte, den Sommerberg vor sich, war sie plötzlich neben ihm im Wasser aufgetaucht. Als wäre sie vom Himmel gefallen. Sie hatte noch ihre [blue] ganze [/blue] (komplette) Kleidung an und sie hatte Angst. Sela sollte ihm niemals erzählen, wie sie dorthin gelangt war. Vielleicht wusste sie es auch nicht. Isaiah brachte sie ans Ufer und (zu sich?) nach Hause. (Absatz)Bald stellte sich heraus, dass Sela seit drei Monaten im Hotel der Grafs festgehalten wurde. Das Hotel lief seit geraumer Zeit schlecht. Stanislav Graf war irgendwann einmal auf den Gedanken verfallen, im Hinterraum seiner Gaststätte ein Zimmer zu vermieten. In zwei Kellerräumen hielt er ein oder zwei Frauen fest, meist Frauen ohne Aufenthaltsgenehmigung, Flüchtlinge, so wie Sela, die aus dem Kosovo stammte. Graf hatte Sela in Schmallenberg auf der Straße vor einem Supermarkt angesprochen, ihr Arbeit und Geld versprochen. Sela hatte ihm vertraut. Graf versprach(Komma) sich um die behördlichen Dinge zu kümmern. Sela sprach nur wenig Deutsch. Sie verbrachte fast zwölf Wochen in dem dunklen Kellerraum. Das andere Mädchen sah sie kaum, wenn sie mehrmals am Abend und in der Nacht nach oben gebracht wurde. Eines Nachts, nachdem Graf sie betrunken in ihrem Zimmer aufgesucht hatte, hatte er vergessen, die Tür abzuschließen. In der Kellertür am Ende des Ganges stak noch der Schlüssel. Sie sollte frei sein, es konnte nicht anders sein. Sela zog sich an und lief fort. Sie irrte die ganze Nacht durch den Wald. Als es hell wurde, versteckte sich Sela in einer Wanderhütte oberhalb des Sees, 14 Kilometer vom Hotel entfernt. Damit hörte ihre Erinnerung auf.(Was hat das Vermieten des Zimmers mit dem Gefangenhalten der Ausländerinnen zu tun?)
Julia Graf redete, als ginge es um ihr Leben. Immer wieder weinte sie minutenlang. Den Regen spürte sie nicht.
Isaiah hatte Sela bei sich behalten. Er ging nicht zur Polizei, weil sie ihn anflehte, es nicht zu tun. Aber er wusste nicht, wie er ihr helfen konnte. Eines Tages hatte er sie leblos in der Scheune gefunden. Sie hatte versucht, sich am Dachbalken des Zwischenbodens zu erhängen. Aber das Seil war viel zu lose gebunden. Es riss und Sela war zu Boden gestürzt. Isaiah blieb jetzt bei ihr. Sela erholte sich. Sie lernte Deutsch. Sie weinte nicht mehr die ganze Nacht. Isaiah durfte nur niemals die Tür hinter ihr schließen. Notgedrungen hielt er sie versteckt. Nur manchmal fuhr er mit ihr zum Aussichtsturm auf den Wilzenberg oder an die stillen Ufer des Hennesees.
Offensichtlich hatten Julia Graf und Isaiah ein Verhältnis. Jedes ihrer Worte, ihrer Blicke und Gesten erzählte davon, auch wenn sie diese Tatsache mit keinem Wort erwähnte. Weil Isaiah nichts von Selas Schicksal wusste, hatte er Julia Graf arglos davon erzählt. Aber Julia schwieg. Sie schwieg auch noch, als Isaiah sich einen Monat(Komma) nachdem er Sela bei sich aufgenommen hatte, von ihr abwandte.
Tarski dachte an das schmale Bündel Briefe, das er in der letzten Nacht gelesen hatte. Briefe, deren sensible, poetische Sprache und Bilder ihn tief berührt hatten, Briefe, die vom Schicksal zweier Menschen erzählten, die in einer Traumwelt lebten.
Und dann geschah es. Hier vermutete Tarski, dass Julia ihre Version der Geschichte erzählte, eine Wahrheit, die sich ihr Herz erfunden hatte. Graf hatte erfahren, wo sich Sela befand. In dieser Zeit, es war Frühjahr, hatte es in der Gegend eine ganze Reihe von Einbrüchen und Diebstählen gegeben. Graf wiegelte seine Bekannten und das halbe Dorf gegen Sela auf, die er als Kopf einer Bande von Kosovoalbanern bezeichnete. Hinzu kam ein nicht ausrottbarer Aberglaube. Plötzliche Todesfälle, erkranktes Vieh, Pechsträhnen, all das wurde Teil eines Bildes, in dem Sela, das Mädchen das aussah(Komma) als käme es aus einem anderen Teil der Erde, als Hexe und Kriminelle erschien. Niemand wollte sie töten, sagte Julia Graf, sie wollten sie nur fortjagen.
Als Isaiah wieder den ganzen Tag in Siegen war, versammelten sie sich auf seinem Hof, zwanzig Leute oder mehr, Bürger aus Brabecke, Bödenfeld und anderen Orten, allen voran Stanislav Graf und seine Tochter. Es war abends. Es hatte geregnet und die Dämmerung griff mit harten Schatten nach dem letzten Licht. Sie trieben Sela den Weg hinab. Schweigend, nur ab und zu flog ein Stein aus der Menge auf ihren Körper. Ein Stein traf sie am Hinterkopf. Sie war gestürzt, hatte sich in die klaffende Wunde gefasst und war blutverschmiert weiter gelaufen, immer weiter, die Menge hinter ihr her, bis der Weg an einem schroffen Abhang endete. Sie hatte sich umgedreht, dann war sie ins Stolpern geraten und in die Tiefe gestürzt. Es war ein Unglück, sagte Julia Graf. Niemand hatte sich mehr die Mühe gemacht, nach ihr zu suchen. Die Bürger waren nach Hause gefahren und Sela war tot.

Tarski hatte seine Hand auf die Schulter von Julia Graf gelegt.
"Warum habt ihr Isaiah umgebracht?"
Sie schluchzte und schüttelte den Kopf. Tarski bekam nichts mehr aus ihr heraus. Aber es war klar, dass Julia Graf Isaiah die ganze Geschichte erzählt haben musste, schon im eigenen Interesse. Sie war naiv. Vielleicht glaubte sie(Komma) ihn so zurückgewinnen zu können. Tarski erinnerte sich an die letzte Mail von Isaiah. Sie hatte verzweifelt geklungen, resignierend. Hatte er Selas Leichnam gefunden? Oder hatte Julia Graf ihm eine ganz andere Version erzählt? Warum hatte er ihm nie von Sela erzählt?
Tarski ließ Julia Graf allein zurück. Er rannte durch den Wald. Wieder wurde er das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Er tippte Nicoles Nummer in die Tastatur seines Handys. Sie antwortete nicht. Tarski jagte den DS über die kurvenreiche Straße zurück zum Hotel. Es war niemand da.[blue] Er hatte sich auf das Bett in seinem Zimmer gesetzt und gewartet[/blue] (Er setzte sich auf das Bett in seinem Zimmer und wartete).

Unmerklich hatte sich die Türklinke nach unten bewegt. Tarski zuckte zusammen. Seine Hand klammerte sich an den Griff einer Taschenlampe. Eine dunkle Gestalt erschien in der Türöffnung. Tarski schnellte nach oben. Die Gestalt bewegte sich auf ihn zu. Er holte aus und versetzte seinem Gegenüber einen Schlag[blue] mit der Taschenlampe[/blue] (überflüssig). In diesem Augenblick sah er in die Mündung einer Schusswaffe. Blitzschnell ging er zu Boden. Ein Schuss hallte durch das Zimmer. Durch die offene Tür rannte er auf den Flur. Es war stockfinster. Jemand hatte die Notbeleuchtung ausgeschaltet. Die Taschenlampe ging nicht mehr an. Tarski tastete sich zur Treppe. Der Unbekannte folgte ihm. Er stolperte die letzten Stufen hinab und stand vor der Hoteltür. Die Tür war verschlossen. Tarski lief in den Speiseraum.(Leerfeld fehlt)Doch es gab keinen Ausgang hier. Er öffnete das Fenster.
"Halt! Stehen bleiben oder ich puste dir deine neugierige Fresse weg!"
Mit einem Satz sprang Tarski auf die Fensterbank. Ein Schuss traf die Fensterscheibe, die splitternd zerbarst. Tarski rannte auf den DS zu. Die Wagentür war nicht verschlossen. Als er den Wagen starten wollte, sah er, dass jemand das Zündschloss heraus gebrochen hatte. Der Unbekannte ging mit erhobener Waffe auf ihn zu. Er hatte keine Eile mehr. Tarski stieg aus.
"So ist es gut, woll. "
In diesem Augenblick bog ein Fahrzeug auf den Hotelparkplatz.
"Was zum Teufel-"
Der Wagen raste auf sie zu. Tarski sprang hinter den DS, der andere stürzte fluchend auf den Asphalt. Der Wagen wendete und hielt abrupt neben ihm. Es war Nicole.
"Los, einsteigen!"
Er kletterte auf den Beifahrersitz und der Wagen fuhr an. Der Mann starrte Nicole an, als wäre sie ein Gespenst. Der Wagen bog schleudernd auf die Hauptstraße.
"Das war Graf", sagte Nicole tonlos. Der Wagen raste in die Nacht, Richtung Meschede.
"Woher wusstest du das? Wo fahren wir überhaupt hin?"
"Fort von hier. Du musst weg. Graf hat Isaiah umgebracht. Was willst du noch mehr wissen?"
"Eine ganze Menge. Und woher willst du das wissen?"
Nicole schwieg. Ihr Make up war zerlaufen. Aus ihren Augen rannen schwarze Tränen.
Sie waren noch nicht lange gefahren, als sich plötzlich von hinten ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit näherte. Er drängte sich hinter sie, das Fernlicht blendete auf und plötzlich rammte er sie.
"Er ist wahnsinnig!"
Nicole beschleunigte den Wagen. Plötzlich riss sie das Steuer herum und fuhr von der Straße ab geradewegs in einen Forstweg. Ihr Verfolger bremste, geriet ins Schleudern, drehte sich und krachte frontal in die Leitplanke. Rauch stieg aus dem Motorraum. Tarski rannte zur Straße hinab. Graf hing leblos auf dem Fahrersitz. Sein Gesicht war von Glassscherben aufgerissen. Er röchelte. Tarski wollte ihn aus dem Wagen ziehen. Plötzlich stand Nicole neben ihm und fasste ihn an der Schulter.
"Da läuft Benzin aus, verdammt", sagte er.
"Um so besser."
Sie zog ihn zurück, entzündete ein Papiertaschentuch und warf es unter den Wagen. Tarski wollte irgendetwas tun, aber er war wie gelähmt. Sie zog ihn weiter zurück, bis zu ihrem Auto. Grafs Wagen ging in Flammen auf.

Es war fast früher Morgen. Tarski und Nicole standen auf dem Bahnsteig in Siegen. Nicoles Kopf lehnte an seiner Schulter. Leise begann sie zu summen: I came out from the sky... Tarski erstarrte. Ihre grünen Augen verloren sich mit ihren Blicken in der Ferne.
"In der Nacht, in der Graf Isaiah umgebracht hat", begann sie mit leiser Stimme, "in der Nacht bin ich durch den Wald geirrt. Ich weiß nicht, wie lange ich da unten unter dem Abhang gelegen habe. Als ich den Weg hoch kam, hab ich ihn gesehen, wie er das Loch gegraben hat und Isaiah hab ich gesehen, wie er so friedlich im Gras lag, aber er war tot und es war zu spät, ich konnte nichts tun, ich konnte ihm nicht sagen, dass ich lebe, dass alles gut wird. (Absatz)Er musste zu Graf gefahren sein, nachdem ihm irgend jemand davon erzählt hatte. Ich habe nur ganz leise geweint und mich versteckt. Ich bin dann weggefahren. Ich habe einen Onkel in Köln. Er hat mir geholfen. Und dann bin ich wieder gekommen, unter anderem Namen, mit anderem Aussehen, alles anders. Ich habe mich erfunden, damit ich weiterleben kann. Ich wollte bei ihm sein, auch wenn er nicht mehr da ist. Ich habe keine Heimat mehr, aber soll ich deshalb auch keine Wünsche mehr haben? Ich bleibe hier, auch wenn ich nur ein Gespenst bin in diesem Haus. Aber so lange es etwas gibt, das mich an ihn erinnert, bleibe ich."
Der Zug fuhr ein. Er hielt.
"Das Gepäck hole ich. Ich schicke es dir nach."
Tarski nickte. Er war müde. Sela küsste ihn zärtlich auf die Lippen.
"Danke. Danke für alles", sagte sie. "Du musst jetzt gehen."
Die Türen des Zuges schlossen sich. Die Wagen ruckten an. Tarski lächelte.
"Ich bin zu alt, um immer davonzulaufen."
Er legte seinen Arm um sie.
"Ich bringe dich zurück in den Himmel (Leerfeld zuviel),(Leerfeld fehlt)dort hin, wo du hergekommen bist."

Ein sehr idyllischer Krimi.
Du verwendest die Namen zu oft. Das nervt. Tarski hat doch gewiss einen Vornamen, oder?
ich wollte dir auch in der Überschrift ein Koma einfügen, wo es hingehört, hat aber leider nicht geklappt.
lg
 

Cirias

Mitglied
Hallo flammarion,

herzlichen Dank für deine Korrekturvorschläge, die ich größtenteils bereits in den Text eingearbeitet habe. Bei einem Text solcher Länge ist man dankbar, wenn jemand der eigenen "Betriebsblindheit" auf die Sprünge hilft. Auch was die häufige Nutzung des Namens angeht, muss ich dir recht geben- fast die Hälfte an "Tarskis" habe ich nun entfernt.

Idyllisch finde ich den Text eigentlich nicht, aber vielleicht rührt dein Eindruck von den Landschaftsschilderungen her. Was die Überschrift angeht, so ist es nicht unüblich in den Überschriften ohne Komma zu arbeiten, vor allem wenn es sich um "Kann-Kommata" und keine "Muss-Kommata" handelt.
Ich fand deine Beobachtungen sehr genau und danke dir nochmals fürs Rüberschauen,

herzliche Grüße, Cirias
 

Montgelas

Mitglied
lieber cirias,

ich bin ja hier in prosa der azubi,
mir hat der "roman im krimi" gerade gefallen !

alle gute

montgelas
 

Cirias

Mitglied
Lieber montgelas,

"der Roman im Krimi"- das halte ich für eine gelungene Formulierung, denn ein wenig in die Richtung war der Text auch gedacht, wenn dann auch zwangsläufig gewisse Elemente im Widerspruch zum Genre des Krimis stehen. Freut mich um so mehr, dass dir die Story gefallen hat...
herzliche Grüße, Cirias
 



 
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