Das Motiv (aus

3,00 Stern(e) 1 Stimme

Pola Lilith

Mitglied
DAS MOTIV
(aus „Kleine Filmgeschichten“)​



DER BERG

Reibung entfacht Feuer. Also hockte der Höhlenmensch unter seinem Felsdach und warf seinen Schatten an die Wand, die seine Welt im flackernden Licht widerspiegelte. Auch heute noch läßt der Fels geduldig mit sich geschehen, was sein Dasein ausmacht. Doch wie lange noch? Immer wieder wird er Stück für Stück abgetragen für all den Prunk von arabischen Flughafendächern bis in die konkaven Linien unserer Bürotoiletten hinein. Schwer gepolstert mit breitem Hintern, Schutzmaske, Preßluftmeißel und der Sucht nach Bewältigung schlagen wir auf den Stein ein und so viel weg, bis wir das vollendete Kunstwerk aus ihm herausgeprügelt und nach beider Sättigung wieder hineingestreichelt zu haben glauben. Dafür bohren wir Löcher in seine Seele und fädeln Stahlseile ein, die den Koloß über Rollen endlos laufend wie ein Keilriemen zersägen. Dafür füttern wir seinen fast durchschnittenen Spalt mit Sand und Gesteinsbrocken, die seine Herzklappen auseinanderdehnen, so lange, bis sich das begehrte Stück seines riesigen Körpers mit einem tiefen Aufschrei tonnenschwer löst und zur Seite neigt. Dann genügt nur noch ein Druck unserer Hände und wohldosiertes Feuer, das ihn sprengt. Und endlich prallt der Fels berstend auf sein Schutt- und Geröllkissen. Eifrig schichten wir schließlich die zerlegten Gliedmaßen unseres Kaiserschnittes auf Holz, fesseln sie mit Stahlseilen aneinander und wuchten unser neugeborenes Beutetier über die selben Rollen, die ihn seinem Mutterleib entrissen haben, zentimeterweise den Berg hinunter in’s Tal; dorthin, wo der Abtransport seiner harrt: zum Bauch des Marmorbruches.


DAS PAAR

Sie blinzelte, als der Zug aus dem Tunnel in’s Licht stob; dann zog sie den Vorhang zu. Der junge Mann drückte sie sanft an sich. Sie kam ihm entgegen und lehnte ihren Nacken an seine Schulter, wobei ihr eine schwarze Locke verwegen in die Stirn fiel. “Mario und ich waren zwölf, als die Eltern verunglückten.” sagte sie. “Später fuhren wir, daß der Wagen brennend in der Leitplanke hing, umringt von Schaulustigen. So vergingen die Jahre und wir begannen davon zu träumen, nach Amerika auszuwandern und ganz groß rauszukommen. Wir hatten ja so viele Ideen, die uns Kraft gaben für das Leben hier und die Schule, und für unsere Freunde. Aber kaum war Mario erwachsen, entdeckte er den Stein und das Geld, das er in sich birgt. Das ist der Grund, warum Mario sein Erbe angetreten hat und auf der Insel geblieben ist. Während ich einfach nur umhergestreunt bin.” “Bis zu unserer Begegnung.” “Ja, bis zu unserer Begegnung.” sagte sie leise und schmiegte sich eng an ihn. “Erzähl mir vom Berg.” bat er. “Ach, weißt du, bei uns waren sie alle marmoristi. Groß-vater schuftete schon als Kind von sechs Uhr morgens bis in den Abend hinein. Jeden Tag ist er um vier Uhr aufgestanden und mit seinen schweren, genagelten Stiefeln an der Seite seines Vaters zwei Stunden den Berg bis zum Sammellager aufgestiegen, von dort noch einmal eine halbe Stunde hoch in den Bruch. Und unser Vater hatte es kaum leichter. Heute gibt es ja zum Glück die Straße. - Zündest du mir eine Zigarette an, Frederico?” Ein weiterer Tunnel folgte, während die Flamme aufblitzte und der Mann seiner Freundin die Zigarette reichte. “Später, als Mussolini an die Macht kam, versteckte sich Großvater über zwanzig Jahre lang in den Bergen. Er organisierte den Widerstand und arbeitete weiter im Bruch, wohin sich die Faschisten nicht wagten. Na ja, und nach Kriegsende übernahm er die Lizenz für den Bruch auf der Insel und gründete unsere Familie.” Im Abteil wurde es hell. Sie öffnete den Vorhang; ein Klatschmohnfeld breitete sich flammendrot unter ihr aus. “Den Paß haben wir hinter uns.” Sie blickte nach oben. “Und es wird regnen.” Der Mann beugte sich vor, duckte den Kopf und sah in den Himmel, wo sich eine dunkle Wolke über die Bergkante schob. “Trotzdem”, warf er ein, “ein Partisan als Unternehmer? Ich habe gedacht, ihr Italiener seid anders.” “Richtig.” Sie schubste ihn neckisch auf seinen Platz zurück. “Denn bei uns in Italia ist alles möglich. Wie wär’s mit einem Kuß, bevor es wieder dunkel wird?” Freudig zog er sie an sich, hob ihren Shirtausschnitt und küßte ihre kleinen, goldbraunen Brüste. Dann fuhr der Zug in den nächsten Tunnel ein.


DER FILMEMACHER

Er entdeckte die Wolke in dem Moment, als er das Happy End seines Filmes “Eine italienische Romanze” gefunden hatte. Sei dem alten Bildhauer ruhig noch einige Jahre Glück an der Seite seiner kleinen, stummen Antonia vergönnt. Ja; erregt zündete er sich eine Zigarillo an, während er die Geschwindigkeit seines Alfas aufgrund der gerade vor ihm liegenden Straße erhöhte. Die Insel würde ein prächtiges Motiv für sein farbenumrauschtes Finale abgeben; weich gezeichnete Auflösung, frech durchbrochen von purem, schweißtreibendem Sex. Das ist es. Wenn es nur nicht so schwül wäre. Er griff zum Handy, überlegte es sich dann aber anders. Spätestens heute abend würde er eine große Schale frutti di mare essen und eine blutjunge Italienerin mit auf’s Zimmer nehmen. Ach, noch einmal zwanzig sein. Ob Karin als Antonia beim Publikum ankommen wird? Wenn er nur endlich die Förderzusage in den Händen hielt. Ein junger Mopedfahrer ratterte ihm entgegen; sein wehend langes Haar verbarg anfangs das Gesicht des Mädchens hinter ihm, das sich kurz berockt an seine Brust klammerte, während sie ihre nackten Beine in die Luft streckte. Sie war hübsch und ungeschminkt. Ach, kann das Leben schön sein. Vor der roten Ampel eines Bahnüberganges hielt er an. Ein Zug mit offenen Fenstern rauschte vorüber. Er hob die Finger vom Lenkrad und winkte kaum merklich, als ein paar Jungen lachend weiße Fähnlein hinausschwenkten; dann verschwand auch der letzte Waggon hinter einer Hügelkuppe und die Schranke öffnete sich quietschend in den Himmel.


DIE MARMORISTI

Mit Riesensägen bewehrt, von mannshoch umschnürten Gesteinsbrocken eingemauert, inmitten von Schutt und Geröll und feinem, weißem Staub, der in die Nasenlöcher kriecht, die Zunge benetzt und die Bronchien verklebt, so stehen sie einander gegenüber. Der Alte hält seine Augen schmal, seinen Bizeps gespannt; eine Kippe im Mund läßt er die Sägezähne sich unter seinen nackten, ledernen Händen kraftvoll durch den Stein hindurchwühlen. Der Junge am anderen Ende des Marmorblockes ist noch nicht so weit, plagt sich noch immer mit dem Ansatz und der Entscheidung ab, hier irgendwann stumpfsinnig zu verrecken oder ab sofort von der Hand in den Mund zu leben. Erst kurz da und schon rinnt ihm der Schweiß, sind seine Hände aufgerissen, verfolgen ihn Bilder von Krankheit, Auszehrung und Tod. Im hinteren Teil des Hallengewölbes, neben den breiten Türöffnungen, durch die Stahlseile über Holzrollen zum Berg hochführen und für ständigen Nachschub sorgen, geben sich faltige Männer mit einer für den Jungen unverständlichen Gleichmut der Schwerstarbeit hin. Für den Transport zu große Brocken müssen zerkleinert werden. Also schlagen sie mit Hammer und Meißel und mit einem ohrenbetäubenden Lärm Kanten und Ecken ab, stemmen sich gegen die Bohrer, durchschneiden Drahtseile, halten, was nötig ist, mit der Kraft ihrer Arme, wuchten Stein für Stein zuerst auf ihre Oberschenkel, dann auf Schubkarren und Holzpaletten, verletzen sich gern und fürchten seitdem kein Erdbeben mehr. Einer mit Helm kommt von der Straße herein, brüllt, daß er zum Bruch hochfahre. “Ist gut, Mario.” brüllt der Alte zurück, der Hallenvorarbeiter ist, weil er jedes Himmelfahrtskommando heil überstanden hat. “Der padrone”, ruft er dem Jungen zu; aber indes hat auch dieser seinen Ansatz gefunden und sieht und hört nichts mehr.


DER SEE

Leichter Wind kräuselte die Oberfläche des Sees. Tuckernd bewegten sie sich auf die Insel zu, die sie wie ein zweieigiges Zwillingspärchen erwartete. Mit weiten, flachen Ufern, Wald und Wiesenflecken und einem in sich bunt geschachtelten Hafenörtchen bot sich die linke Hälfte dar, während ihr Gegenpol steil in einen Berg wuchs, dessen Vorderkamm der herannahenden Fähre weiß wie Schnee entgegenglimmte. Dort sah man auf einer Tunnelstraße ab und an einen Wagen hinter dem Fels verschwinden, einen anderen wieder auftauchen. Er hatte seinen Alfa verriegelt, die Kameratasche umgehängt und stand nun filmend am Bug. Sie saß ihm im Rücken und er bemerkte sie erst, als er vom Wasser hoch zur Bootsplattform schwenkte. Gebannt hielt er ein. Sie lächelte nicht. Ihren Kopf an die Brust eines jungen Mannes gelehnt blickte sie ihn an - und in ihn hinein. Tiefes Schweigen. Augen, grün wie der See. Verborgene Leidenschaft, Liebe, Verhängnis. - Seine Antonia. - Sie aber hatte ihn gleich durchschaut. Wie er so dastand, den Hosengürtel straff um seine wabbeligen Hüften gezurrt, den runden Oberkörper in ein enges Markenshirt gezwängt, am Armgelenk eine sanft schwingende Rolex-Uhr und im Kopf das sichere Gefühl, alles zu bekommen. Er könnte auch Italiener sein, dachte sie; aber sie wußte, er war nur einer, der sich mit der Leichtigkeit einer kreditkartenbestückten Brieftasche überall zuhause fühlt. Sie hatte solche Typen noch nie gemocht. Sie machten ihr Angst. Am liebsten würde sie ihn mitsamt seiner Kamera in’s Wasser stoßen, auf Nimmerwiedersehen. - Der Mann wandte sich ab, als das unerfahrene Gesicht des Jungen seine Heldin bedeckte und ihn nun grimmig zum Duell aufforderte. Wie lächerlich, dachte der Ältere und: keine Chance, mein Junge, keine Chance. - “Dort ist Mario und weiß nicht, daß wir kommen. Sieh nur.” Das Mädchen war aufgestanden und hatte ihren Freund mitgezogen. Jetzt blickten sie hinüber zu dem zerklüfteten, seilumspannten Berg, an dessem Fuß ein uraltes, staubumprustetes Gebäude klebte, das ihren Bruder verschluckt hielt. Auf der schmalen Straße davor sah man unter einem Kran einen mit riesigen Gesteinsbrocken beladenen LKW, dessen Vorderachse sich gewagt in die Höhe streckte. Das Mädchen lachte. - Lauschend zoomte der Mann zuerst die Ladung, dann den lose baumelnden Kranzapfen, über den noch kurz ein schmaler Streifen Sonnenlicht huschte, bevor auch dieser von der nun tief über dem See hängenden Wolke aufgesogen wurde. Gleich darauf schwenkte das Boot scharf nach links. Die ersten Donner rollten heran. Tief atmete das Mädchen die Luft der Heimat ein. Dann legte die Fähre an der kleinen, mit bunten Wimpeln geschmückten Uferpromenade an.


DAS HIMMELFAHRTSKOMMANDO

“Nachlegen.” brüllt der Mann unter dem Tonnenkoloß, über den er nicht hinaussieht, hier am holperig steilen Hang, wo sich die Hände über den Bremsklotz spannen, um mit diesem zur Seite zu springen, sobald die Techniker oben neue Rollen nachgelegt haben, die die schwere, weiße und so teure Braut wieder ein paar Zentimeter tiefer rutschen lassen - nur nicht in seine Arme hinein, nur nicht auf seine Brust, nur nicht über ihn, denn so groß ist seine Liebe nicht, um unter ihr begraben zu werden. “Nachlegen.” brüllt nun auch der Mann oberhalb der Ladung, auf die er jung, behelmt und mit geöffnetem Hemd seinen Fuß gestemmt hat und einem Arbeiter neben ihm zunickt, der schwitzend den Griff der Holzschiene umklammert, bereit, sie mit voller Kraft zu unterstützen, wenn die Seile die aneinandergefesselten Blöcke ächzend in die Höhe heben müssen. Oh, wie sie ihn erdrückt mit ihren schweren Brüsten und breiten Schenkeln, die ihm in die Leisten schlagen. Der Alte unten ringt nach Atem; schlecht wird ihm, schwindelig. “Padrone. Padrone.” “Stop.” Mario nimmt seinen Fuß vom Stein. “Was ist los?” brüllt er über den Schleier der Braut hinweg nach unten. “Dem Alten ist schlecht geworden.” schreit ein anderer. Schon ist Mario nebem seinem Ältesten. “Laß mich machen, setz dich und trink was.” Mario ist ein guter Padrone und der Alte läßt ihn gerne einspringen. “Scheiße.” aber flucht Mario jetzt und stößt ihn hart zur Seite. Der Alte hört noch Geschrei von oben, dann wird ihm schwarz vor Augen.


LIEBE, SEX & LEIDENSCHAFT

Die ersten dicken Tropfen klatschen auf die erhitzte Haut. Eng umschlungen stieg das Paar die steilen Stufen zum Haus hoch, das mit wildem Wein bewachsen in den Bergabsatz wie hineingehauen schien. “Gleich danach fahren wir zu Mario, ja?” sagte sie und gab ihrem Freund einen Kuß auf den Hals. “Der dich gefilmt hat war übrigens ein Deutscher”, sagte der junge Mann, während er unter ihren Jeansbund fuhr, ihr Pogrübchen suchte. “Ein Arsch.” entgegnete sie und brach im Vorübergehen eine rote Oleanderblüte, deren Strauch sich prall gefüllt durch einen morschen Zaun zwängte. Sie steckte die Blüte in seine vordere Hosentasche, worauf er wieder lächelte und schwer zu atmen begann. Dann entdeckten sie die weiße Katze, die auf der obersten Stufe mit vorgestrecktem Nacken und steif in die Höhe gehaltenem Schwanz die Neuankömmlinge in’s Visier nahm.

*​

Als er aus dem Tunnel fuhr, prasselte der Regen so stark gegen die Windschutzscheibe, daß er anhalten mußte. Er schaltete die Warnblinkanlage an, steckte sich eine Zigarillo zwischen die Lippen und betrachtete rauchend die Steinbruchfestung, die hinter einer kleinen Bucht wie ein Nebelgespinst im Rhythmus der Scheibenwischer auf- und abtauchte. Dort würde sie sein, seine Antonia, nackt wie der Stein, hinter dem sie Schutz suchte vor der Welt und dem ungestillten Verlangen nach ihr. Aber er würde es nicht zulassen; er würde kommen, in ihren Kerker eindringen, in das Grün ihrer Augen, in die bebende Höhle ihres Körpers und schließlich auch in ihre Seele. Dann würden ihre stummen Schreibe vergeblich gegen den Fels prallen, denn zuletzt würde er sie dem Ort der Finsternis entreißen und ihr einen Schrei entlocken, der über die Berggipfel hinweg- und über den See hinausstürmen sollte, bis auch wirklich jeder ihn hörte und es keine Stelle des Verbergens, des Rückzugs mehr gab. So würden sie im Farbenmeer der Leidenschaft eintauchen und von den Ufern der Liebe befriedet sich dem Leben wiederschenken. Seine Antonia. Sein Finale.

*​

Er war tief in ihr; und draußen blitzte es und Wind und Regen stürmten um’s Haus und der Baum trug noch immer das Rauschen des Meeres, und wieder traf sie der Blick der Katze, fing sie auf und ein, und dennoch war heute alles anders; er war in ihr und liebte sie, und liebte sie. Und welche Lust sie befiel und mit welchen Worten sie ihn liebkoste und wie sie gemeinsam die Marmorterrassen des Berges hochstürmten und wie der Stein in der Sonne glimmte und wie das Auto Feuer fing und wie die Rolex-Uhr schaukelte die Kamera surrte Mario lachte und endlich die Flut anrollte, mit der sie sank, hinab, hinab, bis auf den Grund des Sees.


DAS FINALE

Die Kamera mußte er im Wagen lassen. Zu filmen wäre eh sinnlos gewesen bei dem trüben Licht der nackten Deckenglühbirnen. Die Drehgenehmigung jedoch würde er bestimmt mühelos erhalten; hier fehlte es doch an allen Ecken und Enden. Die sägenden Männer im Rücken stand er vor dem mannshoch geschnürten, staubumwehten Steinpaket im hinteren Hallenteil. Er dachte an die blank gewienerten Absätze römischer Produzentenkollegen und an die spitzen Stöckel ihrer Stars, die später auf dem Stein aufschlagen würden; vielleicht sollte das Paket vor ihm aber auch zu einem der unzähligen Denkmäler verarbeitet werden, die schließlich auf kleinen, unbedeutetenden Dorfplätzen zu unversöhnlichen Streitobjekten der Gemeinden anschwollen? Die Männer hier zuckten mit den Schultern, das Endprodukt interessierte sie nicht; sie holten den Stein vom Berg und machten ihn transportfähig. Das war, was sie wußten; und daß er dann sehr teuer werden würde, der Stein, sehr teuer. Er fuhr mit der Hand über seine schon jetzt sehr glatte Oberfläche. An diesem gelehnt würde Antonia also die Erfüllung ihres Glücks erfahren. Sein Protagonist würde sich zu ihr bekennen, zu ihrer Jugend, ihrer Schönheit, ihrer Zerbrechlichkeit. Sollten die Leute denken, was sie wollten. Er würde sie zur Frau machen und ihre stumme Liebe der Welt offenbaren. Durch ihn würde sie endlich die Gefühllosigeit des Steines, das kalte Herz ihres Verlieses begreifen und sich für immer den Farben und Geräuschen des Lebens zuwenden. Ihren Kerkermeister aber, diesen unbedarften Jungen, würden sie im Gemäuer zurücklassen; sollte er zu Staub werden; das Glück schenkte ihr ein anderer und sei es nur für ein paar Jahre noch. - Er zuckte zusammen, als ein langgezogener Schrei das Klopfen, Bohren und Sägen um ihn herum durchbrach. Die Männer hielten in ihrer Arbeit ein, blickten sich an, ließen dann Hammer, Bohrmaschine und Säge fallen und stürzten wild gestulierend hinaus auf die Straße. Schnell folgte er ihnen in den prasselnden Regen hinein.

“Mario. Mario.” Er sah zuerst den Jungen von der Fähre, der vor dem beladenen LKW auf einem Moped hockte. Der Regen triefte über sein Haar, während er mit offenem Mund verständnislos an ihm vorbeistarrte, sich dann aber ihm zuwandte und ihn erneut grimmig anblickte. Keine Chance, keine Chance, Junge. “Mario.” Er drehte den Kopf hinüber zu der kleinen Schotterstraße, die auf den Berg führte. Die Männer der Halle standen jetzt mit anderen vor einem Jeep und verbargen den Schrei, der dann aber plötzlich wieder so stark anhob, daß er weder vom Regen noch von der Menge verschluckt werden konnte. Er ging hinüber, den grimmigen Blick des Jungen im Rücken. “Was ist passiert?” fragte er einen taumelnden Alten neben sich. Der schüttelte nur den Kopf und schwieg. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, suchte zwischen den Schultern einen Blick auf das Geschehen zu werfen. Dann sah er sie, auf dem Boden kniend, ihren knackigen Jeanspo nach oben gestreckt, ihren schmalen Nacken vornübergebeut und ihr schwarzlockiges Haar die nackte Brust eines Mannes bedeckend, während sie ihre Arme ausgebreitet und die Hände des Mannes unter ihr so fest umklammert hielt, daß er das Weiß ihrer Knöchel sehen konnte. “Mario.” Sie warf ihren Oberkörper hoch; wie eine rote Flamme klebte das T-Shirt an ihren nassen, runden Brüsten. Jetzt erst entdeckte er das Blut auf der Brust des jungen Mannes, der mit geschlossenen Augen auf der Pritsche lag und wohl tot war, da keiner ihn fortbringen wollte. Sie schluchtzte, seine Antonia und wehklagte in fremden Tönen, deren Dramatik er aber durchaus verstand.

Das war die Gelegenheit, und sei es, daß er Karin abfinden mußte. Diese Antonia würde es wieder einspielen, dessen war er sich sicher. Er zwängte sich durch die Männer hindurch, stand nun über ihr, beugte sich herab. “Signora. Es wird alles wieder gut.” sagte er leise, aber bestimmt. Sie drehte sich um, blickte ihn an. Das Grün ihrer Augen hatte sich in’s Braun gewandelt, haftete nun auf ihm, ließ ihn auch dann nicht los, als sie sich langsam erhob und nun ganz nah vor ihm stand. Dann öffneten sich ihre Lippen. Er würde sie küssen, gleich, was es kostete.

“Faschist.” sprach ihr Mund, und das Wort durchschnitt den Regen scharf und leise zugleich. Dann spuckte sie ihm in’s Gesicht. Die Männer drehten sich ihm zu; ein Murmeln wog an, wurde zu einer Welle der Grimmigkeit und Bedrohung; schon rückten Schultern, Ellbogen, zu Fäusten geballte Hände ihm näher und er wich zurück. “Ist ja gut. Ist ja gut.” versuchte er zu beschwichtigen, während er noch sah, wie das Mädchen sich wieder über ihren toten Bruder beugte, bevor es von den Männern eingemauert wurde, die ihn selbst rückwärts zum Wagen trieben, vorbei an dem Jungen auf dem Motorrad, der ihn jetzt lächelnd ansah, ohne jede Scheu.

Er stieg in den Alfa, verriegelte die Tür, startete den Motor. Die Drehgenehmigung würde er nicht mehr bekommen, das war sicher. Und bei Karin mußte er eine mögliche Farblosigkeit in Kauf nehmen. Der Film würde also doch auf der Straße enden, irgendwo auf dem Festland, irgendwo anders. Er sah in den Rückspiegel. Keiner verfolgte ihn. Ein schales Gefühl der Leere beschlich ihn, verdarb ihm nun auch noch die Lust auf den Abend. Dann klingelte das Handy, während er den Berg im Rücken sich selbst überließ. Aber auch davon wurde er nicht erlöst.
 

Wipfel

Mitglied
Hallo Pola,

ich habe kein Ahnung, wer Du bist. Was ich hier las, hat mich allerdings beeindruckt. Nein - nicht weil sie perfekt wäre, Deine Erzählung; das ist sie nicht. Aber (egal wie alt du auch sein magst), das klingt sehr talentiert, sehr überzeugend - und doch irgendwie ungeschliffen. Dein großes Talent liegt zweifelsohne in dem Reichtum Deiner Sprache, im Bemühen neue Wendungen zu finden, die Erzählung locker und abwechslungsreich zu gestalten. Lass mich meinen Eindruck etwas erläutern - keine Nörgelei.

Reibung entfacht Feuer. Also hockte der Höhlenmensch unter seinem Felsdach und warf seinen Schatten an die Wand, die seine Welt im flackernden Licht widerspiegelte. Auch heute noch läßt der Fels geduldig mit sich geschehen, was sein Dasein ausmacht.
Der erste Satz erweckt mein Interesse. Der zweite meinen Widerspruch. Sei doch genau! Spiegeln die Schatten seine Welt wieder? Sie spiegeln ihn selbst wieder. Sind es nicht die Zeichnungen, die Malereien an den Wänden, die etwas aus der Welt der Hölenmenschen wiederspiegeln? Lass ihn - den Wurmfortsatz des Satzes (und solche Fettnäpfchen)- einfach weg...

Und was(?) macht das Dasein des Fels aus? Gibt es darauf eine Antwort? Ich habe keine.

"Ach heute noch... "

als Überleitung in die Geschichte wirkt bemüht und etwas zu schnell. Ich bin doch noch in der Höhle.

Dennoch: an diesem Text zu arbeiten lohnt sich!
 

Pola Lilith

Mitglied
Hallo Wipfel,

danke für deine Kritik.

Du hast recht, ich neige dazu, manche wertvolle Essenz unnötig mit Wasser zu verpanschen.

Ich werde an dem Text arbeiten und überhaupt....

Lieben Gruß, Pola
 
N

nobody

Gast
Die Sprache war es, die mich den Text bis zum Ende lesen ließ. Da steckt meiner Meinung nach gewaltiges Potential drin. Aber manchmal wollte ich doch aufgeben, weil ich nicht mehr wußte, was ist Film und was ist Wirklichkeit, und wer ist wer. Da hätte ich mir mehr Klarheit gewünscht. Auch die Schnitte und Szenenwechsel machten es nicht leichter. Im Film macht sich das sicher ganz gut, da weiß man, wer wer ist, merkt sich Gesichter, aber als Kurzgeschichte (m. E. eher eine Erzählung) hat mich der Text doch gelegentlich verwirrt, und so ganz kann ich die Handlung nach dem ersten Lesen noch nicht nachvollziehen. Ich werde sie also nochmal lesen müssen - vielleicht die überarbeitete Version?
Gruß Franz
 

Pola Lilith

Mitglied
Short Story oder Erzählung - und Arbeit, Arbeit, Arbeit...

Ja, ihr beiden:

die Wahl der Rubrik Kurzgeschichten war nicht die richtige. Auch die Einleitung ist viel zu lang. Ich werde dran arbeiten, irgendwann, wenn die Arbeit mir Zeit läßt....

Gruß, Pola
 



 
Oben Unten