Das Museum (ziemlich langer Text)

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axel

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Enttäuscht verließ Holger Wertheim das Museum. Sonderlich beeindruckt hatte es ihn nicht.
Er war nicht einmal sicher, ob er überhaupt damit einverstanden war, das Gebäude, aus dem er gerade kam, als Museum zu bezeichnen.
Soweit er wusste, war der Begriff nicht geschützt und gab es keine klaren Kategorien, die erfüllt sein mussten, ehe man von einem Museum sprechen durfte. In den vergangenen Tagen hatte er oft genug erlebt, dass mancher Andenkenladen den eigenen Verkaufsraum als Museum deklariert hatte, dessen Besichtigung großzügigerweise bei freiem Eintritt gestattet war.
Wenn die Ladenbesitzer das durften, sollte es Holger Wertheim auch erlaubt sein, selbst ein Urteil darüber zu fällen, ob ein angebliches Museum diesen Titel zu Recht trug oder nicht.
Wie immer in solchen Situationen erinnerte er sich unwillkürlich an seinen allerersten Museumsbesuch, den er vor bald drei Jahrzehnten mit seiner Grundschulklasse unternommen hatte. Das bescheidene Heimatmuseum war nicht bedeutender als die Kleinstadt, in der es stand, doch es beherbergte eine stattliche Anzahl von Ritterrüstungen, mittelalterlichen Folterinstrumenten und anderen Dingen, an die Holger Wertheim sich kaum noch erinnerte. Immerhin waren sie alle alt und historisch und frei von dem Verdacht, einfache Gebrauchsgegenstände der heutigen Zeit zu sein. Die ganze Klasse war ergriffen und beeindruckt gewesen, alle hatten sich gefühlt, als wären sie mit einer Zeitmaschine in die Welt der Ritter und Burgfräulein gereist.
Etwas Vergleichbares konnte dieses Museum nicht bewirken. Das Gebäude war erst im letzten Jahr fertig worden, die Exponate wahrscheinlich nicht wesentlich älter. Holger Wertheim wusste, dass der Vergleich hinkte und eigentlich unzulässig war. Seit seiner Schulzeit hatte er etliche zeitgenössische Museen besucht und deren Besichtigung zum Teil sehr genossen, ohne sich mit Definitionsfragen zu beschäftigen.
Auch am heutigen Tag hatte er das Gebäude ohne Vorurteile oder falsche Erwartungen betreten, doch dann hatte ihm das Gesehene eben nicht gefallen. Holger Wertheim konnte keinen Grund erkennen, der ihm verboten hätte, dieses Urteil zu fällen. Je länger er nachdachte, desto sicherer wurde er, dass er seine Entscheidung nicht einmal begründen oder sich dafür rechtfertigen musste.
Birgit war bestimmt anderer Ansicht.
Sie hatte ihm lange vor dem Urlaub einen Artikel in einer Kunstzeitschrift gezeigt und dann extra diese Stadt ansteuern wollen, die außer dem hoch gelobten Museum nicht viel zu bieten hatte. Sie war noch im Innern des Gebäudes und würde ihren Rundgang bis zum Ende der Öffnungszeit ausdehnen, um Holger Wertheim für seine mangelnde Bereitschaft zu bestrafen, der Kunst die angemessene Würdigung zukommen zu lassen oder sich wenigstens ihren Wünschen zu unterwerfen.
In den letzten Tagen hatte sie immer wieder behauptet, dass die Gestaltung des gemeinsamen Urlaubs bisher weitgehend seinen Vorstellungen gefolgt sei, doch das stimmte definitiv nicht!

An einem einzigen Abend der vergangenen Woche hatte er in einer verrauchten Bar ein Spiel der Bayern sehen wollen, aber das war immerhin das Halbfinale gewesen, ohne jeden Zweifel eine außerordentlich wichtige Partie. Holger Wertheim war kein Fanatiker, der reflexartig den Fernseher einschaltete, sobald ein noch so unbedeutendes Spiel gezeigt wurde. In den vergangenen Jahren hatte er seiner Freundin zuliebe oft genug auf Fußballübertragungen verzichtet und in der letzten Woche auch nicht verlangt, dass sie das Spiel mit ihm gucken sollte.
Die Bayern hatten verloren, Birgits Kommentare die Lust am Zuschauen zusätzlich geschmälert, danach hatte sie ihm stundenlang seine schlechte Laune vorgeworfen, die dadurch immer neue Nahrung erhalten hatte.
Mittlerweile wusste Holger Wertheim, warum Birgit mitgekommen war: Das Fußballspiel war für den Rest des Urlaubs ein vortreffliches Argument, das auch nach der hundertsten Wiederholung nichts von seinem Gewicht eingebüßt hatte.
Die arme Birgit hatte nicht nur dieses dämliche Spiel ansehen müssen, sondern dabei quasi Redeverbot gehabt, nicht einmal kundtun dürfen, dass die Trikots der gegnerischen Mannschaft ebenso wie die meisten ihrer Spieler besser aussahen als die der Bayern. In ihrer Langeweile hatte sie die Einheimischen in der Bar beobachtet und deren Lebensfreude bewundert, die sich bei jedem Tor ihren Weg bahnte.
Holger Wertheim hatte in den Tagen nach jenem Abend gespürt, dass ihm die Zügel aus den Händen glitten, allerdings nie gewusst, was er dagegen hätte unternehmen sollen. Mittlerweile war er nicht mehr sicher, ob er Birgit in seiner Verärgerung nicht vielleicht doch vorgeworfen hatte, mit einem der Einheimischen geflirtet zu haben. Wenn er das getan hatte, wäre zumindest Birgits Behauptung widerlegt, er interessiere sich mehr für den Fußball als für sie.
So konnte es nicht weitergehen.
Holger Wertheim nahm sich vor, es in Zukunft nicht mehr hinzunehmen, dass Birgit ihn immer wieder mit fadenscheinigen Begründungen ins Unrecht setzte, um ihren Willen durchzusetzen. Er setzte sich auf eine der Bänke auf dem Vorplatz des Museums und zündete eine Zigarette an. Auch das mochte sie nicht, dabei hatte er seinen Konsum bereits deutlich reduziert und sich seit dem Einzug in die gemeinsame Wohnung an sein Versprechen gehalten, dort nicht zu rauchen.

Von außen betrachtet war das Gebäude durchaus sehenswert, die ausgefallene Architektur war ein nicht unbedeutender Grund für die Berühmtheit, die das Museum mittlerweile erlangt hatte. An diesem Punkt sah Holger Wertheim keinen Grund, den vielen Lobeshymnen auf den noch jungen Kulturtempel zu widersprechen, und da die Sonne ihren heutigen Weg über den Himmel weitgehend absolviert hatte und die Mauern mit ihren letzten Strahlen in ein angenehm warmes Licht tauchte, war der Anblick umso reizvoller.
Holger Wertheim holte seine Kamera aus der Tasche und begann zu fotografieren. Er konnte leider nur Detailaufnahmen machen, für eine Gesamtansicht war er dem Gebäude viel zu nah. Das Weitwinkelobjektiv brauchte er gar nicht erst aufzusetzen, sein Kennerblick reichte für die Ahnung, dass es nicht ausreichen würde, um das gesamte Gebäude aus so geringer Distanz zu erfassen, außerdem war ein Weitwinkel zur Ablichtung eines Bauwerks gänzlich ungeeignet.
Im Westen waren zwei Hügel auszumachen, einer der beiden wäre bestimmt ein guter Standort, um das Museum in all seinen Facetten abzulichten. Die Hügel waren aber zu weit entfernt, um sie jetzt noch zu erreichen.
Wenn Holger Wertheim sich ans Steuer des Mietwagens setzen würde, riskierte er einen heftigen Streit mit Birgit, falls die zwischenzeitlich aus dem Gebäude käme und merken müsste, dass er nicht auf sie gewartet hatte. Er hatte sich gerade erst vorgenommen, nicht mehr so viel Rücksicht auf Birgits Wünsche zu nehmen, doch jetzt sagte er sich, dass er, so schnell er auch fahren würde, trotzdem keine Chance hätte, die Hügel rechtzeitig zu erreichen, um jenen Augenblick festzuhalten, da die letzten Sonnenstrahlen das Gebäude bescheinen würden.
Die Fotografie war Holger Wertheims große Leidenschaft, viel wichtiger als jedes Fußballspiel. Birgit hatte schon viele Ergebnisse seiner Kunst bewundert und selbst die Portraitaufnahmen, die er von ihr gemacht hatte, gerne im Freundeskreis gezeigt. Das Vertrauen in seine Fähigkeiten hatte ihre anfängliche Zickereien, die sie immer an den Tag gelegt hatte, wenn er sie fotografieren wollte, inzwischen beseitigen können, doch noch immer reagierte sie bestenfalls mit Spott, zumeist aber verständnislos und wütend, wenn ein Foto vorbereitende Maßnahmen erforderte.
Am frühen Nachmittag hatte er erkannt, dass er die ganze Pracht der berühmtesten Straße der Stadt nur dann richtig zur Geltung bringen konnte, wenn er sich auf den Mittelstreifen zwischen den stark befahrenen Fahrspuren begab. Das wilde Hupen der heranbrausenden Autos, die seinetwegen keinen Millimeter zur Seite wichen, wäre auf dem Foto nicht zu sehen. Auf dem Mittelstreifen angelangt, konnte er in aller Ruhe mehrere Fotos mit symmetrischer und harmonischer Linienführung machen, was vom Rand der Straße aus nicht möglich gewesen wäre.
Holger Wertheim war beinahe sicher, dass Birgit einen Abzug im Posterformat in der heimischen Wohnung aufhängen würde, doch am Nachmittag hatte sie nur geschimpft und ihn auch dann noch einen Verrückten genannt, als er lange schon wieder unverletzt und wohlbehalten neben sie auf den sicheren Bürgersteig gelangt war.

Die Sonne hatte ihren Abstieg zwischen die beiden Hügel inzwischen fortgesetzt, die Lichteffekte auf den Wänden und den zahlreichen Vorsprüngen und Erkern des Museums wurden immer grandioser. Holger Wertheim erkannte, dass der Standort des Gebäudes mit Bedacht gewählt worden war, denn es strahlte noch immer in nicht mehr ganz so hellem Sonnenlicht, während die nähere Umgebung mehr und mehr in den Schatten fiel. Weil es auf der Terasse eines nach Westen zeigenden Hanges stand, warf das Gebäude kaum einen Schatten, der die Komposition einer Fotografie hätte stören können.
Die Szenerie wirkte beinahe unwirklich, besaß aber eine geradezu magische Ausstrahlung.
„Jetzt auf einem der beiden Hügel sein!“, wünschte sich Holger Wertheim voller Sehnsucht.
Er war nicht der einzige Mensch auf dem Platz, der die Schönheit des Augenblicks erkannte. Manche gerieten regelrecht in Verzückung und beeilten sich, ihre einfachen Automatikkameras auf das Gebäude zu richten und wahllos abzudrücken.
Sie hatten keine Chance, die Stimmung dieses Ortes einzufangen.
Zu Hause sähen sie nur einen kleinen Ausschnitt eines von der Sonne beschienenen Gebäudes und würden sich wahrscheinlich fragen, warum sie überhaupt auf den Auslöser gedrückt hatten. Holger Wertheim hatte keine Lust zu diskutieren, nahm bereitwillig alle Kameras, die ihm gereicht wurden und erfüllte die Wünsche der Besitzer nach einem Erinnerungsfoto, das allerdings weder die abgelichteten Personen noch das Museum im Hintergrund des Bildes zur Geltung bringen würde.
Er hatte sich lange schon angewöhnt, auf wertlose Aufnahmen zu verzichten. So war es auch am frühen Nachmittag gewesen. Birgit hatte ihn sogar gebeten, ein Foto von der berühmten Straße zu schießen, sie hätte wissen müssen, dass er keine halben Sachen machte.
Das Museum müsste man aus der Ferne mit einem starken Teleobjektiv fotografieren, den Ausschnitt dabei sorgfältig wählen, so dass das Gebäude im Zentrum des Bildes stände, der auffällige Kontrast zu der schon weitgehend dunklen Umgebung aber trotzdem deutlich würde.
Holger Wertheim registrierte, dass die Sonne langsamer hinter den Hügeln verschwand, als er ursprünglich vermutet hatte und fragte sich, ob er es nicht doch noch geschafft hätte, wenn er sich gleich ans Steuer gesetzt hätte.
Man müsste die kleinste Blende wählen und die Belichtungszeit manuell einstellen, sich dabei auf das eigene Gespür und nicht auf die Angaben des Belichtungsmessers verlassen, der sich natürlich nur nach dem Licht richtete, das von dem Gebäude reflektiert wurde.
Wählte man eine zu lange Belichtungszeit, würde das Museum auf dem Foto unnatürlich aufgehellt, während im Fall einer zu kurzen Belichtung die verschiedenen Farbnuancen der Umgebung nur noch einheitlich dunkel wären.
Von einem der beiden Hügel könnte man ganze Serien schießen und dabei mit allen Möglichkeiten experimentieren, die die beiden Kameras boten. Die Ergebnisse wären ganz unterschiedlich, auf ihre jeweilige Art vielleicht samt und sonders beeindruckend, und das eine, absolut perfekte Foto, wäre bestimmt dabei.
Holger Wertheim ärgerte sich, dass er es nicht versucht hatte. Er hätte in Kauf nehmen sollen, dass Birgit auf seine Rückkehr hätte warten müssen, schließlich wartete er oft genug auf sie, und jetzt, da die Sonne endgültig verschwunden war, wurde es außerdem unangenehm kühl.

Birgit kam genau in dem Augenblick, als Holger Wertheim den Wagen aufschloss, um seine Jacke zu holen. Ihre Worte waren bestimmt nicht sorgfältig gewählt und hatten keine tiefere Bedeutung, doch Holger Wertheim spürte einen schmerzhaften Stich, als Birgit fragte, ob er etwa ohne sie losfahren wolle.
Sie kam nicht allein, denn sie hatte, nachdem Holger Wertheim das Museum verlassen hatte, Christiane und Klaus kennen gelernt, und wie der Zufall es wollte, wohnten die beiden in einer Pension unweit des Hotels, in dem Holger und sie sich einquartiert hatten. Am Nachmittag waren Christiane und Klaus mit einem Taxi aus der Stadt zum Museum gefahren, jetzt könnten sie auf der Rückbank des Mietwagens Platz nehmen. Beide waren nicht nur ausgesprochen nett und sympathisch, sondern darüber hinaus ideale Verbündete für Birgits Beteuerungen, dass Holger Wertheim durch seinen vorzeitigen Abbruch der Besichtigung des Museums viel verpasst hatte.
Schon auf der Rückfahrt in die Stadt musste Holger Wertheim merken, dass das Gespräch seiner Verlobten mit dem unbekannten Paar nicht bei den ausgestellten Objekten stehen geblieben war.
Christiane und Klaus weilten bereits seit ein paar Tagen in der Stadt und hatten ein exzellentes Restaurant entdeckt, dass sie, nach einer bereits festgesetzten Pause, die beiden Paaren zur Erfrischung in ihren Zimmern eingeräumt war, zu viert besuchen würden.

Auf der Speisekarte, zumindest auf deren deutscher Übersetzung, war das Gericht als Schweinefilet bezeichnet worden, doch dafür war das Fleisch nach Holger Wertheims Ansicht zu dünn und zu zäh.
Er war selbst Schuld, schließlich hatten Christiane und Klaus das Restaurant für seine berühmten Fischgerichte gepriesen, und Birgit, die den Ratschlägen der beiden gefolgt war, war hellauf begeistert.
Warum hatte das Museum Holger Wertheim so enttäuscht?
Christiane und Klaus waren bemüht, ihn in das Gespräch einzubinden, doch Holger Wertheim war nicht sicher, ob er überhaupt Lust hatte, viele Worte zu verlieren.
Der vermeintliche Leckerbissen war keiner, die Chance für meisterhafte Fotos hatte er verpasst, weil er die Konfrontation mit Birgit gegen alle Vorsätze gescheut hatte, und was immer er jetzt sagen würde, würde ihm nach aller Erfahrung im Mund herumgedreht und verfälscht, noch bevor er es gänzlich ausgesprochen hätte.
Die gezeigten Exponate waren wertlos.
Die Bezeichnung „Gebrauchsgegenstände“ wollte Holger Wertheim ursprünglich vermeiden, doch dann rutschte sie ihm heraus, als er nach anderen Worten suchte.
Klaus hatte Unrecht.
Keinesfalls hatte Holger Wertheim seinen Rundgang zu früh abgebrochen.
Er hatte durchaus registriert, dass nicht nur Vasen und Keramik ausgestellt wurden, trotzdem war es keine große Kunst, eine nur in ihren Ausmaßen beeindruckende Holzplatte in verschiedenen Rottönen zu bemalen.
Klaus wollte an dieser Stelle keinen Streit beginnen, aber musste Holger Wertheim nicht zugeben, dass die Präsentation der ausgestellten Objekte, seien sie nun Kunstwerke oder auch nicht, in diesem Museum ganz und gar außerordentlich war?
Wo sonst wurden von der Decke hängende Gardinen so raffiniert als optische Raumteiler eingesetzt, die die Blicke der Besucher verführten und in die gewünschten Richtungen lenkten?
An welchem anderen Ort hatte man sich so viele Gedanken über die richtige Illumination der einzelnen Räume gemacht, deren Effekte beim Betrachter doch selbst dann Begeisterung erzeugen konnten, wenn die eigentlichen Ausstellungstücke ihn völlig kalt ließen?
Damit hatte Klaus den wunden Punkt erwischt, denn Holger Wertheim musste zugeben, dass Profis am Werk gewesen waren, deren Taten auch ihn beeindruckt hatten. Sogar die rot bemalte Holzplatte gewann durch das bläuliche Licht und die an einigen Stellen im Raum aufgespannten Gazetücher an Attraktivität, der Raum bekam eine Atmosphäre, die durchaus Wirkung hatte.
Holger Wertheim hatte die Szenerie fotografieren wollen, doch das war ja nicht erlaubt, und dieser Umstand war ohne Zweifel verantwortlich dafür, dass an einen ungetrübten Genuss der Darbietungen nicht zu denken gewesen war.
Holger Wertheim war es gewöhnt, dass das Fotografieren in Museen Beschränkungen unterlag und hatte volles Verständnis dafür. Die Verwendung eines Blitzlichts konnte andere Besucher stören und wertvolle, alte Kunstwerke auf Dauer beschädigen. Mit einem Stativ wäre es möglich, gestochen scharfe Aufnahmen von Gemälden zu machen, die man anschließend als illegale Kunstdrucke auf den Markt bringen könnte.
In dem Museum, das man am Nachmittag besichtigt hatte, versprach wohl keines der Exponate die Aussicht auf lohnenden Gewinn, doch das Verbot von Blitzlicht und Stativ war internationaler Standard und als solcher ohne weiteres zu akzeptieren.
Dass das Fotografieren ganz verboten war, hatte Holger Wertheim bisher nicht erlebt, und wollte nicht bestreiten, dass ihm jegliches Verständnis für diese Maßnahme fehlte. Entweder war den Betreibern die wohlwollende Berichterstattung mancher Medien zu Kopf gestiegen und hatte dazu geführt, dass man die eigene Bedeutung maßlos überschätzte, oder es war eine willkürliche Schikanierung der Besucher, die sich jedem Versuch einer plausiblen Erklärung entzog.
Klaus zwinkerte mit dem Auge und wusste zu berichten, dass das absolute Fotografierverbot nicht so streng gehandhabt wurde, wie man am Eingang vielleicht denken konnte. Einer Leibesvisitation hatte man ihn nicht unterzogen, die kleine Digitalkamera in einer der zahlreichen Taschen seiner Outdoor-Hose also nicht entdeckt.
Klaus hatte sie nicht bewusst hineingeschmuggelt, sich erst im Innern des Gebäudes daran erinnert, dass sie in jener Hosentasche steckte, dann aber gemerkt, dass die gelangweilten Wachleute in den einzelnen Räumen sich kaum dafür interessierten, wenn er die Kamera benutzte, und selbst das Aufleuchten des Blitzes (aus Versehen, weil er nicht daran gedacht hatte, die Automatik auszuschalten) zwar einen missbilligenden Blick zur Folge, ansonsten aber keine Auswirkungen hatte.
Birgit sah sich in ihren Auffassungen bestätigt: Hatte sie nicht ein ums andere Mal gesagt, dass die riesengroße Fototasche, die Holger Wertheim stets mit sich rumschleppte, nicht nur ausgesprochen hässlich, sondern auch viel zu schwer und außerdem unpraktisch war? Kein Wunder, dass man ihm nicht gestattet hatte, das Ungetüm mit in das Museum zu nehmen. Hätte er auf sie gehört und sich beizeiten eine moderne und handliche Kamera gekauft, hätte er jetzt keinen Grund zur Klage.
Klaus und Christiane bemerkten die drohende Vergiftung der lauen Abendluft und wollten den aufkommenden Streit schlichten, bevor er sich entfalten konnte: Wenn Holger Wertheim seine E-Mail-Adresse aufschreiben würde, bekäme er sämtliche Fotos, die Klaus in dem Museum gemacht hatte, unmittelbar nach ihrer Rückkehr nach Deutschland zugeschickt.
Holger Wertheim wusste, dass das Angebot gut gemeint war, doch was sollte er mit Fotos anfangen, die ein anderer gemacht hatte, noch dazu, wenn dieser andere es der Automatik seiner Kamera überließ, ob der Blitz ausgelöst wurde oder nicht?
Die Katastrophe bestand nicht darin, dass er keine Fotos aus dem Innern des Museums besaß, die Katastrophe war gewesen, dass er keine hatte machen dürfen. Seine Erfahrungen mit Birgit reichten Holger Wertheim für die Gewissheit, dass es zwecklos wäre, Klaus und Christiane diesen Unterschied zu erklären.

Im Hotelzimmer musste er sich später anhören, dass sein Verhalten unmöglich gewesen sei. Demonstrativer hätte er seine schlechte Laune nicht unter Beweis stellen können.
Birgit hatte sich seinetwegen beinahe geschämt und ihm Gegensatz zu ihm auch die verständnislos fragenden Blicke von Christiane und Klaus wahrgenommen, die die beiden ihr jedes Mal zugeworfen hatten, wenn sie sich in bester freundschaftlicher Absicht an Holger Wertheim gewandt hatten und wieder einmal brüsk abgefertigt worden waren.
Holger Wertheim hatte keine Lust mehr zu reden.
Er fühlte keine Verpflichtung zur Freundlichkeit gegenüber Menschen, deren Bekanntschaft er nicht gesucht hatte. Birgits Hinweis am Anfang des Abends, dass Klaus auch ein großer Fußballfan sei, hatte Holger Wertheim als überflüssig und albern empfunden, es war ihm vorgekommen wie das Verhalten mancher Eltern, die es nicht ertragen können, wenn ihre Kinder sich nicht innerhalb von zwei Minuten mit denen der Nachbarn angefreundet haben.
Abgesehen davon, dass Klaus keine Bedenken gehabt hatte, das von Birgit hingeworfene Stichwort wie ein dressierter Papagei aufzunehmen, hatte er seine Ausführungen auch noch mit der Behauptung begonnen, dass die Niederlage der Bayern „objektiv gesehen“ verdient gewesen sei.
Nach dem Ausscheiden der Bayern hatte Holger Wertheim sich nicht mehr für den Ausgang des zweiten Halbfinalspiels interessiert. Dass Klaus auch diese Partie mit sportlichem Interesse als neutraler Zuschauer verfolgt hatte, war Holger Wertheim ziemlich egal, doch es ärgerte ihn maßlos, dass Klaus damit in Birgits Augen zu einem weltoffenen Menschen wurde, der nicht so verbohrt und engstirnig war wie Holger Wertheim.
Er brauchte nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wie Birgit reagiert hätte, wenn er am Tag nach dem Bayern-Spiel gesagt hätte, dass er am Abend erneut Fußball gucken wollte.
Er spürte, dass sich etwas ändern musste.

Birgits Zerren an seinem Körper war nicht gerade sanft. Der Reisewecker zeigte gerade mal acht Uhr an, was sollte diese Hektik am frühen Morgen?
„So wach doch endlich auf!“, drang Birgits Stimme immer lauter, aber nicht eben angenehmer in sein erwachendes Bewusstsein, „Wir müssen los!“
Holger Wertheim versuchte, sich zu sortieren. Der Urlaub war noch nicht zu Ende, es galt nicht, den Flieger für den Rückflug zu erreichen, welche dringenden Termine sollten an einem Tag wie dem heutigen auf ihn warten? Am Abend wollte er auf einem der beiden Hügel sein, um von dort das Museum zu fotografieren, aber bis dahin war noch unendlich viel Zeit.
Bisher hatte es keine Notwendigkeit gegeben, seinen Wunsch zu artikulieren, daran änderte auch Birgits Hektik am frühen Morgen nichts, doch seine verständnislosen Fragen nach dem Grund für Birgits Eile brachten sie um jede Fassung, weil Holger Wertheim damit offenbarte, dass er am Abend keine Minute lang zugehört hatte.
Sie waren mit Christiane und Klaus zum Frühstück verabredet, das hatte sie ihm sehr wohl und in aller Deutlichkeit gesagt, und der frühe Zeitpunkt war notwendig, weil man anschließend aufbrechen wollte, in jenes schnuckelige kleine Nest am Meer, das Christiane von einer Freundin empfohlen worden war.
Es hatte so vielversprechend geklungen, und Birgit hatte vor dem Urlaub gesagt, dass sie auf jeden Fall auch an den Strand wolle. Holger Wertheim war einverstanden gewesen, also sollte er sich jetzt bitte nicht so anstellen und endlich aus den Federn kommen.
Holger Wertheims Motivation für diesen Schritt war nach den Ausführungen seiner Freundin noch um keinen Deut gewachsen. Schon möglich, dass er das Gespräch am Abend nicht immer verfolgt hatte, es hatte ihn schließlich nicht sonderlich interessiert. An Birgits Wunsch nach ein paar Tagen am Meer erinnerte er sich gut und wollte auch nicht bestreiten, dass er zugestimmt hatte, aber warum musste das heute sein, und warum in aller Frühe?
Holger Wertheim registrierte, dass Birgit im Begriff war, ihre stärkste Waffe aufzufahren, denn gegen ihre Tränen war er machtlos. Sie überlegte offensichtlich, entschied sich dann aber dafür, noch einmal geduldig, wenn auch mit zitternder Stimme, alles zu erklären: Christiane und Klaus hatten keinen Wagen. Mit allem Gepäck würden sie zu viert nicht in den kleinen Mietwagen passen. Christiane und Klaus müssten also mit dem Linienbus fahren und unterwegs zwei Mal umsteigen. Um ihnen diese Prozedur zu erleichtern, würden Holger und sie das Gepäck der beiden im Auto mitnehmen.
So war es vereinbart. War das zuviel verlangt?
Den Fahrplan der Busse konnte man nicht beeinflussen, also musste man ausnahmsweise einmal früh aufstehen. War es jetzt verständlich?
Holger Wertheim nickte, doch diese Geste signalisierte nur, dass er den Sachverhalt begriffen hatte, sie sollte keine Zustimmung ausdrücken. Er verspürte keine Neigung, sich den Bedürfnissen von Birgits neuen Freunden unterzuordnen und musste sich nach keinem Busfahrplan richten. Christiane und Klaus konnten den Bus auch ohne seine Hilfe besteigen, und wenn sie Gepäckstücke aufzugeben hatten, könnten sie die vor die Tür des Zimmers stellen. Wenn Birgit ihnen beim Packen helfen wollte, hatte sie seinen Segen, es war ihm egal, sofern sie ihn bloß in Ruhe ließ.
Birgit hatte das Zimmer beinahe schon verlassen, als Holger Wertheim sich an das Museum erinnerte, das er am Abend fotografieren wollte.
„Ich möchte noch einen Tag in dieser Stadt bleiben.“, rief er ihr nach. Sie drehte sich in der Tür zu ihm um. „Wir können morgen ans Meer fahren, von mir aus den ganzen Rest der Zeit dort bleiben, wenn du willst. Morgen, aber nicht heute. Heute fahre ich nicht. Nicht jetzt, und auch nicht später. Definitiv. Was Klaus und Christiane machen, ist mir egal, ihr Gepäck können wir mitnehmen, aber erst morgen. Heute bleibe ich hier.“

An Schlaf war nicht mehr zu denken, als Birgit das Zimmer ohne ein weiteres Wort verlassen hatte. Holger Wertheims Ärger hielt sich aber in engen Grenzen und wich bald einer großen Zufriedenheit, weil er es endlich geschafft hatte, gegen Birgits dauernde Bevormundungen zu protestieren.
Wir haben beschlossen, in dieses Restaurant zu gehen, haben sogar schon ein leckeres Gericht für dich ausgewählt, wir wollen in das Nest am Meer, wir haben die Zeit für das Frühstück festgelegt; ohne seine Rebellion wäre das immer so weiter gegangen, im Zweifelsfall wären alle Entscheidungen mit einem Abstimmungsergebnis von drei zu eins getroffen worden.
Es war gut, dass er dieser Entwicklung einen Riegel vorgeschoben hatte, bevor sie vielleicht nicht mehr zu stoppen gewesen wäre.
Zum Zeitpunkt seines Aufstands waren solch grundlegende Überlegungen ihm allerdings fremd gewesen, da hatte er nur an sein Vorhaben für den Abend gedacht, und das lag ihm jetzt sehr am Herzen.
Als Holger Wertheim zum Fenster des Zimmers ging, war der Himmel wolkenlos wie am Tag zuvor. Es gab keine Garantie, dass das bis zum Abend so bleiben würde, doch es wirkte stabil.
Wenn er seine Fotos gemacht hätte, wäre seine rebellische Energie wieder erloschen. Holger Wertheim kannte sich gut genug, um das beurteilen zu können, und war durchaus zufrieden mit sich.
Er hatte nichts dagegen, morgen den Spuren von Christiane und Klaus zu folgen, hatte doch sogar schon an die Möglichkeit gedacht, Birgit und den beiden den Wagen zu geben. Dann könnten sie heute schon in dieses Kaff fahren, Holger Wertheim würde mit seiner Fotoausrüstung und seiner Zahnbürste mit dem morgigen Bus hinterherfahren.
Der Gedanke war absurd, denn Holger Wertheim brauchte den Wagen für seinen Plan. Zu den Hügeln fuhr wahrscheinlich kein Bus, und er musste nicht nur hinkommen, sondern dort auch beweglich sein. In der Stadt waren die Hügel nicht zu sehen, und Holger Wertheim überlegte, ob er die Straße zum Museum nehmen und nach einem Abzweig suchen müsste. Vielleicht gab es von der Stadt aus einen anderen Weg zu den Hügeln.
Holger Wertheim hatte den ganzen Tag Zeit, um das herauszufinden, und würde anschließend zeitig aufbrechen. Es ging ihm nicht nur um die Suche des besten Standorts, er freute sich auch auf die Perspektive, die letzte Stunde vor dem Sonnenuntergang bereits dort zu verweilen. Er würde die Stative in Stellung bringen, sich auf das Ereignis einstimmen und bis dahin bestimmt bereits etliche reizvolle Momente erleben, die einen Druck auf den Auslöser wert wären.
Der Tag fing gut an.

Natürlich hatte Birgit geweint, das konnte Holger Wertheim schon von weitem erkennen. Christiane hatte tröstend ihre Hände um Birgits Kopf gelegt. Klaus war auch da, aber der erwiderte den Morgengruß von Holger Wertheim ebenso wenig wie die beiden Frauen.
Was war so schlimm daran, dass er noch einen Tag bleiben wollte? Er hätte es natürlich auch am Abend sagen können, aber er hatte eben nicht richtig zugehört, hatte also nicht mitbekommen, dass Birgit andere Pläne geschmiedet hatte, dafür wollte Holger Wertheim sich gerne entschuldigen, auch bei Klaus und Christiane.
Holger Wertheim wollte auch nicht, dass irgendwer sich nach ihm richten musste. Eine Lösung ließe sich bestimmt finden, man könnte doch für einen Tag einen zweiten Wagen mieten, um an das neue Ziel zu kommen. Wenn das an den Kosten scheiterte, war Holger Wertheim bereit, sie zu begleichen.
Birgit schüttelte die ganze Zeit nur den Kopf. Sie wollte Holger Wertheim vielleicht alles Mögliche an den Kopf werfen, doch das schlimmste war, dass ihr völlig unbegreiflich war, warum Holger Wertheim auf einmal in dieser Stadt bleiben wollte.
Am Morgen war er nur mäßig begeistert gewesen, am Abend hatte er eher negativ geredet.
Holger Wertheim wies den Vorwurf, er habe seine Schandtaten nur begangen, um Birgit zu verletzen, weit von sich. Das war nie seine Absicht gewesen, und dass es nun passiert war, tat ihm Leid.
Er liebte sie doch und meinte das auch so.
Dann erklärte er seinen Plan, unterstrich die Bedeutung seines Vorhabens und erwähnte die Möglichkeit eines Fotos, das die Fachwelt beeindrucken würde. Ein sicheres Auftreten mit großer Entschlossenheit war jetzt wichtig, er musste jeden Widerstand im Keim ersticken, bevor ihm am Ende wieder die Argumente ausgingen.
Klaus erinnerte sich daran, dass Holger Wertheim von dem Museum enttäuscht gewesen war. Er sprach sehr vorsichtig, schlug immerhin nicht vor, nach einer schönen Postkarte zu suchen, da wollte Holger Wertheim ihm gerne erklären, dass das Gebäude ihn fasziniert hatte, und dass er es auch ablichten wollte, wenn es ein Hotel oder etwas anderes wäre.
Klaus schien begriffen zu haben, auf jeden Fall sagte er nichts mehr.
Bis Holger Wertheim dazu kam, Birgit in den Arm nehmen und ihr versprechen zu dürfen, dass er in Zukunft seinen Mund aufmachen und vor allem besser zuhören würde, war es bereits Mittag geworden.

Bald darauf begann Holger Wertheim mit seiner Suche nach einer Straße zu den Hügeln. Er versuchte es mit einer „calle para las dos colinas, que se puede ver del museo“.
Der Angesprochene schien nicht zu verstehen. Er blieb verständnislos, bis Holger Wertheim das Museum erwähnte, dann nickte er, machte eine ausladende Handbewegung und rief: „Museo! Sí, sí, museo! Lejos! Muy lejos!”
“Coche” rief er weiter und hielt dabei ein imaginäres Lenkrad in der Hand, “Taxi!”
Holger Wertheim wusste, dass das Museum weit außerhalb der Stadt lag und ohne Auto kaum zu erreichen war, doch er wollte ja gar nicht dorthin. Er versuchte es bei anderen Passanten und bemühte sich, nach den Hügeln zu fragen, ohne das Museum zu erwähnen. Seine Sprachkenntnisse waren vielleicht nicht die allerbesten, doch sie hätten gereicht, Antworten in ganzen Sätzen zu verstehen, die aber selten kamen.
Vielleicht waren seine Versuche fehlerhaft, auf jeden Fall ungeeignet, sein Anliegen zu erklären, denn als Holger Wertheim einmal dachte, dass ihn jemand verstanden hätte, befolgte er die präzise Wegbeschreibung und befand sich bald in einer „Calle Colina“, die aber nur eine kleine innerstädtische Gasse war und ihren Namen im Andenken an eine bereits verstorbene Person trug.
Der Verkäufer brachte Holger Wertheim zunächst eine Straßenkarte des gesamten Landes, hatte dann aber auch eine Detailkarte der Stadt und ihrer Umgebung im Angebot. Nachdem Holger Wertheim versichert hatte, die Karte auf jeden Fall zu kaufen und sie umgehend bezahlte, war der Verkäufer hilfsbereit.
Auf der Straße zum Museum gab es nach wenigen Kilometern keine Möglichkeit mehr, in westliche Richtung abzubiegen. Die Hügel waren dem Verkäufer unbekannt und auf der Karte nur anhand den eingetragenen Höhenlinien zu erahnen, da wollte der Verkäufer nicht beschwören, ob es die gesuchten waren. Von der groben Richtung her musste es stimmen, und wenn sie es waren, dann führte auch eine Straße dorthin.
Diese Straße war nicht einfach zu finden.
Holger Wertheim dachte bald, alle Straßen der nördlichen Außenbezirke abgefahren zu haben, doch wenn er eine Piste gefunden hatte, die scheinbar aus der Stadt herausführte, endete sie wenige hundert Meter nach den letzten Häusern an irgendwelchen Feldern oder im Nichts.
Leider war niemand da, den er nach dem Weg hätte fragen können. Er schmunzelte, als er sich an seine Versuche in der Innenstadt erinnerte, wahrscheinlich wäre das Ergebnis hier draußen nicht viel anders gewesen. Die Einheimischen hätten ihn samt und sonders als verirrten Touristen eingestuft, der das Museum suchte, hätten ihn zurück in die Stadt geschickt, damit er die Hauptstraße nähme.
Den Angaben in der Karte zufolge endete die Straße, die er suchte, nicht bei den beiden Hügeln, sie führte weiter und erreichte irgendwann sogar winzig kleine Ansiedlungen, die aber bestimmt nur von den dort lebenden Menschen angesteuert wurden und nirgendwo ausgeschildert wären.
Holger Wertheim konnte nicht mehr sagen, wie lange er bereits vergeblich suchte, doch er fühlte sich ruhig und entspannt. Bis die Sonne untergehen würde, blieben noch ein paar Stunden, und wenn er die Straße erst gefunden hätte, wäre der Weg nicht allzu weit.
Er dachte an Birgit, die sich den Nachmittag mit Klaus und Christiane in der Stadt vertrieb. Warum es Holger Wertheim so wichtig war, diese Fotos zu machen, hatte wohl niemand von ihnen verstanden; immerhin hatten sie seinen Wunsch am Ende respektiert und nicht mehr versucht, ihn davon abzubringen.
Dass Klaus und Christiane ihren Bus verpasst hatten, wollte Holger Wertheim nicht unbedingt auf seine Schultern nehmen, obwohl er eine gewisse Verantwortung für diesen Umstand nicht bestreiten konnte. Die beiden hatten ihm keinen Vorwurf gemacht, hatten nur durch die Blume zu erkennen gegeben, dass sie die völlig aufgelöste und verstörte Birgit unmöglich hatten alleine zurücklassen wollen.
In einem vergleichbaren Fall hätte Holger Wertheim sich selbstverständlich genauso verhalten und nahm sich vor, in den nächsten Tagen umgänglicher zu sein als am gestrigen Abend. Vielleicht wäre es wirklich zu keinem Problem gekommen, wenn er gleich gesagt hätte, dass er in dieser Stadt noch etwas vorhatte.
Jetzt war er seinem Ziel nahe, denn Häuser standen keine mehr an den Rändern der Straße, und die Straße hörte trotzdem nicht auf. Sie war sehr kurvenreich, außer der Fahrbahn und den Böschungen oder Mauern an ihren Seiten konnte man nichts sehen.
Holger Wertheim hielt am Straßenrand, um noch einmal seine Karte zu konsultieren. Eine andere Straße gab es nicht, es musste die richtige sein.
Die Gewissheit kam, als er eine kleine Anhöhe erreichte, hinter der die Sicht frei war, und die beiden Hügel, die es auch wirklich waren, nicht mehr weit weg waren. Die Straße wurde immer schmaler, war aber asphaltiert und gut befahrbar. Gegenverkehr gab es nicht, also gab es auch keine Probleme, einem anderen Fahrzeug auszuweichen. Die Hügel verschwanden immer wieder aus dem Blickfeld, aber die Straße war ohne Zweifel auf dem Weg zu ihnen.

Der Erdrutsch setzte aller Hoffnung ein jähes Ende.
Holger Wertheim hatte ihn rechtzeitig gesehen und gebremst, doch jetzt ging es nicht weiter.
Er stieg aus dem Auto und schaute sich das Schlammassel an, konnte es aber weder beiseite räumen noch mit dem Auto daran vorbeikommen.
Er war bereits am Fuß des ersten Hügels angekommen und entschied, an dem abgerutschten Hang entlang nach oben zu gehen. Der Boden wirkte fest, und die Alternative wäre gewesen, über das Hindernis zu klettern und weiter der Straße zu folgen. Das hätte zu lange gedauert.
Nachdem Holger Wertheim unfreiwillig zum Fußgänger geworden war, sah er sein Zeitbudget deutlich geschrumpft.
Wäre Birgit anwesend, wäre ihr Wohlwollen an dieser Stelle aufgebraucht. Sie wäre hysterisch geworden, dachte Holger Wertheim. Sie hätte ihm kategorisch verbieten wollen, den Hügel zu Fuß zu erklimmen, und wenn Klaus und Christiane ebenfalls zugegen wären, würde Birgit die beiden auffordern, zusammen mit ihr Holger Wertheim von seinem Vorhaben abzubringen, notfalls mit körperlicher Gewalt.
Holger Wertheim war weder leichtsinnig noch lebensmüde. Die ersten Schritte bestätigten seinen Eindruck, dass der Boden fest und sicher war. Unweit der Stelle, an der der Hang abgerutscht war, gab es einen nicht allzu steilen Aufstieg. Ein richtiger Weg war das nicht, Ansammlungen von Kakteen und dorniges Gestrüpp verlangten an vielen Stellen eine Änderung der eingeschlagenen Richtung, doch Holger Wertheim konnte die ganze Zeit aufrecht gehen und musste nichts riskieren.
Er hätte seine Wanderschuhe anziehen sollen, die hätten seinen Schritten einen festeren Halt gegeben, doch er hatte ja nicht ahnen können, welche Schwierigkeiten er bewerkstelligen musste, bevor er endlich seine Photos machen konnte.
Die Tasche mit der Ausrüstung wurde nach wenigen Minuten schwer, der Trageriemen rutschte zudem immer wieder von der Schulter. Der Riemen ließ sich verlängern, so dass Holger Wertheim die Tasche um seinen Hals hängen konnte, doch jetzt rutschte sie manchmal auf seinen Rücken, wenn Holger Wertheim seine Arme brauchte, um eine schwierige Stelle zu passieren, dann schnürte der Riemen seinen Hals ein. Er hätte eine Flasche Wasser mitnehmen sollen, hätte dann zwar noch mehr Gewicht zu tragen, zumindest aber die Möglichkeit, hin und wieder seine trockene Kehle zu befeuchten.
Die Sonne erzeugte noch immer eine ziemliche Hitze, doch es war gut, dass sie noch nicht weiter gesunken war, so hatte er zumindest noch eine Chance.
Holger Wertheim begann zu überlegen, ob man den Hügel, den er gerade zu erklimmen versuchte, nicht vielleicht doch als Berg bezeichnen sollte. Aus der Ferne hatte er wie ein Hügel gewirkt, im Vergleich zu den Gipfeln des Gebirges, das hinter dem Museum begann, war er wohl auch nicht mehr als ein kleiner Hügel, doch in einem flacheren Gelände hätten alle von einem Berg geredet.
Vielleicht gab es eine Definition zur Beantwortung dieser Frage, feste Bestimmungen für die Mindesthöhe über dem Meeresspiegel oder den geforderten Höhenunterschied zu der umliegenden Landschaft. Zu Hause ließe sich das recherchieren, jetzt aber war es nicht zu klären.
Holger Wertheim war bewusst, dass er, nachdem er seine Fotos gemacht hätte, denselben Weg zurückgehen musste. Es gab keinen Weg, er suchte nur den des geringsten Widerstandes und strebte weiter nach oben. Auf dem Rückweg wäre die Anwendung dieser Methode unter umgekehrten Vorzeichen nicht möglich, schließlich musste er das Auto wiederfinden.
Nach dem Untergang der Sonne wäre es bald dunkel, das ging hier viel schneller als in Deutschland.
Er hielt inne und drehte sich zurück, spürte die Erschöpfung und versuchte sich einzuprägen, aus welcher Richtung er gekommen war. Er ahnte, welche Tücken auf dem Rückweg lauern würden: Von seinem Standort sah es aus, als wäre der Weg hinab einfacher zu bewältigen, wenn man es linker Hand versuchte, doch Holger Wertheim war von rechts gekommen.
Das Auto war lange schon nicht mehr zu sehen. Wenn er die Beleuchtung des Innenraums eingeschaltet hätte, hätte es trotzdem ein Orientierungspunkt sein können. Ein noch so fahler Lichtschimmer wäre in dieser Einöde nach Anbruch der Dunkelheit bestimmt auch ohne direkten Sichtkontakt auszumachen. Den Autoschlüssel brauchte Holger Wertheim jetzt nicht, doch der Gedanke an sein Fahrzeug ließ ihn alle Hosentaschen und die Fächer der Fototasche absuchen, leider ohne Erfolg.
Er hätte umkehren müssen, um sich davon zu überzeugen, dass der Schlüssel noch im Zündschloss steckte, doch eine vorzeitige Umkehr wäre das Eingeständnis seines Scheiterns.
Holger Wertheim hätte Birgit, Klaus und Christiane einen Tag am Meer gestohlen und nichts erreicht.
Verbissen machte er sich weiter an den Aufstieg.
Es war gut, dass er allein gefahren war. Christiane, die zuvor kaum einmal das Wort an Holger Wertheim gewandt hatte, hatte zum Schluss, als die Zeichen auf allgemeine Versöhnung standen, die Idee vorgebracht, dass man den Ausflug zu den beiden Hügeln, die doch eher Berge waren, auch zu viert unternehmen könnte.
Wenn die Aussicht so grandios war, könnten Birgit, Klaus und sie ein Picknick veranstalten, während Holger Wertheim in aller Ruhe seine Fotos machte. Seine Abneigung gegen diesen Vorschlag war rein instinktiv gewesen.
Das Picknick hätte Vorbereitungen erfordert, an einen Aufbruch wäre nicht zu denken gewesen, ehe die Lebensmittelgeschäfte in der Stadt ihre Mittagspause beendet hätten, und bis dahin wären Birgit unzählige Gründe für weitere Verzögerungen eingefallen, die das gesamte Vorhaben am Ende zum Scheitern gebracht hätten.
Die aufkeimende Aggression beschleunigte Holger Wertheims Schritte und brachte ihn seinem Ziel näher. Birgit würde schimpfen und ihr Schicksal beklagen, wenn sie jetzt an diesem Ort wäre. Christiane und Klaus würden vielleicht schweigen, ihre stummen Blicke würden Birgit aber signalisieren, dass sie voll und ganz Recht hatte, und darum ging es ihr doch, immer und immer wieder.
Holger Wertheim musste den Gipfel erreichen und von dort Fotos schießen, die die Welt noch nicht gesehen hatte, das war die einzige Möglichkeit, Birgits Triumph auf ganzer Linie zu verhindern.
Die Felsen, über die er gerade kletterte, wären ein markanter Punkt für den Rückweg, die würde er wiederfinden, sogar im Dunkeln. Sie waren das letzte ernste Hindernis auf dem Weg zur Spitze und gaben Holger Wertheim die Gewissheit, einen Berg, und keinesfalls bloß einen Hügel bezwungen zu haben.
Während seines Aufstiegs hatte er den Gipfel zumeist nicht sehen können, und wenn das der Fall war, konnte man mit Sicherheit von einem Berg sprechen. Wenn seine Recherchen ergäben, dass es bisher keine klare Unterscheidung zwischen Bergen und Hügeln gab, würde er seine Erfahrungen als Vorschlag für eine eindeutige Kategorisierung einbringen.
Holger Wertheim bemerkte die Salzkrusten, die sich an verschiedenen Stellen seines T-Shirts gebildet hatten. Gerne hätte er in eine reife Frucht aus einem Picknickkorb gebissen oder zumindest seine Lippen mit einem Schluck aus einer Wasserflasche benetzt, doch er war allein und trug nur seine Fotoausrüstung.

Die lag bald ausgebreitet vor ihm, konnte ihm aber nicht helfen.
Der Berg war vielleicht doch nur ein Hügel, auf jeden Fall zu niedrig. Das Museum war zu sehen, lag aber höher als der Ort, an dem Holger Wertheim sich befand. Da fehlten, grob geschätzt, dreißig Höhenmeter.
Aus dieser Perspektive würde es ein Foto, bei dessen Anblick man immer dächte, der Fotograf wäre in die Knie gegangen, wo er sich hätte aufrichten müssen.
Zumindest konnte Holger Wertheim genug Brennweite auffahren, um den Vorplatz des Museums aus dem Blickfeld zu verbannen. Seine Begrenzung zum Tal wäre ein dicker, schwarzer Balken auf dem Bild, der alles zerstören würde.
Die Schattierungen des Hintergrunds zur Geltung zu bringen, war mit dieser Einstellung nicht möglich. Der Focus galt ganz dem Gebäude und war nicht einmal sonderlich schön.
Es wäre eines der Fotos, auf die Holger Wertheim eigentlich gerne verzichtete.
Die berühmte Straße musste von der Mitte fotografiert werden, doch wenn der Fotograf hasenfüßig auf dem Bürgersteig geblieben wäre, wären seine Ergebnisse am Ende besser als die, die Holger Wertheim in diesem Augenblick erzielen konnte.
Was ihm noch blieb, war die Möglichkeit eines Beweisfotos.
Holger Wertheim hat es geschafft, wäre seine Botschaft.
Birgit würde es mit beißendem Spott kommentieren und hätte unbestreitbar Recht.
Holger Wertheim musste lachen, als er sich ihre Reaktion ausmalte.
Er liebte seine Birgit und brauchte offensichtlich jemandem, der ihm von Zeit zu Zeit gründlich den verworrenen Kopf wusch. Er würde ein Foto machen, es mit der gebotenen Selbstironie präsentieren und Birgit jede noch so böse Lästerei ausdrücklich erlauben.
Holger Wertheim schaute wieder durch den Sucher der Kamera. Es machte nicht viel Sinn, nach einer Einstellung zu suchen, die aus den widrigen Umständen das Beste machen würde. Er brauchte nicht lange zu überlegen und konnte einfach abdrücken.
Leider war es ihm dann doch nicht vergönnt, das Foto zu machen.
Die Filme waren gespannt, die Batterien der beiden Kameras ausreichend geladen. Die Auslöser hätten reagieren müssen, verweigerten aber aus unerklärlichen Gründen ihren Dienst. Holger Wertheim wurde ungeduldig und versuchte wider besseres Wissen und gegen alle Gewohnheiten mit roher Gewalt, die Kameras seinem Willen zu unterwerfen.
Was dann passierte, konnte er nicht begreifen: Als er zum wiederholten Mal versuchte, den Auslöser seiner Kamera zu betätigen, zerfiel sie zu Staub, und als er die zweite zur Hand nahm, tat sie es ihrer Vorgängerin gleich.
 

Josie

Mitglied
Hallo Axel

Ich finde es sehr, sehr schade, dass du in dieser Erzählung über lange Strecken so weit ausschweifend geschrieben hast. Denn du hast eine tolle Schreibe! Dein Text liest sich sehr gut. Nur habe ich immer wieder den Faden verloren, weil du so viel Nebensächliches eingebaut hast, das mit dem Kern der Erzählung,
- den Beziehungsproblemen von Holger und Birgit - nur im Ansatz etwas zu tun hat.
Seine Gedanken, die er sich draußen vor dem Museum macht, z.B.,sind zwar schön geschrieben, aber wirken etwas langatmig auf mich. Ebenso die ausgedehnte Passage zum Thema Fußball, oder sein breit erklärtes fotographisches Fachwissen...u.a.
Vermisst habe ich auch die direkte Rede, den Dialog. Weil du überwiegend nur indirekte Rede gebrauchst wirkt die Handlung eher steif als lebendig.
Enorm beim Lesen gestört hat mich, dass du Holger Wertheim immer nur bei seinem vollen Namen : HOLGER WERTHEIM genannt hast. Bei der ersten Erwähnung ist das okay, aber im nachfolgenden Text nervt das nicht nur beim Lesen sondern baut auch eine Distanz zur Hauptfigur auf. Wenn du ihn aber nur bei seinem Vornamen HOLGER nennen würdest, dann ergibt sich so für den Leser mehr Nähe zur Hauptfigur, mehr Nähe zu seinen Gedanken ebenso wie zu seinen Problemen.

Sehr gelungen finde ich deine Schlußsätze! Das hat was Mystisches an sich. Ohne erkennbaren Grund funktioniert die Kamera nicht, dann zerfallen beide Kameras zu Staub...Da hast du eine tolle Spannung als Schlußakkord aufgebaut! Und ich würde sehr gerne erfahren, wie es weitergeht.
Die Geschichte hinter deiner Story klingt auf jeden Fall sehr vielversprechend, aber du solltest dir alle Absätze noch einmal gründlich vornehmen und auf das Wesentliche, das was für die weitere Erzählung wichtig ist, kürzen. Dann kommt der Kern der Erzählung viel besser zur Geltung und der mystische Abschluß wirkt dann noch spannender.

Kurz gesagt: Weniger, wäre hier mehr! Aber deinen Schreibstil finde ich echt klasse!

Gruß Josie
 

axel

Mitglied
Hallo Josie.
Vielen Dank für deine Reaktion, vor allem natürlich (wer wollte ein gewisses Maß an Eitelkeit bestreiten?) für das darin enthaltene Lob.
Aus Erfahrung weiß ich, dass auch ich bei vielen meiner Texte mit einem gewissen zeitlichen Abstand etliches entdecke, das gekürzt oder ersatzlos gestrichen werden kann.
Bei dem vorliegenden Text ist das (bisher?) nicht der Fall, was aber daran liegen mag, dass es noch nicht allzu lange her ist, dass ich ihn geschrieben habe.
Ein anderer möglicher Grund könnte sein, dass ich den Beziehungsproblemen von Holger und Birgit zwar auch eine ganz zentrale Rolle in der Geschichte einräume, dabei aber nicht so weit gehe, wie du das tust.
In jedem Fall nehme ich Anregungen zu und Kritik an meinen Texten immer sehr ernst und berücksichtige sie bei einer Überarbeitung, so dass ich dir versichern kann, dass deine Mühen mit der Geschichte nicht vergeblich waren.
Einige der Dinge, die dich besonders gestört haben, stehen ganz bewusst so und nicht anders in dem Text, wobei sie natürlich nicht die Wirkung haben sollten, die sie bei dir erzeugt haben.
Die wiederholte Nennung des vollständigen Namens ist nur ein Detail, die indirekte Rede anstelle von Dialogen allerdings nicht. Seit geraumer Zeit diskutiere ich mit einem Freund, der im Übrigen deine Ansichten zu dieser Frage teilt, bin aber nach wie vor der Ansicht, dass die Verwendung der indirekten Rede den LeserInnen vielleicht mehr abverlangt, dafür aber ungleich ausdrucksstärker sein kann als Dialoge.
Vielleicht muss ich irgendwann erkennen, dass ich damit ganz und gar auf dem Holzweg bin, zumindest aber scheint es nötig zu sein, mehr an meiner Technik zu feilen, denn steif wirken soll und darf es natürlich nicht. Ich denke weiter darüber nach und danke dir noch einmal für deine Antwort.
Schönen Gruß von Axel.
 



 
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