Das Opfer

Er vermeidet jedes überflüssige Wort, will damit aber nicht philosophische Weisheit demonstrieren. Eine Angewohnheit ist es, eine einfache Angewohnheit. Auch heute Morgen um 7.00 Uhr stieg er mit zusammengebissenen Zähnen, Aktentasche und gebeugtem Nacken in den Bus, der ihn jeden Werktag außer samstags zur Arbeit bringt. Auf dem Weg zur Haltestelle roch die Herbstluft irgendwie intensiver, kein Kopfschmerz plagte ihn und seine Beine folgten wie von selbst einer wesentlich entschlosseneren Gangart.
Der Busfahrer, unausgeschlafen, einer, den Dietrich noch nicht kannte, forderte ihn unwirsch auf, sein Job-Ticket vorzuzeigen. Dietrich, sonst eher eilfertig, nahm sich Zeit, kramte in aller Ruhe zunächst sein Portemonnaie und daraus das Ticket hervor, grinste absichtsvoll unverschämt und hielt es dem Fahrer unter die Nase. Guten Morgen, erst einmal! Und im übrigen geht es doch wohl auch freundlicher, Herr Busfahrer! Oder?
Aber selbstverständlich . Herzlichen Dank, der Herr! Wünsche eine gute Fahrt!
Danke, knurrte Dietrich, wankte, da der rachsüchtige Fahrer rasant anfuhr, zu seinem Platz, fiel in den Sitz und rutschte, nachdem er sich die Knie heftig am Vordersitz stieß, ans Fenster.
Die meisten, nein, eigentlich alle seiner wenigen Bekannten und umso zahlreicheren Kollegen, halten Dietrich für bedauernswert. Er weiß das. Dennoch verspürt er manchmal urplötzlich diesen ungeheueren Drang loszubrüllen, abschätzig, ehrverletzend, ausfällig zu werden, alles auf einmal und in bösester Absicht.
Beim Sex schweigt er auch, steht dabei aber weder auf Schmerz noch auf Erniedrigung oder gar darauf, ans Bett gekettet zu werden. Schon leichteste Schmerzen machen ihn für Stunden impotent. Und Marions Lustbisse, sie beißt mit gespielter Leidenschaft in seine Arme, Schultern und Oberschenkel, lassen das nicht gerade übergroße und männlichste seiner Glieder schlagartig erschlaffen. Dein kleiner Indianer kennt wohl keinen Schmerz, höhnt Marion und er hat sie im Verdacht, sie beiße nur dann, wenn sie keine Lust auf mehr habe.
Im Büro des Jugendamtes ist Stadtoberinspektor Dietrich Hohlmann Opfer - bedingungslos und vor allem das von Hugo Hastrich, seinem Büronachbarn und Gruppenleiter. Die Kollegen sind froh, dass der sich Dietrich auswählte. Dafür hat er in der Gruppe das alleinige Recht Hugo Hastrich seit ihrer gemeinsamen Geburtstagsfeier zu duzen.
Guck mich an, raunte Hastrich an jenem Donnerstag vor zwei Jahren. Und Dietrich starrte in die blaugeränderten Triefaugen seines Abteilungsleiters. Beide wurden sie in derselben Woche fünfundfünfzig - Hastrich am Montag, Dietrich donnerstags. Sie feierten donnerstags in Hastrichs Büro. Dietrich sorgte für ein üppiges kaltes Buffet mit Lachs, Hüttenkäse und Gänseleber. Hastrich spendierte zwei Flaschen Aldi-Sekt. Der reichte nicht einmal, um allen Kollegen ein halbes Glas einzuschenken. Mit einem viertelvollen trank Dietrich Bruderschaft. Hastrich prostete ihm mit einem randvollen zu.
Wenn Hastrich, wie immer ziemlich unvermittelt aus seiner depressiven in die manische Phase wechselt, sagt Dietrich bereitwillig und erleichtert wieder Sie und, aber selbstverständlich, Herr Hastrich, bin natürlich ganz Ihrer Meinung. Des Herrn Abteilungsleiters ansonsten trübe Augen funkeln nach jedem der in scharfem Befehlston vorgetragenen Aufträge gieriger. Sein Mund verströmt den Geruch gerauchter Zigarillos und versprüht feinsten Speichelregen. Das rechte Auge, nicht, wie das linke durch dessen Lid halb verhangen, strahlt wie eine blendenden Verhörlampe.
Als er heute Morgen am Hauptbahnhof vorn beim Busfahrer ausstieg, verabschiedete der sich, „und, mein Herr, beehren Sie meinen Bus bitte recht bald wieder.“
Als Dietrich sein Büro betrat, roch es wie immer nach abgestandenem Kaffee, Staub und vor allem nach Rauch. Trotz strikten Rauchverbots in städtischen Büroräumen hinterläßt Hastrich während seiner manischen Hochphasen täglich einen bis an den Rand mit Zigarillostummeln gefüllten Aschenbecher. Dietrich reißt das Fenster auf, wirft die Tür zu Hastrich Büro ins Schloss, stellt sein kleines Transistorradio ein und regelt die Lautstärke so, dass es alle sonstigen Bürogeräusche übertönt - das Gluckern der Heizung, das Rauschen des Computers und vor allem die schrille Telefonstimme der Schmittke, seiner anderen Büronachbarin. Vor wenigen Tagen hat die eine Schulung für Telefonkommunikation absolviert und will nun alle Büronachbarn und ihren Abteilungsleiter davon überzeugen, wie treffsicher sie den richtigen Ton im Umgang mit anrufenden Bürgern zu finden weiß. „Guten Morgen, Frau Qualmann, Schmittke ist mein Name. Ich bin Mitarbeiterin des Jugendamtes, Abteilung Familienfragen. Was kann ich für Sie tun...? Das mache ich doch sehr gern. Selbstverständlich würde ich mich freuen, wenn Sie mich bald wieder anrufen. Danke schön und ich hoffe, Sie waren zufrieden... . Auf Wiederhören, Frau Qualmann.“
Büronachbar Hastrich unterbricht das nächste musterhaft geführte Telefonat der Schmittke mit bellendem Raucherhusten, der, einem lebensbedrohlichen Asthmaanfall gleichend, in lautem Röcheln erstickt.
Früher stürzte Dietrich bei derartigen Anfällen in Hastrichs Büro. Doch stets fand er einen Abteilungsleiter vor, der mit hochrotem Glatzkopf versicherte, er sei gerade in der Lage besonders gut durchzuatmen. Aber weil Dietrich nun mal da sei, könne er gleich noch einige wichtige Vorgänge zur Erledigung mitnehmen.
Dietrich dreht den Lautstärkeregler seines Radios bis zum Anschlag.
Hastrich reißt die Tür auf, die ihrer beider Büros nur, so lange sie abgeschlossen ist, voneinander trennt. Den Schlüssel hat Hastrich.
Brüllend versucht der den Radiolärm zu übertönen. Dietrich zuckt mit den Schultern, um seinem Abteilungsleiter anzudeuten, er verstehe bei der lauten Musik nicht das Geringste.
Hastrich, eher dem blassen Hauttyp zuzurechnen, läuft blaurot an. „Dann stell das Ding doch aus!“ Dietrich zuckt erneut mit den Schultern.
Hastrich stürzt zur Fensterbank, greift sich das kleine Radio, findet den Aus-Knopf, drückt ihn. - Stille. - Bekommt seinen nächsten Hustenanfall. Dabei fällt ihm das Radio aus der Hand, schlägt auf dem Boden auf. Schaltet sich dabei wieder ein. Hugo Hastrich hustet weiter, tritt nach dem Radio. Es landet unter dem Heizkörper am Fenster, ohne Lautstärke einzubüßen. Dietrich setzt seinen unterwürfigsten Blick auf und richtet diesen so sanft wie möglich auf den noch immer Hustenden. Der baut sich vor Dietrichs Schreibtisch auf mit hocherhobenen Fäusten, lässt diese unvermittelt fallen. Einen Moment lang schlenkern die Arme neben dem dicklichen Abteilungsleiterkörper, wie die einer Marionette unmittelbar nach einem dramatischem Auftritt. Hastrich dreht sich auf den Hacken um, verschwindet in seinem Büro, schließt die Tür hinter sich und das auch noch unerwartet leise.
Auf allen Vieren krabbelt Dietrich unter den Schreibtisch und holt das Radio unter dem Heizkörper hervor. Der Verkehrsfunksprecher zählt gerade die Staus auf den Autobahnen Nordrhein-Westfalens auf. Behutsam drückt Dietrich den Aus-Knopf.
Die Schmittke beendet ihr nächstes gewohnt lautstark geführtes Telefonat.
Dietrich kriecht unter dem Schreibtisch hervor, setzt sich in seinen Bürostuhl, tippt seinen Namen in die Computertastatur und sieht am Monitor vorbei aus dem Fenster. Die Herbstsonne lugt über das Dach des Nebengebäudes. Im Büro gegenüber schminkt eine neue Kollegin ihre Lippen und zupft anschließend an ihren blonden Haaren, offenbar um sich ein verwegenes Aussehen zu geben. Sie blickt aus dem Fenster, entdeckt Dietrich und streckt ihm die Zunge heraus. Dietrich winkt. Sie winkt zurück.
Langsam steht er auf und öffnet lautlos die Tür zu Hastrichs Büro. Der steht an seinem Fenster und versucht der Blonden gegenüber zurück zu winken. Die aber wendet sich abrupt ihrem Computer zu.
Leise schließt Dietrich die Tür wieder, klopft an, wartet, klopft noch einmal.
Hugo Hastrich sitzt inzwischen, den Kopf in beide Händen gestützt an seinem breiten Schreibtisch.
Na, was gibts?
Nichts, eigentlich.
Soll das heißen, du hast nichts zu tun?
Dietrich lacht und nickt.
Schmittkes Telefon klingelt. Jugendamt, Sie sprechen mit Inge Schmittke. Guten Morgen, Frau Hansen, was kann ich für Sie tun?"
Nichts, brüllt Hastrich und bittet Dietrich, die Tür von außen zuzumachen. Bevor der sie ganz schließen kann, winkt Hastrich ihn zu sich. Mach einen Tag frei, hörst du, mach einfach einen Tag frei!
Dietrich schüttelt den Kopf und grinst. Hugo Hastrich stemmt sich mit beiden Händen von seinem Schreibtisch hoch, sinkt zurück und blickt gequält zu Dietrich auf.
Der stellt sich breitbeinig vor Hastrichs Schreibtisch, blickt seinem Abteilungsleiter in die trüben, blaugeränderten Augen, greift nach dem von Zigarillo-Kippen überquellenden Aschenbecher und schüttet dessen Inhalt ganz langsam über Hastrichs Glatzkopf.
 



 
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