Das Rumpelstilzchen-Phänomen

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sabiko

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Das Rumpelstilzchen-Phänomen

Bei jeder noch so werbungsgemäß-glücklich-strahlenden Mutter kommt scheinbar irgendwann, vornehmlich nachts, der Zeitpunkt, da sie sagt: „Ich schmeiß das Kind aus dem Fenster!“ Bei mir war dieser Zeitpunkt ca. zwei Wochen nach der Geburt meines Sohnes gekommen.

Ich kannte mich mit der Pflege Neugeborener so gut wie gar nicht aus (bis eben auf die Erfahrungen, die ich in den vergangenen zwei Wochen gesammelt hatte). Ich hatte als kopfgesteuerte Akademikerin scheinbar meine Verbindung zu den Instinkten verloren, die mir gesagt hätten: „Dein Kind hat Blähungen!“ Und als alte Mutter von 36 war es um meine Nerven schon so schwach – manche würden auch sagen „senil“ - bestellt, dass ich nach einigen durchwachten Nächten und vielen Tagen mit Babygeplärr eines schönen Tages, nein - nachts, dem Vater des Kindes erklärte: „Nimm Du ihn oder ich schmeiße ihn aus dem Fenster!“

Eine Sekunde später stellte sich das schlechte Gewissen ein. Wie konnte ich so etwas sagen? Welch ein Anflug von brutaler Aggression meinem Kind gegenüber? War ich eine Rabenmutter? Diese Frage konnte nur rhetorisch sein, da ich sie schon im Voraus mit „Ja“ beantwortet hatte. Wie aber soll man als Frau mit der Erkenntnis weiterleben, eine brutale Rabenmutter zu sein, die in Therapie aber keinesfalls mit einem Kind allein zu Hause gelassen gehörte?

Mama nahm Zuflucht in die Logik und kam zu der Erkenntnis, dass, wenn alle Mütter diesem innersten Trieb gefolgt wären, die Menschheit mittlerweile flugfähig wäre und sie kein schlechte Gewissen haben müsste. Denn dann hätten ja nur die ihre Gene forttragen können, die auf irgendeine Weise den Fenstersturz im Säuglingsalter überlebt hatten.

Von Familien, die über Generationen im Erdgeschoss leben, sah ich ab. Attraktiv war hierbei allerdings die Erkenntnis, dass sich parallel dazu die Mieteinnahmen für Wohnungen im Erdgeschoss kontinuierlich erhöht hätten....

Als ich meinem Umfeld mein Herz öffnete, konnten über diese Theorie dennoch nur diejenigen meiner Freunde wirklich lachen, die auch schon nachts in ihren Betten gesessen und im Geiste bereits das Fenster geöffnet hatten. Einen Nobelpreis – auch wenn es um die direkte Flugfähigkeit des Menschen ohne jegliche Hilfsmittel ging - musste sich Mama also abschminken. Noch nicht einmal der Vater zeigte sich sonderlich begeisterungsfähig, auch wenn er leidenschaftlicher Segelflieger ist.

Um selbst weiter in den Spiegel sehen zu können (und auch um anderen auf eine Weise mein Leid klagen zu können, ohne gleich einen Besuch vom Jugendamt zu riskieren), musste also der Mutter Aggressionsabbau auf andere Weise erfolgen. Kann Schlafentzug zu Visionen führen? Denn eines Tages hatte ich das folgende, klassische Motiv vor Augen: „Rumpelstilzchen! Wie es um das Feuer tanzte und dabei sang: „Übermorgen hol ich der Königin ihr Kind.“ Im Geiste trat ich an das Feuer heran und stieß Rumpelstilzchen kumpelhaft meinen Ellenbogen in die Seite: „Hey, Du, alter Knabe. Wenn Du erst übermorgen zur Königin musst, wie wäre es dann heute nacht mit einem kurzen Besuch bei uns?“

Und von da an gab es zwei positive Ereignisse in meinem Leben. Zum einen konnte ich Freunden lachend berichten, dass mich mein Kind wahnsinnig machen würde. So wahnsinnig, dass ich in Erwägung ziehen würde, es Rumpelstilzchen zu vermachen. Und meine Freunde lachten und freuten sich über diesen niedlichen Gedankengang. Und zum anderen fühlte ich seitdem eine immens große Dankbarkeit dafür, dass es sich bei Rumpelstilzchen lediglich um eine Figur aus den Märchen der Gebrüder Grimm handelt, dessen Namen ich obendrein schon kenne. „Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß..."? Denkste!!!

Und vielleicht führte diese Dankbarkeit den Gebrüdern Grimm gegenüber auch dazu, dass ich nun schreibender Weise vor dem PC sitze und nicht in Stockholm bin, um meinen Nobelpreis für Biologie entgegenzunehmen.
 



 
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