Das Tierdorf Strohnitz

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Im Süden von Leipzig, mitten in einem rekultivierten Braunkohletagebaugebiet, gibt es ein uraltes Dorf.
Dort leben schon lange keine Menschen mehr, sondern nur noch Tiere.

Früher, als ringsum der Braunkohleabbau florierte, sollte auch das Dörfchen Strohnitz den großen Baggern weichen. Seine Bewohner aber setzten Himmel und Erde in Bewegung, weil sie das Dorf auf keinen Fall verlassen wollten, egal welche Summe Ihnen als Entschädigung angeboten wurde.
Da sie sich auch nicht scheuten, die Medien für ihre Sache einzuspannen, hörte schließlich auch Wastun, der Ratgeber eines finsteren Herrschers aus Übersee, von den Nöten der Strohnitzer. Er reiste bald an, um der Braunkohlegesellschaft ein Geschäft anzubieten.
Die Aufsichtsräte, denen er seine Dienste anbot, hatten munkeln hören, Wastun verfüge über magische Kräfte, die auch seinem Herrn bereits mehrfach zu guten Geschäften verholfen haben sollten. Daher willigten Sie ein, ihm eine große Summe Geld zu zahlen, falls sein Plan gelänge.

Mit dem Vertrag im Aktenkoffer, ging Wastun nach Strohnitz.
Der Bürgermeister Schaaf hörte sich an, was der elegant gekleidete Fremde zu sagen hatte. Da ihm sein Vorschlag gefiel, berief er die Gemeindeversammlung zu einer Eilsitzung ein und verkündete:
„Horcht, Ihr Strohnitzer! Herr Wastun möchte uns helfen. Er verspricht, der Braunkohlegesellschaft zu beweisen, dass die hier liegenden Kohlevorräte viel zu gering sind, um Baggerungen lohnenswert zumachen.
Die Strohnitzer, die bisher nichts von Wastuns magischen Kräften gehört hatten, waren skeptisch:
„Wie will er das denn machen? Was für Mittel hat er, die die Braunkohlegesellschaft nicht hat?“, fragte Herr Katz, der Kaufmann.

Wastun antwortete ruhig:
„Es ist ganz einfach. Schon lange, bevor diese Gegend hier überhaupt bewohnt war, haben Vorfahren meines Herrschers hier überall Probegrabungen gemacht. Sicher ist Ihnen bekannt, dass meine Heimat Fiesalia schon viel länger bewohnt ist als Deutschland.
Mein Herr hat mir eine Kopie des Planes mitgegeben, den seine Väter damals verfertigt haben. Den werde ich den Aufsichtsräten zeigen, dann wird Ihr Dorf mit Sicherheit nicht abgerissen und Sie können hier wohnen bleiben.
Jedoch müssen Sie versprechen, nie mit einem anderen Wesen darüber zu sprechen, das nicht hier in Strohnitz geboren wurde. Sonst wird der Geist des Tagebaus lebendig und wird alle hier bestrafen.“

Ein gemischte Raunen lief durch den Saal, dann rief der Schmied:
„Aber was wollen Sie dafür von uns? Wir sind alle nur Bauern und Handwerker. Niemand hat etwas zu verschenken!“
„Genau, was verlangen Sie dafür? Heute macht doch niemand mehr etwas umsonst.“, fielen die anderen ein.
Wastun grinste verschwörerisch und sagte: „Wer sagt, dass ich die Pläne auf den Tisch legen muss, bevor die Gesellschaft Ihnen die angebotenen Entschädigungen gezahlt hat? Ihr gebt mir je die Hälfte von Eurer Entschädigung und wir haben alle etwas davon.“
Die Strohnitzer berieten unverzüglich und niemandem fiel auf, wie diabolisch Wastuns schwarze Augen funkelten.

„Wir sind einverstanden.“, verkündete der Bürgermeister nach einiger Zeit.
„Gut.“, antwortete der Berater des Herrschers von Fiesalia. „Hier habe ich einen entsprechenden Vertrag vorbereitet, den Ihr alle unterschreiben müsst.“

Einer nach dem anderen las den Vertrag und unterschrieb.
Als die Reihe an Kaufmann Katz kam, stutzte dieser und fragte:
„Warum steht hier, dass wir Wastun ermächtigen, dafür Sorge zu tragen, dass niemand von uns je einem anderen Wesen von diesem Vertrag erzählen kann?“

Der finstere Berater wiegelte ab und sagte beruhigend:
„Das ist nur eine Klausel zu Ihrem eigenen Schutz, denn stellen Sie sich vor, was passierte, wenn jemand von unserem Handel erführe. Zum Beispiel jemand von der Braunkohlegesellschaft oder von einem der Dörfer, die bereits evakuiert wurden? Man würde Ihnen das Leben zur Hölle machen.“
„Ja, genau.“
„Recht hat er.“
„Nun unterschreibe schon, Katz, du alter Skeptiker. Das ist unsere einzige Chance.“, bedrängten die anderen Dorfbewohner den Kaufmann, bis dieser sich schließlich breitschlagen ließ und seine Unterschrift als letzter unter das Papier setzte.

So nahmen die Dinge ihren Lauf.
Wastun berichtete der Braunkohlegesellschaft von der Bereitschaft der Dorfbewohner, ihre Entschädigungen in Empfang zu nehmen und die unterschrieben guten Gewissens die Ihnen vorgelegten Verträge.
Sie verließen zum Schein das Dorf und warteten ab.
Wastun hielt sein Wort und kurze Zeit später stand in den Zeitungen zu lesen, dass Strohnitz trotz seiner Evakuierung nicht abgerissen werden würde, da nach neu aufgetauchten Plänen die Braunkohlevorräte einen Abriß nicht lohnen würden.

Der finstere Berater tauchte nun der Reihe nach bei jedem Strohnitzer auf und forderte seinen Teil der Entschädigung. Alle waren froh, endlich in ihr Dorf zurückkehren zu können, doch als der letzte von Ihnen seine alte Wohnstätte wieder bezogen hatte, passierte etwas merkwürdiges:

Jeder verwandelte sich in das Haustier, das ihm zuvor am nächsten gewesen war.

Bürgermeister Schaaf, der keine Tiere gehalten hatte, wurde ein kräftiger Schafbock, seine Frau und seine Kinder wurden ebenfalls Schafe.
Der Schmied wurde ein Pferd, Familie Katz verwandelte sich in Katzen der verschiedensten Farben und ebenso ging es den anderen Dorfbewohnern.

Alle liefen erschreckt aus dem Haus und zum Dorfplatz.
„Er hat uns betrogen!“, tönte es von allen Seiten und Wastun, der gerade auf dem Heimweg über sie hinwegschwebte, lachte höhnisch:
„Nein, ich habe niemanden betrogen. Nicht wahr, Katz?“

Alle sahen den grauen Kater an, der früher ihr Kaufmann gewesen war.
Mit gesenktem Kopf erklärte der: „Wir alle haben Wastun dazu ermächtigt, dafür Sorge zu tragen, dass niemand von uns einem anderen Wesen von diesem Handel erzählen kann. Und so hat er es bewirkt.“

Seitdem lebten in Strohnitz nur noch Tiere.

Viele Generationen lang konnte die Familie des schlauen Katers verhindern, dass noch mehr Unheil geschah, in dem sich eines der Haus- und Hoftiere aus Strohnitz den im nahen Wald lebenden wilden Tieren anvertraute.

Doch nachdem Generationen lang im Dorf keine weiblichen Schweine mehr geboren wurden, murrten die Nachkommen des ehemaligen Metzgers und drangen in den Wald ein, um sich für die Paarung eine Bache zu suchen.

Die Katzen warnten eindringlich davor, den wilden Schweinen zu erzählen, warum in Strohnitz nur Tiere lebten.
Nachdem jedoch schon drei von den Hausebern eine Frau aus dem Wald mit ins Dorf gebracht hatten, die lieb und vertrauenerweckend dahertrabten und sich mit allen Dorfbewohnern gut verstanden, sahen die Eber es nicht ein, solch ein Geheimnis vor ihren Liebsten zu haben.
Und in einem stillen Stündchen im Winter, eng aneinander gekuschelt, erzählten sie ihren Frauen das Geheimnis von Strohnitz.

Obwohl die Bachen das in sie gesetzte Vertrauen nicht enttäuschten, wurde die Kunde von den geschwätzigen Spatzen zum Geist des Tagebaus getragen.

Der wurde unendlich zornig.
Unverzüglich verwandelte er all die undankbaren Haustiere wieder in Menschen.

Da sie jedoch bereits sein Generationen Tiere gewesen waren, konnte sie sich als Menschen nicht mehr alleine versorgen. Sie ekelten sich davor, Fleisch zu essen, konnten im Winter keine Beeren oder Gemüse finden und waren auch nicht imstande Feuer zu machen. Niemand hatte mehr sein dickes Winterfell, aber Kleidung hatten sie auch nicht.

So kam es, dass alle Strohnitzer, deren Vorfahren einmal Menschen gewesen waren, an Hunger und Kälte starben.
Seitdem wurde Strohnitz nie wieder von einem Menschen betreten, denn man munkelt, die Geister der unglücklichen Strohnitzer würden bis heute dort spuken, weil sie ihr Dorf nicht verlassen wollen.
Daher ist das Dorf nur von wilden Tieren bewohnt, die nach und nach von den Ruinen Besitz ergriffen.
 



 
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