Das Märchen vom Vogel, der Farben singen konnte

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Ellinor

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Vom Vogel, der Farben singen konnte

Es war einmal eine Frau, die nur so zum Vergnügen lauter farbenfrohe Bilder malte.

Eines Tages malte sie einen wunderschönen bunten Vogel, und beim Betrachten des fertigen Bildes bemerkte sie, dass es ein Vogel war, der Farben singen konnte. Es tat ihr leid, dass dieser Wundervogel nur auf dem Papier existieren sollte. Sie wollte, dass es Wirklichkeit wurde, und so erfand sie für ihn eine Geschichte, und diese Geschichte ging so:

Einst in einem großen Walde lebten noch alle Tiere friedlich beisammen und konnten sich untereinander verständigen. In jedem Frühjahr heirateten alle erwachsenen Tiere des Waldes, unter anderem auch die Vögel.
In dem Wald lebten auch ein Nachtigallenmann und eine Nachtigallenfrau. Beide sangen sehr schön, und ihr Gesang war bei Mensch und Tier beliebt. Sie verliebten sich ineinander und hielten im Frühjahr Hochzeit.
Anfang Sommer war es dann soweit, dass fünf Nachtigallenkinder das Licht der Welt erblickten und mit stürmischem Geschrei die Eltern begrüßten.
Eines von den fünfen aber sagte keinen Ton. Zwar machte es den Schnabel auf, aber kein Laut wollte herauskommen. Den kleinen, wolkenförmigen, zartrosa Farbtupfer, der aus der Kehle des Vogelbabys schwebte, hatte niemand bemerkt. Dabei hatte es die Eltern genauso begrüßen wollen wie die anderen, nur in Form von Farbe, denn es konnte Farben singen.
Die Eltern waren traurig, weil sie glaubten, ihr Kind sei stumm. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie merkten, dass ihr Kind Farben singen konnte. Von da an nannten sie es Farbensänger.
Den Eltern und Geschwistern war der kleine Vogel unheimlich, weil sie nicht in der Lage waren, die Farbensprache des Kleinen zu verstehen. Außerdem war ihnen rätselhaft, dass Farbensänger leuchtend bunt aussah, während seine Eltern und Geschwister ein braunes Gefieder trugen. Deshalb zogen sie sich von ihm zurück.
Farbensänger war darüber sehr traurig, denn er wollte genauso geliebt werden wie seine Geschwister. So hatte der kleine Vogel eine recht unglückliche Kindheit.
Mit der Zeit wurden die Vogelkinder größer und somit flügge. Bei der ersten Gelegenheit zog Farbensänger von zu Hause aus und baute sich ein eigenes Nest in einer alten Baumhöhle im Wald.
Die Tiere des Waldes wunderten sich über das kleine, bunte Vögelchen, das keinen Ton sang, aber die schönsten Farben zum Himmel schickte, die man hören konnte.

Die Waldbewohner aber waren nicht in der Lage, die Farben zu hören. Sie konnten sie zwar sehen, aber nicht begreifen. Sie glaubten, dass Farbensänger Zauberkräfte besaß. Das war ihnen unheimlich und sie hatten Angst, dass er sie und den Wald verzaubern würde. Sie konnten nicht wissen, dass Farbensänger die Sprache der Farben gebrauchte und dass diese die verschiedenartigsten Gefühle bedeuteten.
So standen zum Beispiel sämtliche Rot-Töne bis zum zarten Rosa für Lieben und Geliebt werden. Blau bis hin zum Türkis standen für Fliegen, Wandlung, Kühle und Denken.
Gelb bis hin zum Orange standen für Geborgenheit und Wärme. Violett bedeutete Energie, Geheimnis und den Zauber dieser Welt.
Wenn Farbensänger violette Wölkchen sang, wollte er damit sagen, dass er von den Schönheiten dieser Welt verzaubert war. Grüne Farben bedeuteten für ihn das Leben. Alle Farben, die er sang, waren zart und nebelhaft, aber von erstaunlicher Klarheit.
Wenn Farbensänger traurig war, sang er überhaupt nicht mehr, sein Gefieder verblasste und verlor den farbigen Glanz.

Die Tiere des Waldes beschlossen, ihn zu vertreiben. So geschah es, dass er keine Farben mehr sang und sein leuchtendes Gefieder verblasste.
Nachdem ihn die anderen Tiere verjagt hatten, lebte er versteckt in einer Felsenhöhe in der Nähe seiner ehemaligen Heimat. Er fühlte sich einsam und allein, weil niemand seine Sprache verstand, und weil niemand ihn liebte.
Die Frau, welche die Geschichte für den farbensingenden Vogel erdacht hatte, wusste genau, wie es ihm erging. Sie suchte fieberhaft nach einer Lösung.
Oft sah sie sich den Vogel auf ihrem Bilde an und bemerkte, dass er immer unscheinbarer wurde.
Sie wusste, dass er sterben würde, wenn ihr keine Lösung einfiel. Sie weinte um ihn und konnte nachts nicht schlafen.
Alle ihre Bilder, die sie malte, gefielen ihr nicht mehr. Sie wurde vor Trauer ganz blass und dünn, denn der farbensingende Vogel war ein Teil von ihr.
Plötzlich aber hatte sie eine Idee. Sie malte einen bunten Wald mit lauter farbensingenden Geschöpfen um den kleinen Vogel herum, und die Geschichte ging weiter.

Eines Morgens, als der Farbensänger aus seiner Felsenhöhle flog, um Nahrung zu suchen, stand zu seiner Überraschung ein bunter Baum davor, dessen Stamm einen tiefblauen Glockenton erklingen ließ. Das Laub des Baumes erklang in den leuchtendsten Farben, die Farbensänger je gehört hatte und die er nur allzu gut verstand. Er flog auf den Baum und ein kräftiges Violett entschwebte seinem Schnabel, so verzaubert war er.

Vor seinen Augen wuchs nun rundherum ein Wald, der in allen Farben erklang. Vor lauter Erstaunen schickte Farbensänger alle Farben, die er singen konnte, zum Himmel. Er sah auch Tiere und Menschen entstehen, die genau so bunt waren wie er und die gleiche, farbige Sprache sprechen konnten.

Da wurde ihm ganz leicht ums Herz, und er war so glücklich, dass er wieder ganz bunt und leuchtend wurde. Zwar konnte er den Zauber nicht verstehen, aber das war ihm egal. Er suchte sich eine farbensingende Frau und lebte glücklich mit ihr bis ans Ende der Zeit.

Die Frau, welche den farbensingenden Vogel erschaffen hatte, wollte nicht in der Welt, in der sie normalerweise lebte, bleiben. Sie trat vor ihr Bild, betrachtete es lange und ging dann in das Bild hinein.

Seitdem hat sie niemand mehr gesehen.
 
M

Melusine

Gast
Hallo Ellinor,
eine wundervolle Geschichte voll Fantasie, Herz und Tiefgang.

Den letzten Absatz würde ich an deiner Stelle eventuell weglassen; ich glaube man kann sich das denken, außerdem klingt es für mich ein bisschen trocken ...
("Man kann sich das denken" bezieht sich auf Erwachsene. Mit Kindern als Publikum habe ich keinerlei Erfahrung.)

Liebe Grüße,
Mel
 

Ellinor

Mitglied
Antwort auf Kommentar von Melusine

Hallo Mel
Vielen Dank für Deinen positiven Kommentar. Du hast recht, der letzte Absatz erüberigt sich eigentlich. Danke für Deinen Tipp. Habe es schon verändert.
 
S

SilverSephiroth

Gast
Hallo Ellinor,

eine schöne Geschichte muss ich schon sagen, für Kinder super geeignet würde ich sagen, aber für die etwas älteren würde ich die geschichte vielleicht noch ein bisschen ausbauen.
Mal jetz nur zum Beispiel diese stelle:

Zwar konnte er den Zauber nicht verstehen, aber das war ihm egal. Er suchte sich eine farbensingende Frau und lebte glücklich mit ihr bis ans Ende der Zeit.

Klingt ein bisschen zu abgedroschen find ich. Ich würde es nochmal überarbeiten und vll ein paar Sätze noch hinzufügen, dann wäre des richtig gut.

aber auf die idee mit dem Farbensingen muss man erstmal kommen. Respekt.

lg Silver
 

Ellinor

Mitglied
Antwort an Silver Sephiroth

Hallo Silver
Vielen Dank für Deine positive Kritik. Ich werde darüber nachdenken und die Geschichte nochmal genau unter die Lupe nehmen. Vielleicht bin ich etwas zu altmodisch. Ich gelobe Besserung.
 



 
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