Das Märchen vom verdrossenen Peter

Ariadne

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Das Märchen vom verdrossenen Peter

Es war einmal ein Junge namens Peter, der war die Welt leid.
Er stand am Hafen, blickte hinunter ins Wasser und war von dem Spiegelbild, dass dort zwischen den Wellen auf und ab tanzte, enttäuscht. Warum hielt er nicht einen Pokal für irgendwelche besonderen Verdienste in der einen und eine hübsche Frau in der anderen Hand? Warum war er nicht mit Lebensglück bestäubt, wie mit goldenem Puder? Warum glänzte nicht ein schwarzes Auto als Zeichen seines Erfolgs hinter ihm? Wieso sah er stattdessen ein pickliges Gesicht mit einer langweiligen Brille und einen Körper, der nicht annähernd einen sportlichen Frauenschwarm in Peters Haut vermuten ließ? Warum musste er sich jetzt nach dem Abi für irgendein blödes Studienfach entscheiden, das ihm sowieso nur ein Leben voller Arbeit sichern würde? Wieso war seine Freundin mit dem hirnlosen, aber dafür muskelbepackten Maurer durchgebrannt? Weshalb war die ganze Welt nur so verdammt ungerecht zum armen Peter, der doch selbst nie ungerecht gewesen war, höchstens ein bisschen in der Pubertät, aus der er natürlich längst raus war- auch wenn seine Verwandten da anderer Meinung waren.
Peter dachte darüber nach, was er jetzt tun sollte. Er könnte eine neue Freundin suchen, aber heiß begehrt war er ja nicht gerade und außerdem wäre es doch nur eine Sache der Zeit, bis sie ihn betrügen würde. Er könnte sich einen Job suchen und begeistert alle Studienfächer begutachten, um seinen Zukunftsberuf herauszufinden. Aber auf Arbeiten hatte Peter eigentlich keine Lust. Jedenfalls nicht auf die, die ein unqualifizierter Abiturient wie er leisten konnte, sprich: Abwaschen, schwere Dinge durch die Gegend schleppen, Zeitungen austeilen oder kleinen, nervenden Kindern Nachhilfe geben. Und der Gedanke an einen Beruf bereitete ihm nur Kopfschmerzen. Er hatte seiner Freundin versprochen, ihr zuliebe BWL zu studieren und Manager zu werden. Seine miserablen Mathekenntnisse hatte er gut vor ihr verbergen können. Aber jetzt, da er alleine für sich entscheiden musste, wurde ihm übel. Mathe konnte er nicht und auch Medizin und Jura waren ihm zu stressig, Von anderen Menschen hatte er erst mal die Schnauze voll- also weder Lehrer noch was Soziales. Freie Kunst, das würde ihn reizen. Aber wie seine Mutter immer wieder sagte: „Damit kannst du nun auch keinen Blumentopf gewinnen!“ Scheißsatz, aber sie hatte sicher Recht. Entweder er arbeitete hart und ständig und könnte dann die Früchte seines Erfolges gar nicht genießen oder er ließ das Arbeiten und wurde armer Schlucker, der sich nicht mal eine Kinokarte leisten konnte, geschweige denn ein Auto oder eine eigene Wohnung.
Das Leben war scheiße! Entnervt dachte Peter über seine Möglichkeiten nach und kam zum einzigen sinnvollen Schluss: Sein Leben sollte so schnell wie möglich aufhören.
Aber wie sollte er das anstellen? Irgendwie sollten die anderen das ja schon gebührend mitkriegen. Vielleicht würden sie dann post mortem eine Biographie über ihn schreiben. Ja, er wollte noch ein wenig Bewunderung einheimsen.
Da kam ihm die Lösung: Verhungern! Er würde einfach immer weniger essen bis er ganz damit aufhörte. Dann würde er wenigstens mit einer Topfigur beerdigt werden und ein paar Mädels fänden ihn vielleicht so sexy, dass er vor seinem Tod noch ein oder zwei One-Night-Stands haben könnte. Peter machte sich begeistert ans Werk.
An diesem Abend ließ er das Abendessen ausfallen und am nächsten Morgen das Frühstück. Mittags hing ihm dann der Magen in den Kniekehlen. Seine Mutter hatte Fleisch, Kartoffeln und Rotkohl gemacht. Peter nahm eine kleine Kartoffel und ein paar Löffel Rotkohl und zankte sich dann eine Weile mit seiner Mutter. Nach dem Essen ging er dann nach draußen und joggte ein paar Runden. Am Abend beruhigte er seinen knurrenden Magen mit Kaugummi und eiskaltem Wasser und machte Liegestütze auf dem Fußboden. Nachts bekam er so schlimme Bauchkrämpfe, dass er zum Kühlschrank kroch und wahllos Essen in sich reinstopfte. Als er dann wieder im Bett lag, war er völlig fertig. So konnte er ganz bestimmt nicht verhungern! Er würde ein widerlicher und vor allem lebendiger Fettsack bleiben.
Peter beschloss, davon zu reisen und irgendwie woanders herauszufinden, wie er seinem Leben ein würdiges Ende setzen könnte.
Als erstes fuhr er nach Afrika und sah ein paar kleine Kinder mit ihren Eltern am Straßenrand liegen. Sie waren ganz ausgehungert, ihre Rippen stachen heraus und ihre Gesichter waren eingefallen.
„Die können sich glücklich schätzen!“ sagte Peter, „diese Afrikaner haben es viel leichter als ich. Hier gibt es ja gar keine Versuchungen, wie unseren Kühlschrank, denen sie erliegen können. Wär ich doch nur als Afrikaner geboren worden!“
Peter ging genervt weiter und kam in eine große Stadt. Eine Autobahn führte in das Innere der riesigen Skyline. Wäre es nicht toll, sich vor die Autos zu schmeißen? Natürlich würden ihn die anderen nicht mehr leiden sehen, aber immerhin gäbe es einen riesigen Zeitungsartikel und vielleicht würden dann alle nach Gründen für seinen Suizid suchen. Peter liebäugelte weiterhin mit einer Biographie.
Er marschierte schnurstracks zur Autobahn und lief, ohne auch nur einen Seitenblick zu riskieren, mitten auf die Fahrbahn. Das Quietschen von überanstrengten Bremsen drang in Peters Ohren. Der Kleinwagen rammte ihn und schleuderte ihn ein paar Meter weiter auf die Fahrbahn. Er klatsche auf und seine Knochen knackten. Puuh, das tat ganz schön weh. Er wurde sofort von tiefer Schwärze umfangen. Nach einer Weile fiel ihm allerdings auf, dass das nur daher kam, dass er die Augen zu hatte. Er blinzelte. Verdammt, er lag immer noch auf der Fahrbahn und war quicklebendig. In seinen Ohren dröhnten schon die Sirenen von irgendeinem vermaledeiten Krankenwagen.
Wütend starrte er auf ein großes Plakat von einer Verkehrssicherheitskampagne. Darauf strahlten die schwarzweißen Gesichter einer Gruppe junger Menschen und rechts von ihnen befand sich ein schlichtes Kreuz neben einem Todesdatum.
„Die können sich glücklich schätzen“, dachte Peter, „diese Jugendlichen haben es viel leichter als ich. Immerhin haben sie es schon hinter sich und sie sind auf diesen riesigen Plakaten veröffentlicht worden. Wäre ich doch als einer von ihnen geboren!“
Kurz darauf wurde er von weißbekittelten Männern auf eine Trage gehievt und der Krankenwagen brauste mit ihm im Bauch ins nahe gelegene Krankenhaus. Dort hatten sie allerdings keinen Platz mehr.
„Ich würde gerne nach China in die Klinik“, bat Peter und der Hubschrauber flog ihn daraufhin in ein Krankenhaus in Shanghai.
Peter kam auf eine Station mit ein paar Chinesen seines Alters. Sie litten ausnahmslos an AIDS, wie sie ihm kläglich mitteilten. Sie gaben schon wirklich ein Bild des Elends ab, das konnte Peter nicht bestreiten. Ganz dünn und eingefallen, teilweise mit Ekel erregendem Hautausschlag oder irgendwelchen Geschwüren.
Peter war entzückt: Er wollte auch AIDS kriegen und zwar möglichst schnell. Sein Leidensweg würde eine großartige Biographie abgeben und seine Familie und Mitmenschen nachdenklich stimmen. Mit Unschuldsmiene fragte er seine Mitpatienten, wie sie sich denn angesteckt hätten. Die ausnahmslose Antwort lautete: „Durch Blutspenden.“
Peter war begeistert. Wann immer er konnte, fummelte er an der Platzwunde auf seiner Stirn rum, damit diese sich ja nicht schließen konnte. Dann klagte er: „Liebe Krankenschwester, ich fühle mich ja so schwach! Ich glaube, ich brauche eine Blutspende.“
Die beäugte ihn besorgt und am nächsten Tag bekam Peter seine Spritze. Seine Mitpatienten starrten panisch in seine Richtung und schüttelten energisch die Köpfe, doch Peter ließ sich ruhig stechen.
Bei der nächsten Untersuchung bestand Peter darauf, auf HIV getestet zu werden. Der Doktor überbrachte ihm die traurige Nachricht: „Lieber Junge, du bist HIV positiv.“
Innerlich rieb sich Peter die Hände, äußerlich tat er bestürzt. „Wie lange werde ich noch leben?“ fragte er mit zitternder Stimme.
„Mein armer Junge. Ich kann es nicht sagen. Wenn du Glück hast, sehr lange. Wahrscheinlich wird das AIDS aber in ungefähr zehn Jahren ausbrechen“, antwortete der Doktor.
Die Zahl dröhnte in Peters Kopf. Zehn Jahre??? Solange konnte er nicht warten! Wütend verließ er das Krankenhaus. Er kam auf seinem Weg an seinen Zimmernachbarn vorbei und dachte bei sich: „Die können sich glücklich schätzen! Diese chinesischen AIDS-Kranken haben es viel leichter als ich. Bei denen ist die Krankheit längst ausgebrochen. Wäre ich doch als Chinese geboren!“
Peter dachte darüber nach, was er nun tun könnte. Da hellte sich sein Gesicht auf. Er könnte doch in den Krieg gehen- natürlich nicht als Soldat, denn sinnloser Gehorsam, übertriebene Disziplin und anstrengende Tagesabläufe waren ihm zuwider. Aber er könnte sich ja als Zivilist in irgendein umkämpftes Dorf begeben und seinen Tod für YouTube aufzeichnen. Voller Eifer reiste Peter nach Afghanistan. Vergnügt schlenderte er in ein zerbombtes Dorf. Die Häuser waren zerstört, die Straßen mit Schutt übersäht und viele Menschen hockten obdachlos und heruntergekommen an den Wegesrändern. Eine Sirene ertönte plötzlich von Ferne und ein Flugzeug ließ eine Bombe herabfallen. Sie traf weit entfernt von Peter auf und setzte ein Haus in Brand. Den Lauten nach zu urteilen, verbrannte gerade eine Familie in den Trümmern. Auf Verbrennen hatte Peter eigentlich nicht so viel Bock, da würde ja niemand im Nachhinein wissen, dass er es war. Aber er war ja draußen, kein brennendes Haus in seiner Nähe.
Auf einmal brüllte ein Soldat: „Hey, Junge! Was machst du hier? Komm zu uns.“
Peter war entsetzt. Er hätte sich vorher ein bisschen arabisch stylen müssen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als der gebieterischen Stimme zu folgen und auf die Ladefläche eines schützenden Trucks zu springen, der eilig davon brauste. Auf seinem Weg kam er an den verkohlten Leichen der afghanischen Familie vorbei.
„Die können sich glücklich schätzen“, brummte Peter. „Die haben es viel leichter als ich. Immerhin werden die nicht von bescheuerten Bundeswehrsoldaten in Sicherheit gebracht. Wäre ich doch als Afghane geboren!“
Peter flog angepisst nach Berlin. Er würde der Christiane aus „Wir Kinder am Bahnhof Zoo“ nacheifern und Junkie werden. Das ergäbe ein hübsches Buch, ähnlich dem Vorgänger. Zum Einstieg kaufte Peter sich eine Packung Zigaretten und begann zu rauchen. Nach ein paar Zügen, genau genommen war es vielleicht auch nur einer, begann er zu husten. Der Rauch schmeckte nicht nur widerlich, er biss auch noch in der Lunge. Wie zum Teufel sollte er ein Drogie werden, wenn ihn eine kleine Zigarette schon völlig an seine Grenzen brachte.
Enttäuscht kaufte er sich eine Packung Kaugummis und eine Zeitung an einem Kiosk. Die Titelschlagzeile interessierte ihn: „Achtjährige am Passivrauchen gestorben.“
„Die kann sich glücklich schätzen“, fauchte Peter, „die hat es nämlich viel leichter als ich. Die musste ja nicht selber rauchen. Wäre ich doch als Passivraucher geboren.“
In seiner Verzweiflung wusste Peter keinen Ausweg mehr und sprang von einer Brücke runter. Leider war das Wasser so flach, dass er sich lediglich die Knie auf dem Boden aufschürfte. Neben ihm trieb ein totes Fischotter, dass sich beim Reinspringen offensichtlich das Köpfchen an einem Stein gestoßen hatte.
„Das kann sich glücklich schätzen“, schrie Peter außer sich vor Wut, „das blöde Vieh hat es viel leichter als ich, weil es so unglaublich dumm ist. Wäre ich doch als beschissenes Fischotter geboren worden!“
Weil Peter nicht mehr ein noch aus wusste, zog er nach Tibet und suchte einen weisen Meister auf.
„Meister, ich will meinem Leben ein Ende setzen“, erklärte sich Peter, „aber ich weiß nicht, wie ich das tun soll. Helft mir, bitte.“
„Ich habe genau das Richtige“, antwortete der Meister und holte zwei riesige Schellen aus Metall hervor. Er holte aus und schlug sie Peter um die Ohren.
Peters Kopf dröhnte, als wenn gerade ein Berg über ihm zusammen gebrochen wäre. Sterne tanzten ihm ums Gesicht. Aber auch viele verschiedene Bilder: Seine Familie, wie sie lachend miteinander an einem Grillabend im Garten saßen… einen traumhaften Spaziergang mit seiner Freundin am Strand… ein Männerabend mit seinen Kumpels vor dem Computer…
eine riesige, köstliche Schokoladentorte zu seinem Geburtstag… die Geburt seiner Cousine, die ein quengelndes, aber doch irgendwie niedliches Wesen war… die unglaubliche Erleichterung, als sein Vater doch keinen Darmkrebs hatte… sein Traum- als er acht Jahre alt war- Biobauer zu werden… die renommierte Universität in der Nachbarstadt, die einem Ticket für Wohlstand gleich kam… und dann… verschwommen… ein Bild, wie seine ganze Familie um ein kleines Grab stand, dessen Grabstein eigenartigerweise mit seinem Namen verziert war, und hilflos weinte.
Erschrocken schüttelte Peter den Kopf und sah dem Meister in die Augen… junge, junge, hatte der Krähenfüße, entfuhr es Peter in Gedanken.
„Vielen Dank, Meister. Ich glaube, das habe ich gebraucht“, sagte Peter zerknirscht.
Der Meister nickte und lächelte. Daher kamen also seine Krähenfüße, vom vielen Lächeln!
Peter ging beschwingt nach Hause und überlegte, ob er wirklich Agrarwissenschaften studieren sollte. Naja, er konnte sich die Fächer ja alle mal gründlich anschauen!
Die verhungernden Afrikaner, die toten Autobahnkinder, die chinesischen AIDS-Kranken, die afghanische Familie, die verstorbene Passivraucherin und das doofe Fischotter sahen ihn an und brummten: „Der kann sich glücklich schätzen. Der hat es viel leichter als wir. Immerhin muss er nur einmal gründlich wachgerüttelt werden und schon hat er ein tolles Leben. Wären wir doch nur alle als Peter geboren!“

… Und wenn er nicht gestorben ist- und das ist er natürlich nicht, wir haben ja gesehen, dass ihm das nicht so richtig gelungen ist-, dann lebt er auch noch heute.
 



 
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