Das Tagebuch des Garlien Dunk

Manuel

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Es fing alles mit einem feinen, kleinen Büchlein an. Es hatte einen grünlich marmorierten Einband und ein schwarzes Stoffband, mit dem es zugebunden werden konnte. Garlien Dunk kaufte es an einem regnerischen, grauen Tag in einem Schreibwarengeschäft irgendwo in seiner Stadt, da er glaubte sein neu angefangenes Leben in diesem Büchlein festhalten zu müssen. Schon immer hat er mit dem Gedanken gespielt ein Tagebuch zu führen, hatte aber nie einen konkreten Grund oder Anlaß gefunden dies zu tun. Nun, nachdem er also sein Leben sozusagen umgekrempelt hatte, hatte diese Idee einen fruchtbaren Boden gefunden, in der sie wachsen und hoffentlich auch reifen konnte. Stolz trug er seine Errungenschaft nach Hause, um gleich den ersten Eintrag zu schreiben und sein Leben zu dokumentieren. Der einzige Nachteil war nur, daß diese, wie er glaubte, interessanten Schriftstücke niemand zu Gesicht bekommen würde. Höchstens nach seinem Tod und dies befriedigte ihn genau sowenig wie einen Maler der nach seinem Tod zu Ruhm und Ansehen kommt. Aber allein der Gedanke für sich dieses Werk, Tag für Tag entstehen zu lassen war ihm schon Ausgleich genug. So schenkte er sich gleich nachdem er seinen dicken Mantel abgelegt hatte ein Glas Rotwein ein, räumte seinen Schreibtisch frei und schlug das saubere Büchlein seines Lebens auf. Die erste Seite blinzelte ihn erwartungsvoll an und schien geradezu auf ihn und seine Erlebnisse zu warten. Er nahm seinen Lieblingsstift zur Hand, testete ihn auf einem Schmierblatt und begann sogleich mit der ersten Niederschrift. Der Leser, hätte er die Möglichkeit gehabt, hätte dort dann lesen können:

Dies ist also nun mein erster Eintrag und gleichzeitig der Anfang meines Tagebuches. Ich möchte meine Eindrücke und Erlebnisse aufzeichnen und fange am besten gleich mit denen des heutigen Tages an. Noch heute morgen hätte ich es nicht für möglich gehalten, daß ich am selben Abend in ein Tagebuch schreiben würde. Genau bis zu dem Zeitpunkt als ich, von einem ungewissen Gefühl in den Schreibwarenladen geführt, dieses Büchlein fand und mich in dieses Schmuckstück verliebte. Sofort war mir klar, daß ich nun mein Leben ganz diesem Büchlein schenken würde.
In den letzten Wochen hat sich mein Leben so verändert, daß ich, um diese Veränderungen zu realisieren und zu dokumentieren auf dieses Büchlein nicht verzichten kann. Früher war ich unentschlossen, wankelmütig und habe mich nur all zu oft von den guten Ratschlägen anderer leiten lassen. Heute dagegen lasse ich mich von meinem eigenen Inneren und von meinem Verstand leiten. Ich habe mich von vielen Dingen befreit, namentlich von der anerzogenen Hemmung Verrücktes zu wagen und dem Zögern spontan zu handeln.


Es folgten nun noch eineinhalb Seiten, in denen er Begebenheiten des Tages, die nicht im Rahmen, des für uns Interessanten, liegen, aufschrieb. Nachdem er seinen Eintrag beendet hatte, schlug er zufrieden über den ersten Schritt den Deckel zu und band sorgfältig eine Schleife in das schwarze Band. Dieses Tagebuch bildete für Garlien nun so eine Art Gedächtnis, das ihm seine neuen Vorsätze ins Gewissen rief. Er war stolz auf sich selbst und räumte sogar einen besonderen Platz in seinem Bücherregal frei, der dieses Buches würdig war und an dem es ständig zur Hand war, wollte er etwas eintragen.
So ging der erste Tag und der zweite seines genau dokumentierten Lebens kam. Voll Übermut schrieb er gleich nach dem Frühstück an seinem Werk weiter. Es schien ihm, als nähme er genauer war, was um ihn herum geschah allein durch die Tatsache, daß er es niederschrieb. Jede Vogelstimme, jeder Regentropfen bekam so einen wichtigen Platz in seinem Leben und damit in seinem Buch. Hier nun hätte der Leser folgenden Eintrag finden können:

Mein Leben bekommt durch dieses kleine Büchlein mehr Glanz, mehr Gewicht als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich bin frei und entspannt. Frei zu tun was mir beliebt, solange ich niemand anderen damit verletze. Mein Tagebuch ist gleichsam die Verfassung, das Grundgesetz meines neuen Lebens. Ideale wie Freiheit, Verantwortung oder Gerechtigkeit sind in ihm festgesetzt, und können nicht wieder einfach umgeworfen werden. Dies gibt mir die Gewißheit, das Richtige und Gute zu tun.

Er entschloß sich auch an jenem Morgen sein Tagebuch nicht nur im Buchregal abzulegen sondern es immer mit sich zu tragen. Auch an den nächsten Tagen bekräftigte er seine Entschlüsse und bestärkte sich selber in seinen Entscheidungen, in dem er sie niederschrieb. Er ließ keines seiner Erlebnisse aus und achtete genau auf Zusammenhänge und darauf, daß sich nicht etwa eine kleine Unwahrheit einschleiche. Eine weiter Stelle die in diesem Zusammenhang Bemerkung verdient ist wohl die folgende:
Frau Knolle, meine mir treue Vermieterin, eröffnete mir heute, daß ich im nächsten Jahr wohl mit einer Mieterhöhung zu rechnen habe, was für mich ein nicht geringes Problem darstellt, habe ich doch schon kaum die jetzige Miete zusammengebracht. Aber ich bin gewiß, auch hier wird sich ein Weg finden.
Anzumerken habe ich nur, daß mich das Führen des Tagebuches in den letzten Tagen viel Geduld kostet, da ich oft wunderschöne und wichtige Ereignisse in Worte fassen und sie somit knebeln muß um sie für mein Büchlein festzuhalten. Vielleicht ist es nicht allzu sinnvoll jede Begebenheit bis ins kleinste aufzuschlüsseln und sie dann zu Papier zu bringen. Vielmehr will ich mir einen Stil aneignen, der einer Gedankenstütze für mein schwaches Hirn gleicht. So lasse ich den mir ohne hin schon bekannten weg der Interpretation weg und beschränke mich auf die genaue Dokumentation der Geschehnisse.

So kam es, daß Garlien teilweise nur in zwei, drei knappen Sätzen Dinge von höchster Bedeutung zusammenfaßte. So zum Beispiel folgende Begegnung:
Am heutigen Mittwoch habe ich eine reizende Frau namens Henriette kennen gelernt. Sie ist sehr schön, ich habe mich sofort in sie verliebt und wir treffen uns gleich nächsten Samstag wieder.
Und von jenem Treffen weiß er dann nur dies zu berichten:
Henriette und ich haben viele Gemeinsamkeiten entdeckt und haben nun so etwas wie eine Beziehung miteinander. [i/]
Daß diese Beziehung so tief und innig war, daß sie sechs Monate später heirateten sei nur am Rande bemerkt, um die Wichtigkeit dieser Ereignisse zu betonen.
Nun geschah es auch, daß Garlien, zum einen wegen der Verlegenheit vor Henriette, zum anderen wegen der Mühe des Tragens, sein geliebtes Büchlein öfters zu Hause im Buchregal ließ und nur noch abends Einträge vornahm. Dies schien ihm technisch sinnvoller und praktischer. Einmal notierte er:
So ist mir mein Tagebuch vom neugierigen Spion in der Westentasche zu einem guten Freund geworden, der schon sehnsüchtig auf mich wartet und mich begrüßt, wenn ich in meine Wohnung komme. Ich erzähle ihm von meinen Erlebnissen des Tages und muß nicht andauernd jede Handlung vor ihm rechtfertigen. Ich kann oft auch objektiver von Dingen berichten, wenn sie schon ein paar Stunden hinter mir liegen.
Nun begann er auch seine Gedanken zu selektieren bevor er eine Niederschrift begann. Wo er früher jede Einzelheit aufzeichnete wog er sie vorher ab und erst, wenn er sie dann für wichtig genug hielt schrieb er sie auf, dies allerdings in stark verkürzter Form, was an folgendem Ereignis gut zu erkennen ist:
Heute hatte ich einen Unfall, der mich eine Menge Geld und viel Ärger mit der Versicherung und den Behörden kosten wird. Auch psychisch hat er mir schwer zugesetzt
Selbst dem aufmerksamsten Leser wird sich jedoch die Tatsache, daß ein Mensch durch diesen Unfall ins Koma fiel und ein anderer sein Leben lassen mußte, nicht zugänglich sein, da Garlien oft auch willkürlich, Erlebtes beschnitt und zurechtstutzte. So verkürzten sich zusehends die Einträge und nicht jeder Tag fand sein Ebenbild in dem einst so geschätzten Büchlein. Und als nun eine harte Zeit, voll von Krisen, über Garlien Dunk hereinbrach machte er sogar seinem Tagebuch - einem Gegenstand also - Vorwürfe:
Ja ich weiß es klingt albern, aber mein Tagebuch hat mir viel Zeit meines Lebens geraubt. Während ich mit dem Schreiben beschäftigt war, habe ich nicht bemerkt, wie das Leben mit seinen Chancen an mir vorbeilief. Anstatt über das Leben zu schreiben hätte ich es genießen sollen.
Der letzte Eintrag sei an dieser Stelle nun auch noch, der Vollständigkeit wegen, angeführt. Er zeigt auch gut das zuletzt sehr schlechte Verhältnis Garliens gegenüber seinem Tagebuch:
Nach all dem, was mir dieses Buch eingebracht hat, werde ich es nun schließen und hoffentlich nie wieder öffnen!
Dies waren auch die Worte, die Garlien las, lange nachdem ihn Henriette verlassen und er völlig verarmt in einer Einzimmerwohnung ohne Heizung eingezogen war. Er las diese Worte kurz bevor er den Deckel des Büchleins wirklich für immer zuschlug und, in Ermangelung desHeizmaterials, zu den wenigen Büchern Goethes und Hegels, die er nicht verkauft hatte, in den kleinen Kanonenofen warf und hinter ihm die Ofentür schloß, um wenigstens noch ein wenig Wärme in sein Zimmer zu bringen.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zu

erst einmal herzlich willkommen auf der lupe. dein text liest sich gut. es ist eine erschütternde geschichte. wirkt sehr real. mach mal so weiter! ganz lieb grüßt
 



 
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