Das Republikanische Kind

bientexter

Mitglied
Das republikanische Kind ist genau so alt wie
die Republik. Und die denkt in diesen Tagen zurück.
Kein Wunder, dass das Kind das auch tut.
So denkt es:

Ob Du ein interessantes Leben geführt hast,
erkennst Du immer erst, wenn's vorbei ist.

Hm, keine Sorge, statistisch hast du noch ein
Vierteljahrhundert. Als Mann. Als Frau 6 Jahre
länger. Als Mann aber nur die Chance 50:50,
überhaupt 70 zu werden. Naja, als Kind bist
Du erstmal ein Neutrum.

Welchen Geschlechts oder wie lange auch immer,
das Leben wird nicht mehr sein als das:
Die erste Probe für ein Theaterstück,
und das wird nach dieser Probe nur einmal aufgeführt.

Du glaubst an Reinkarnation?
Na schön, Du hast für jedes Leben nur eine Probe.
Und es wird jedes nur einmal aufgeführt.
Wenn Du Dich danach besser fühlst...

Dies ist die vierte Republik, republikanisches Kind.
Reinkarnation?

Hier Dein Leben, republikanisches Kind:

7 Jahre Kindheit in einem oberbayrischen Dorf
in den Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts.
Lieblingsfahrzeug: Lantz Bulldog und amerikanische
Panzer bei Manövern. Verschleppung in den Norden
durch die Eltern. Lehrer, die schon in Nazi-
Deutschland unterrichteten oder damals erzogen
wurden. Vermischt mit Ausnahmen, die einfach
gerecht sein wollten. Messdiener in der einzig
seligmachenden Sekte, die staatlich gefördert
wird. Lehre in einem Verlag- eine Verlegenheitslösung.
Jahre, die keine Herrenjahre waren.

Wehrdienst verweigert, durchgefallen: das Kind
(aha, ein Junge, natürlich, männlich wie die
Republik) hätte kein Gewissen.
Idiotentest bei der Bundeswehr:
Note 1 für einen Aufsatz, der erklärt,
was das Kind von dieser Institution hält.

Zweifel an der Republik von einem Kind,
das so alt ist wie sie?

Weiter ins Leben gestürzt:
Sachbearbeiter unter Leitung von Erbsenzählern.
Kein Gehalt, sondern Schmerzensgeld.
Vier Jahre Pressefotografie für die Zeitungskrake im
Ruhrgebiet. Selbst so gewollt.
Bis die Tage sich zu ähnlich wurden.

Ruhr-Kolleg in der Hauptstadt des Ruhrreviers.
Wieder zum Schüler erniedrigt. Zum Lohn Abitur.
Studium und beinahe Lehrer. Literaturzeitschrift
gegründet, die gibt's heute noch.
Drei Bücher geschrieben,die heute
(Gott sei Dank?) nicht mehr aufgelegt werden.

Ist das typisch für die Generation der
republikanischen Kindern?

Vater gestorben, Vater geworden.
Aus heiterem Himmel gelernt,wie man Marketing,
PR- und Werbetexte/Konzeptionen macht.
Und dann auf so unterschiedlichen Etats
gearbeitet wie AOK, Telekom, Schlaraffia,
SPD, Verlagsgruppe Lübbe.

Zum Spaß eine Handvoll satirischer Kurzbeiträge
geschrieben für Funk und Fernsehen.
Mutter gestorben. Jogger geworden. Boule-Spieler.
Zum Spaß.

Politisch? Pazifist. Ein Pazifist ist einer, der
Soldaten mag. Wie? Andere republikanische Kinder
denken, ein Pazifist hasst Soldaten? Wer hasst
jemanden mehr: der, der Soldaten dnicht in einen
Krieg schickt, weil er nie einen führen würde?
Oder der, der Soldaten in einen Krieg schickt.

Ehrenvoll ist es, für's Vaterland zu sterben?
Das galt in den Republiken davor.

Und jetzt sind sie bald 52, das Kind und die Republik,
das Kind und das gleichalte Vaterland.

Wie singt Frau Knef?
Das kann doch nicht alles gewesen sein.
Immerhin: für die wird's rote Rosen regnen.

Das republikanische Kind dagegen, nur eines von
vielen, von dem hier die Rede ist, schieb ab.
Und zu eine ruhige Kugel am Boule-Platz.

Die Republik läßt sich inzwischen einiges durch
den Kopf gehen. Eine Kugel zum Beispiel -
in Mazedonien.
 
L

loona

Gast
Hallo Bientexter...

wieder bin ich in einen Deiner Texte gestolpert und gebe mich dem Genuß hin, sie imaginär vom SWF3-Sonntags-Europas-Länder-wortspielerisch-Darsteller vorlesen zu lassen. (Hatten wir's nicht schon mal davon... in mir keimt eine Erinnerung auf...)

Ich finde Deine Sichtweise, ebenso wie die Art, sie rüberzubringen sehr interessant. Mein Dad ist ein Kind des Kriegsendes, er liest gerne Tucholsky laut (und gut), aber seine Zeitschriftenartikel drehen sich (leider) nur um Teesorten und Dampfloks - oder Vogelschutzgebiete. Verschenktes Potential, wenn ich mir da Deine Zeilen anschaue. Möglicherweise mangelnde Selbstreflektion. Aber dafür muß man auch ein wenig mutig sein...

Deinem Mut applaudierend...

loona

PS: wenn ich darf, werde ich ihm mal ein, zwei Texte von Dir ausdrucken und schenken... Dies sei eine Anfrage.
 



 
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