Das Spiegelbild

Omar Chajjam

Mitglied
Das Spiegelbild

Wenn Barbara Beder vor ihrem Frisiertischchen im gemeinsamen Schlafzimmer saß, konnte sie die Zeit vergessen, die um sie herum immer hektisch und schrill vorbeifloß. Stunden verbrachte sie hier, während ihr Mann stumm mit dem Computer spielte oder an den Fliesen im Keller herumbastelte. Barbara Beder-Behnhausen war keine Frau, wie sie üblicherweise in den Geschichten vorkommen, häuslich, arbeitsam und Dienerin ihres Herrn. Im Gegenteil, das zeigte schon der zweite Name Behnhausen, den sie von ihren Eltern mitgebracht hatte und dem etwas trivialen Beder nachstellte. Besonders effektvoll machten sich die drei verschlungenen B auf ihrem Briefkopf. Barbara oder Babe wie ihre Freundinnen sie nannten, hatte sich darüber hinaus nach ihrem Betriebswirtschaftsstudium zu einer Führungskraft in der lokalen Volksbank emporgearbeitet und führte deren Börsengeschäfte. Ihr Mann war derweil ein kleiner Beamter geblieben. Ihr schien es immer, als sei er wie ein kümmerlicher Kaktus in ihrem Wintergarten, der einmal vielversprechend begonnen hatte, aber einfach nicht über seine Zwergengröße hinauswachsen konnte und langsam alle Stacheln verlor, während sie daneben aufblühte zum prächtigen Rosenbusch und ihn überschattete. Aus der Gewohnheit des Alltags hatte sie trotzdem nie daran gedacht, sich von ihm zu trennen. Seine Lebensstellung gab ihr das unbestimmte Gefühl von Sicherheit. Im Kreis ihrer Freundinnen meinte sie zu diesem Thema, daß der Gegensatz zum Trivialen das Besondere doppelt bedeutend wirken ließe und daß Freiheit auch einer gewissen Grundlage in der Ehe bedürfe.

Nicht oft leistete sich Barbara den Luxus ihres Frisiertischchens zwischen den vielen Terminen. Aber wenn sie sich einmal die Zeit nahm, überprüfte sie jedes Detail ihres ebenmäßigen Gesichtes, um das die braunen Locken spielten. Die Haut begann nachzulassen, das war nicht zu leugnen, dieses Jahr würde sie vierzig werden. Doch mit der ausreichenden Menge Cremes ließ sich bisher noch jedes Fältchen glatt bügeln, das sich um ihre großen rehbraunen Augen herum bildete. Neben ihrer hohen, wohlgeformten Gestalt waren es vor allem die Blicke aus diesen beiden Lichtern, die die vielen Männer blendeten, die vor ihr auf ihrem Karriereweg gelegen hatten. Darum wurde alles, was dieses Ensemble störte zu einer Bedrohung für Barbara.

Was aber würde nach den vierzig ersten Lebensjahren folgen, was würde mit ihr geschehen in dieser unbekannten Epoche der folgenden vierzig Jahre? Würde sie vielleicht alle duftenden Blüten ihres Rosenbusches verlieren und auf das Zwergenniveau ihres Ehemannes degenerieren? Eine Börsenmaklerin denkt rationaler und sieht vor sich die Schimäre einer alt gewordenen Bürovorsteherin, die, geduldet neben den Männern in den großen Banken auf den Karrierewegen zu den Sternen, das Gnadenbrot erhält. Das alles ging Babe durch den Kopf, oft wenn sie wieder eine kleine Korrektur einer Unebenmäßigkeit ihres Teints vornehmen mußte. Es mußte doch eine andere Lösung geben, das Leben mußte doch noch etwas zu bieten haben.

So starrte sie auch an diesem stillen Januarabend, bei dem der kalte Polarwind draußen sich tief in die Haut der wenigen Passanten einschnitt, auf ihr Spiegelbild. In der Konzentration auf die Details begannen die Züge ihres Gesichtes zu verschwimmen und eigene Formen anzunehmen, ganz ähnlich wie es manchmal bei schlecht eingestellten Fernsehgeräten der Fall ist. Zeitweise erschienen im Flimmern Bilder einer fremden Landschaft wie aus einem Traumgesicht. Manchmal nahm sie auch merkwürdige Geräusche wahr, so als würde Wasser in irgendwelche Blechgefäße fließen. Aber das war wohl nur ihr Ehemann, der sich im Bad zu schaffen gemacht hatte.

Babe hatte schon von der Möglichkeit gehört, daß Spiegelbilder sich selbständig machen konnten, häufig, daß sie mit einem sprachen, wie im Märchen von Schneewittchen, manchmal, daß man sich in sie verliebte, wie der Narziß in sein eigenes oder gar, daß sie verkauft wurden wie bei dem armen Hoffmann in Offenbachs gleichnamiger Oper. Daß Spiegel aber auch die Realität verändern können, diese Erfahrung durfte in diesem Augenblick machen. Oder wie würden Sie es deuten, wenn Sie in einen Spiegel blicken und wie durch ein schwarzes Loch am anderen Ende ihres eigenen Ichs wieder erscheinen. Vergleichen Sie es mit einem Zug, der rasend schnell aus einer freundlichen Ebene mit blühenden Kirschbäumen durch einen pechschwarzen Tunnel mitten in einer zerklüfteten Gebirgslandschaft herauskommt.

So erging es Barbara, als sie in ihr Spiegelbild blickte. Ihr Gesicht war mit einem Mal voller Falten, Höhlen und Klüfte. Ihre Wangen waren braungebrannt wie die dunkle Erde des umgebenden Landes. Das Haar war verfilzt und kraus unter einem grellbunten Tuch aus grobem Leinen. Nur die großen rehbraunen Augensterne blickten sie aus den schwarzgetuschten Wimpern an.

War es denn wirklich Barbara, die sie da ansah oder hieß sie nicht Fatme, die an einem Brunnen an der großen Straße von Damaskus nach Bagdad saß und in ihren Spiegel blickte? Zu hause warteten die Kinder und die Eltern Fatmes auf das Wasser aus den zerbeulten Blechkanistern, damit mit dem Kochen begonnen werden konnte. Das Eselchen, das sie hergetragen hatte, stand geduldig in der prallen Sonne während die anderen Frauen unter den Palmen am Brunnen schwatzten. Gelegentlich hielten hier Touristenbusse, um das malerische Bild an der großen Straße zu fotografieren. Dann schenkten die bleichgesichtigen, weichbäuchigen Kulturreisenden aus den fernen europäischen Ländern den Frauen ein paar Kleinigkeiten, meist Kugelschreiber, die die Kinder im Dorf begeistert sammelten und tauschten. Fatme hatte bei so einer Gelegenheit den kleinen Messingspiegel erhalten, den sie jetzt in der Hand hielt. Sie hatte gleich gefühlt, daß in ihm ein Zauber steckte, doch wußte sie nicht, was es genau war. Immer, wenn sie hineinblickte, erschien ihr schemenhaft hinter ihrem eigenen Gesicht im Spiegel die Umrisse eines anderen Frauengesichts. Die Frauen dieses Landes am Euphrat sind neugierig und klug. Darum hütete sie diesen Spiegel wohl vor den vielen Fingern und Augen, die ihr kleines Leben zwischen Brunnen und Haus begleiteten.

Nur im Schatten abseits von den andern Frauen in ihren bunten Gewändern blickte sie heimlich hinein und suchte nach dem Gesicht der fremden Frau, das ihr so ebenmäßig und rein schien wie das der Engel des Paradieses. Auch in diesem Augenblick in der Ruhe und im Schatten der Palmen am Brunnen war wieder einmal die Chance, nach dem Geheimnis des Spiegels zu forschen. Das war auch der Augenblick, in dem sie wußte, daß sie in dieser Erscheinung ihre andere Wirklichkeit gefunden hatte. Nicht mehr Fatme, nein, Barbara blickte sie aus dem Spiegelchen an und sie selbst saß an einem Frisiertisch in einem fremden Schlafzimmer. Ihr erstes Leben in der fernen syrischen Ebene, lag weit hinten im Nebel verborgen, der ihr Spiegelbild umgab. Sie hatte sich in diese seltsame Frau verwandelt, die ihr im Spiegel erschienen war.

Der rundliche Mann am Fernsehgerät im Nachbarzimmer hatte nichts von der wundersamen Verwandlung seiner Frau bemerkt, als er schläfrig durch den dunklen Raum zu seinem Ehebett tastete und sich schwer neben seine Frau fallen ließ, die inzwischen zu Bett gegangen war. Er konnte nicht die fremden, ebenholzschwarzen Augen, die in der Dunkelheit wie zwei Zwillingssonnen leuchteten und, die feindlich auf ihn hinunter starrten. Fatme hatte verstanden, was mit ihr geschehen war. Sie hatte alle Fähigkeiten und Kenntnisse Barbaras, aber mit der durstigen Seele einer Frau der syrischen Steppen und dem Hunger nach dem Recht auf ein eigenes Leben, das sie nie hätte gewinnen können unter dem ewig drückenden Wind des kargen Landes. Dort hatte doch alles nur den einen Sinn Leben zu erhalten und zu schaffen unter der drohenden tödlichen Sonne.

Fatme oder wie sie jetzt hieß, Barbara begriff schnell im Alltag des neuen Lebens, daß in dieser kalten, feuchten Welt, in der sie sich wiedergefunden hatte, die Frau frei von dieser Pflicht und Drohung lebte. Und noch ein anderes lernte Fatme in diesem im Wohlgefühl des an Überfluß berstenden neuen Lebensabschnitts, der Mann an ihrer Seite hatte keine Bedeutung. Wie ganz anders war das in ihrem früheren Leben, in dem sie ausgegrenzt war von der Gesellschaft der Männer und mit den anderen Frauen den Pflichten der strengen Gesetze ihres Glaubens folgen mußte. Sicher gab es in den Träumen der Frauen den Prinzen auf dem prächtig geschmückten Schimmel aus den Märchen um Tausendundeine Nacht, der feurig über die Steppe sprengte, um das Herz der Geliebten zu erobern. Aber alles blieb nur ein Märchen, eine unbestimmte Sehnsucht. Es sei denn, man besitzt einen Zauberspiegel.

Barbara oder eigentlich Fatme wußte wohl ihr Schicksal zu deuten. Für sie hatte sich das Märchen erfüllt. Nur daß Herr Beder sicher nicht der Held war, der zum Märchen paßte. Darum konnte er nicht begreifen, was seine Frau so verwandelt hatte. Hatte er sich doch seine kleinen, engen Wege im Leben so sicher und wohl befestigt gebaut, daß er sich dieses alles vernichtende Erdbeben nicht vorstellen konnte. Dabei, lieber Leser, tritt doch die Frau in das Leben des Mannes wie ein Sturm, warum sollte nicht das Ende gleich ungeheuerlich wie der Anfang sein. Nur, solange er durch das gemeinsame Leben träumt, bemerkt der Mann die Kraft nicht, die ihn trägt. Darum wurde das Schicksal dieses kleinen Mannes besiegelt, als Fatme oder Barbara ihren Prinzen fand und mit diesem Mittel die Freiheit fand, die sie so ersehnt hatte unter der drückenden Last des allgegenwärtigen Staubes ihres alten Lebens.

In diesem fremden Land sind allerdings die Prinzen keine stolzen Beduinenfürsten auf weißen Pferden. Sie sind allenfalls Vorstandsmitglied einer Bank oder Polizeipräsident mit einem weißen Mercedes. Aber was tut das schon zur Sache, denn das wußte Fatme, sie war klug mit der Klugheit aller Frauen aus der Steppe, daß die Männer dieses Landes auch wenn sie Prinzen schienen, nur die Knechte ihrer Frauen waren. Wie leicht wurde sie in diesem Bewußtsein. Wie ein Vogel unter dem Himmel konnte sie sich hier erheben über diese niedrigen kleinen Wesen und sie nach ihren Wünschen benutzen.

Manche von euch werden jetzt sicher fragen, was aber geschah mit Barbara, die sich doch in Fatme verwandelt hatte? Keiner kennt genau ihr Schicksal. Die einen behaupten, sie lebe in der großen Stadt Damaskus und bettele dort in der Nähe der breiten Straße, andere erzählen, sie sei in einem Bordell in Aleppo gelandet. Auf jeden Fall ist der erste Teil der Geschichte allen im Dorf bekannt. Wie Fatme eines Tages ohne Wasser vom Brunnen heimkehrte und ihrem Mann erklärte, daß in Zeiten der Emanzipation die Frau nicht die Dienerin des Mannes und schon gar nicht ihrer Söhne sei und sich von da an strikt weigerte für die Familie zu kochen. Auch für die Arbeit auf dem Feld war sie nicht mehr zu gebrauchen und begann statt dessen ständig ihre Haare zu bürsten und ihr Gesicht nach Fältchen abzusuchen. Sogar mit ihrem Mann, einem liebenswerten Bauern in den besten Jahren seiner Manneskraft, wollte sie nicht mehr schlafen und nannte ihn einen blöden Kameltreiber. Das ganze Dorf lachte schon über ihn, war er doch einmal einer der angesehensten Mitglieder im Rat gewesen.

Die Familie beriet sich damals und schickte nach einem Seelendoktor in der Stadt. Der kam mit einem großen weißen Auto und hatte sie dann mitgenommen. Dort, sagt man, sei sie irgendwann aus dem Krankenhaus verschwunden. Angeblich habe sie ein Offizier entführt. Aber das sind alles Gerüchte. Wahr ist, daß der Bauer Bedur seiner Fatme ein Leben lang nachtrauerte und die kleine Familie heute im Elend lebt bei den Ställen am Rand des Dorfes an der staubigen Straße von Damaskus nach Bagdad.
 

sammettiger

Mitglied
Statement

Hi Omar,

für mich ist dein Text eher ein Statement, denn eine Erzählung.

Was mir fragwürdig erscheint, ist der zu offensichtlich hoch erhobene moralische Zeigefinger.

Beste Grüße von Peter alias sammettiger
 

Omar Chajjam

Mitglied
Hallo sammettiger, ich hab den Zeigefinger mal gelöscht. Er gehört ja eigentlich an das Ende eines Märchens. Und ich bin jedes Mal versucht, ihn anzwenden. Aber es ist ein Fehler. Danke auch an Willi Corsten, dem die Geschichte trotzdem gefällt.

Gruß
Omar
 



 
Oben Unten