Das Männchen aus dem Kleiderschrank

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Pasta

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I.

Der Mond scheint durchs Fenster und taucht alles in silber-graues Licht. Irgendetwas hat mich geweckt. Ein Geräusch. Ein leises Huschen. Vielleicht die Katze, denke ich und setze mich im Bett auf, um nach ihr Ausschau zu halten. Keine Katze zu sehen. Da! Da war es wieder, dieses Geräusch. Ein Huschen, ein Scharren, ein... Aber das kann doch nicht sein! Ich halte den Atem an und lausche angestrengt in die Nacht hinein. Jetzt höre ich es ganz deutlich: Jemand weint! Jemand weint und schluchzt, und zwar in meinem Kleiderschrank, dessen eine Tür ein klein wenig offen steht. Aber das ist doch lächerlich! Träum ich oder spinn ich, frag ich mich, aber dann höre ich das Schluchzen wieder. Mit klopfendem Herzen und auf leisen Sohlen schleiche ich mich zum Kleiderschrank und öffne ganz vorsichtig die Tür. Mit den Augen taste ich alle Hosen, Blusen und Röcke ab, knie mich schließlich auf den Boden und spähe in den Kleiderschrank hinein und da! Gerade als ich schon aufgeben will, sehe ich, ja, was sehe ich eigentlich? Ich sehe ein kleines Männchen mit roter Mütze, das in einer Ecke meines Kleiderschranks kauert und mich aus großen, ängstlichen und verweinten Augen anschaut.

Ich kneif meine Augen ganz fest zusammen, weil ich nicht glauben kann, was ich sehe. Aber als ich sie wieder aufmache, sitzt der kleine Mann, kaum größer als eine Spanne, immer noch dort und sieht mich an.
Schließlich frage ich: "Was machst du in meinem Kleiderschrank? Und wer bist du?" "Aber kennst du mich denn nicht mehr?" fragt das kleine Männchen erschrocken zurück. "Nein", antworte ich zögerlich. Irgendeine Erinnerung will sich bemerkbar machen, aber mein Verstand lässt sie nicht. Das kleine Männchen seufzt und sagt: "Aber du musst dich an mich erinnern, sonst sind wir alle verloren."
"Wer ist verloren? Und warum?"
"Wir sind Geschöpfe der Nacht, aber Finsternis bringen wir nicht. Wir sind das Leben, aber doch nicht aus Fleisch und Blut. Wir sterben, wenn die Erinnerung stirbt."

II.

In dieser Nacht war an Schlaf nicht mehr zu denken. Nach den letzten Worten ist er einfach aufgesprungen und im Sauseschritt in der Dunkelheit verschwunden. Mich hat er einfach dort vorm Kleiderschrank sitzen lassen. Irgendwann, als meine Beine schon ganz taub und eingeschlafen waren, bin ich schließlich wieder ins Bett gekrochen, habe mich bis zum Morgengrauen von links nach rechts gewälzt und war froh, als endlich Zeit zum Aufstehen war. Der Tag im Büro war erwartungsgemäß gräßlich. Ich war hundemüde und unkonzentriert, aber auch der schrecklichste Tag nimmt einmal ein Ende. Kaum zu Hause, plumpse ich auf die Couch und bin im Nu eingeschlafen. Ich werde wach, weil mich etwas an der Nase juckt. Als ich die Augen aufmache, blicke ich direkt in das vorwitzige Gesicht des kleinen Männchens aus meinem Kleiderschrank, der gerade dabei ist, mir in die Nase zu zwicken.
"Aua! Hör auf damit, du tust mir weh!" motze ich den kleinen Kerl an.
"Weißt du endlich, wer ich bin?"
"Nee, is‘ mir auch egal, ich will schlafen!"
"Schlafen!" empört er sich. "Jetzt ist keine Zeit zu schlafen! Du musst dich jetzt erinnern!"
"Warum muss ich das?" versuche ich Zeit zu schinden.
"Aber das hab ich dir doch gestern schon erklärt." Er wird ungeduldig. "Wir sterben, wenn die Erinnerung stirbt."
"Du bist doch gar nicht real. Meine Phantasie spielt mir einen Streich, ich werde wahnsinnig oder irgendjemand hat mich unter Drogen gesetzt. Ich geh jetzt in mein Bett!"
Das kleine Männchen wird eine Nuance blasser, irgendwie durchsichtig, und ruft verzweifelt: "Aber früher hast du an uns geglaubt! Früher waren wir deine besten Freunde und jetzt willst du uns nicht mehr kennen!" Wir starren uns an und nach einer Pause fährt er, etwas ruhiger jetzt, fort: "Also gut, einen Tipp geb ich dir, aber mehr kann ich nicht tun."
"Morgen ist Vollmond. Genau um 3 Uhr 33 wird das sanfte Licht des Mondes auf eine ganz bestimmte Stelle im Wohnzimmer treffen. Dort findest du die Antwort."
3 Uhr 33, nicht Mitternacht, wollte ich noch spöttisch zurückfragen, aber da war er schon wieder verschwunden.

III.

3 Uhr 30. Ich kann es nicht glauben, dass ich hier stehe und darauf warte, dass der Mond in drei Minuten irgendeine bestimmte Stelle erhellen soll, wie es mir ein ominöser kleiner Wicht zugeflüstert hat. Die Zeit will nicht vergehen, aber endlich ist es soweit. Welche Stelle ist jetzt heller als vorher? Ich sehe mich um und gehe schließlich zum Bücherregal. Ich finde es zwar absolut unglaubwürdig, aber irgendwie scheint es, als ob Grimms Märchenbuch besonders hell leuchten würde. Ich ziehe das Buch aus dem Regal und schlage es auf. Ein Strudel erfasst mich und ein paar Sekunden später lande ich etwas unsanft auf einer Blumenwiese. Verwirrt sehe ich mich um und finde mich umgeben von neugierigen Blicken, aufgeregtem Flüstern und Tuscheln und – Rotkäppchen! Da kommt doch tatsächlich Rotkäppchen auf mich zu und will mich offensichtlich begrüßen und alle anderen – ich erkenne Schneewittchen und die 7 Zwerge, Aschenputtel, Schneeweißchen und Rosenrot – schauen zu.
"Schön, dass du den Weg zu uns zurück gefunden hast", sagt Rotkäppchen. "Aber damit ist deine Aufgabe noch nicht erfüllt. Du musst jetzt deine Freunde retten."
"Meine Freunde? Welche Freunde? Wovor soll ich sie retten und wo finde ich sie?"
"Die Antwort darauf findest du in dir selbst", sagt Rotkäppchen und lässt mich stehen. Alle anderen sind auch verschwunden. Ich zucke mit den Schultern und gehe einfach drauf los.

IV.

Ich bin schon ziemlich lange unterwegs, da kommt mir ein riesiges, knallgrünes Etwas entgegen. Ich traue meinen Augen nicht! Es ist Elliot! Elliot, das Schmunzelmonster. Aber das kann doch gar nicht sein, was macht der denn hier? "Elliot!" rufe ich und komme mir im selben Augenblick ziemlich idiotisch vor, aber Elliot strahlt mich an und ruft: "Huhu! Ich bin gleich bei dir!" Schon schwingt er sich in die Lüfte und kaum geflogen, landet er ungewöhnlich sanft für seine Masse direkt vor meinen Füßen. "Elliot!" rufe ich noch einmal wie ein Idiot. Und weiter: "Was machst du denn hier im Märchenland bei den Brüdern Grimm?"
"Wieso Märchenland?" fragt Elliot zurück. "Das hier ist nicht das Märchenland. Wie kommst du denn darauf?"
"Ja weil doch hier Rotkäppchen, Aschenputtel, Schneewittchen und all die anderen sind!"
Elliot neigt den Kopf etwas zur Seite und blinzelt mich an. "Aber das Märchenland ist hier nicht", wiederholt er.
"Wo bin ich denn dann?"
"Das musst du selbst herausfinden, aber ich kann dich ein Stück begleiten. Du kannst auf meinen Rücken klettern und dann fliegen wir zusammen."
"Wow! Davon habe ich als Kind immer geträumt!" Elliot schmunzelt vergnügt vor sich hin, während ich auf seinen Rücken kletter. Und los geht’s! Wir fliegen über Wiesen und Felder, Flüsse und Seen, wir sehen Berge und das Meer und schließlich, als es schon abend geworden ist, landen wir auf einer kleinen Insel. Ich kuschel mich ganz nah an Elliot und schlafe auf der Stelle ein.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist Elliot verschwunden. Ich rufe ganz laut und suche die Bucht ab, aber kein Elliot zu sehen! Etwas missmutig und enttäuscht mache ich mich auf den Weg. Nach einer Weile stehe ich zwei braunen Pferden gegenüber, die vor eine prachtvolle Kutsche gespannt sind. Irgendetwas an diesen Pferden kommt mir bekannt vor und ich gehe langsam näher. Die Pferde kommen mir auch sofort entgegen und ich streichel sie. Ganz sanft und doch bestimmt stupsen sie mich immer wieder an und scheinen mir bedeuten zu wollen, dass ich in die Kutsche steigen soll. Kaum habe ich Platz genommen, traben die Pferde los. Über Stock und Stein laufen die Pferde Galopp und halten erst wieder, als vor uns im Wald eine Lichtung zu erkennen ist. Ich steige aus und gehe auf die Lichtung zu, doch was ich dort sehe, habe ich nicht erwartet. Trolle, Märchengestalten, Fabelwesen und andere phantastische Gestalten liegen dort im Gras, kauern im Moos, hocken auf Ästen und Zweigen. Nur ein leises, sonores Wimmern ist zu vernehmen, das ab und zu zu einem Chor an Stimmen, die stöhnen, anzuschwellen scheint. Wie angewurzelt bleibe ich stehen und rühre mich nicht vom Fleck, doch je länger ich dort stehen bleibe, desto deutlicher scheint der Chor zu mir zu sprechen: "Wir sterben, wenn die Erinnerung stirbt. Du darfst uns nicht vergessen. Wir sterben, wenn die Erinnerung stirbt. Du kannst uns das Leben schenken. Wir sterben, wenn die Erinnerung stirbt. Du darfst uns nicht vergessen..."

Nun entdecke ich auch das Männchen aus meinem Kleiderschrank wieder. Auf zittrigen Beinen kommt es auf mich zu. Noch blasser ist der kleine Kerl geworden! Ganz grau sieht er aus, bald ist er im Sonnenschein gar nicht mehr zu erkennen. "Du hast also den Weg zu uns gefunden. Jetzt musst du nur noch den letzten Schritt tun und wir sind gerettet!"
Den letzten Schritt tun? Ich bin verunsichert, verängstigt und weiß gar nicht, was ich tun soll. Ich bin den Tränen nahe, denn all die Wesen dort in der Lichtung liegen offensichtlich im Sterben! Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, soll es an mir liegen, sie zu retten, dabei weiß ich überhaupt nicht wie! Mit Tränen in den Augen renne ich einfach weg, wieder in den Wald hinein.

Ich weiß nicht, wie lange ich im Wald umhergeirrt bin, es mögen wohl mehrere Tage und Nächte gewesen sein, in denen ich weder aß noch trank, nur wenig schlief und es dauerte nicht lang, bis ich völlig verwildert aussehe. Schließlich gelange ich an ein kleines Häuschen. Es sieht aus wie ein Riesenbonbon – Ganz rosa mit Verzierungen weiß wie Zuckerwatte! Ich klopfe vorsichtig an und sofort wird mir von einer alten, weißhaarigen Frau geöffnet. "Komm rein, Kind, und ruh dich aus", werde ich freundlich empfangen. "Essen und Trinken steht schon bereit." Sieht aus, als ob ich erwartet worden wäre!
Stumm setze ich mich, erschöpft von den letzten Tagen. Die alte Frau nickt mir auffordernd zu und ich nehme mir vom Brot und vom Obst und vom Saft. "Das ist der süßeste, leckerste Saft, den ich je getrunken habe!" Die alte Frau lächelt mir wissend zu. Jetzt erst merke ich wie hungrig ich bin! "Ich zeig dir jetzt, wo du dich waschen kannst und wo dein Bett steht", sagt die alte Frau, kaum dass ich aufgegessen habe. Im Badezimmer steht ein altmodischer Badezuber, aber das Wasser ist angenehm warm, frische Wäsche liegt auch bereit. Das Bett – So muss Frau Holle geschlafen haben, denke ich und falle sofort in Schlaf. Anders aber als in den Nächten davor träume ich. Ich sehe alle Figuren und Fabelwesen der Lichtung vor mir, aber jetzt sind sie ganz lebendig, bunt und tollen auf der Wiese herum. Ich seh auch mich selbst wie ich als kleines Mädchen mit all den phantastischen Kreaturen spiele – und da sind ja auch meine beiden braunen Pferde! Ich flüstere ihnen etwas ins Ohr und sofort galoppieren sie davon. Neben mir läuft das Männchen aus dem Kleiderschrank und ist offensichtlich in einen Streit mit einem Raben, der um uns herum flattert, vertieft. Ein Elefant posiert so grazil wie es ihm nur möglich ist vor einem Fotografen und jetzt weiß ich ganz genau, wer dieser Elefant ist! Den Elefanten hat es nie wirklich gegeben außer in meiner Phantasie, aber dort hat er mir jeden Abend vor dem Einschlafen Gesellschaft geleistet mit seinen lustigen Geschichten und Abenteuern, mit denen er alle bösen Träume vertreiben wollte. Auch das Männchen und der Rabe waren ständige Begleiter in meiner Kindheit. Die beiden haben sich immer nur gestritten, jetzt fällt’s mir wieder ein! Und die beiden Pferde, die hab ich immer dann losgeschickt, wenn ich Heimweh hatte und schnell einen Gruß nach Hause schicken wollte.


V

"Na, schon so früh auf den Beinen?" fragt die alte Dame verschmitzt. "Ich muss unbedingt los, zur Lichtung! Ich muss alle Märchenfiguren, Trolle und Fabelwesen retten und nicht zuletzt meine eigenen Phantasiegeschöpfe!" Die alte Frau lacht. "Ja, aber nicht ohne mein Frühstück und nicht ohne ausreichend Proviant!"

Kurze Zeit später ziehe ich bepackt mit tausend guten Sachen los. Wie ich wieder zur Lichtung gelange, weiß ich jetzt genau. Es ist ja so einfach! Einfach der Nase nach, hat die alte Frau gesagt. Und tatsächlich, schon bald habe ich die Lichtung erreicht. Meine Freunde erwarten mich schon, sie sehen immer noch ganz blass aus, aber sie sind voller Hoffnung. Ich gebe jedem von dem guten Essen, von dem fabelhaften Saft und erzähle ihnen immer wieder und die ganze Nacht hindurch alle Geschichten, bekannte und unbekannte, selbst erdachte und alt überlieferte, die mir einfallen bis mir vor Erschöpfung gegen Morgengrauen die Augen zufallen.

Gegen Mittag werde ich von einem Tumult, von Musik und Gesang, geweckt. Meine Freunde sind alle wieder genesen und veranstalten einen Riesenspektakel. "He, was is’n das fürn Lärm?" empöre ich mich, aber eigentlich meine ich’s gar nicht so. Dann feiern wir alle zusammen und jeder versucht den anderen, mit noch besseren, noch phantastischeren, noch ausgefalleneren Geschichten zu übertrumpfen. Schließlich wird es Nacht und die muntere Gesellschaft kommt langsam zur Ruhe. Ich lege mich ins weiche Moos und träume süße Träume.

Am nächsten Morgen wache ich wieder in meinem Bett auf. Zuerst bin ich verwirrt und weiß gar nicht, wo ich bin. Doch dann erinnere ich mich an alles, an meine lange Reise und an meine Freunde. Ich werde etwas traurig, weil ich mich nun gar nicht verabschieden konnte, aber was! Ein Abschied ist ja auch gar nicht nötig gewesen, weil sie nun immer bei mir sind.
 

Antaris

Mitglied
Zwerg

Hi Pasta,

grundsätzlich ist das eine sehr schön erzählte Geschichte, und natürlich auch wunderbar für Kinder. Falls Du das als eine reine Kindergeschichte (für Kinder, die schon selbst lesen) nehmen willst würde ich aber versuchen, sprachlich ein bisschen abzuspecken, und konsequenter am Handlungsstrang entlang zu erzählen - ist nur ein Vorschlag. Mit ein paar schönen Illustrationen könnte ich mir die Geschichte sehr gut gedruckt vorstellen.

Mit feurigen Grüßen

Antaris
 

Pasta

Mitglied
Hallo Antaris!

Danke für deine ehrliche Kritik!

Nur zwei Fragen habe ich noch, bevor du in den wohlverdienten Urlaub fährst, wie ich an anderer Stelle las :)

Und zwar:

"sprachlich abspecken" heißt: Kürzer fassen, weniger schreiben oder die Wortwahl vereinfachen? Oder beides?

"konsequenter am Handlungsstrang entlang erzählen": Wo "verrenne" ich mich deiner Meinung nach und schweife zu sehr ab?

Werde mal angestrengt über einen neuen Titel für deinen "Heldentod" nachdenken, versprochen! :)

Falls wir nichts mehr voneinander hören bzw. lesen wünsche ich dir schon mal einen schönen Urlaub!

Pasta
 



 
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