Das Treppenhaus

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Chris Hunter

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Schnaufend stapfte der vollleibige 40-jährige über den Weg. Bepackt mit einem guten Wein, den er im Duty Free Shop des Flughafens gekauft hatte, kam er am Studentenwohnheim seines Sohnes Tom an, um vor den unzähligen, silbernen Klingelknöpfen zum stehen zu kommen. Sein Blick huschte über die Namen um den richtigen Signalgeber ausfindig zu machen. Nachdem er 2 Wochen im Skiurlaub vergebens versucht hatte, das eine oder andere Gramm Fett loszuwerden, besuchte er nun auf dem Rückweg seinen ältesten Nachkömmling. Er freute sich auf einen gemütlichen Abend zusammen mit Tom. Noch immer wuselte sein Zeigefinger über die vielen Studentennamen. Der konzentrierte Blick prüfte jeden einzelnen und hoffte, dass der nächste der richtige sein würde. Boltermann, Josen, van Elden, Grab, Wolters. Ah, da war er. Ein dreimaliges, kurzes drücken des runden Silberlings sollte die gewünschte Wirkung erzielen.
„Ja?“, ertönte die verzerrte Stimme seines Sohnes.
„Hallo, ich bin’s. Der kleine Dicke.“, antwortete Gunter scherzhaft mit einem freudigem Lächeln.
„Ach ...zzttrr... bist du ja. Ich ...zzttrr... schon auf dich gewartet. Ich wohne im 13. zztttrr..“
Das Türschloss fing an zu brummen und mit einem Druck der väterlichen Hand öffnete sich die Tür des großen Wohnblocks. „...zzttrr... am besten das Treppenh ...zztttrrr... Fahrstuhl bleibt immer stecken. ...zzttrrr... sowieso alles kaputt.“ Trotz der kränklichen Sprechanlage erkannte Gunter sein kommendes Schicksal. Und beim Gedanke der 13 Stockwerke zeigten sich bereits die ersten Schweißperlen auf seiner Sonnenbrand verzierten Stirn.

Gunter trat vor den kaputten Fahrstuhl und sein Blick lag wehleidig auf dem Knopf den er im Normalfall benutzt hätte um Lastenträger zu sich zu holen. Da er aber keine Lust hatte, die halbe Nacht irgendwo zwischen dem 7. und 8.Stock zu verbringen, entschloss er sich doch für die Alternative des Treppenhauses.

Der pummelige, kleine Mann öffnete die grüngestrichene Metalltür, um kurz darauf im Dunkeln zu stehen. Seine ausgiebigen Tastaktionen nach dem Lichtschalter waren erfolglos und so öffnete er wieder die Tür um den Schalter für das Licht außerhalb zu finden. „Architekten sind doch alle Theoretiker“, dachte er kopfschüttelnd und nahm die ersten Stufen seines Schicksals recht gelassen hin.

Das Treppenhaus war eines der betongemauerten, langweiligen Exemplare, wie man sie in den unzähligen Hochhäusern Deutschlands wiedererkennt. Nichts sonderbares. Ein ganz normales, stufengefülltes Bauwerk. Die gelassene Einstellung zu seinem Marathon änderte sich bereits im ersten Stock, als er seine Schrittgeschwindigkeit schon sehr dezimiert hatte. Der durch Altbier gezüchtete Bauch machte es im nicht einfach. Das alles wurde noch viel schlimmer, als ihn zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk das erstemal das Licht verließ. In totaler Dunkelheit tastete er sich an der Wand weiter nach oben in Richtung des kleinen flackernden Punktes, der das Treppenhaus wieder erleuchten sollte. Im zweiten Stock angekommen stieß er als erstes mit lautem Rumpeln und Scheppern gegen einen kantigen Gegenstand um mit fluchenden Worten das orange leuchtende Plastikviereck zu betätigen. Mit einem zögernden Flackern erhellten die Neonröhren das Stockwerk und nun erkannte Gunter das, was ihn so schmerzhaft aufgehalten hatte.

In der Ecke stand ein kleiner rechteckiger Holztisch. Durch seine blinde Unachtsamkeit hatte eine runde Metallschüssel ihren Inhalt auf dem Boden verteilt. Bonbons verschiedenster Sorten tummelten sich nun auf dem gestrichenen Beton. Gunter ging mit einem Schnaufen in die Knie, um die Unordnung wieder in sein Behältnis zu befördern. Alle Bonbons wanderten, eins nach dem anderen, wieder zurück in ihre gemütliche Schüssel. Nimm Zwei, Werthers Echte, Maoam und sogar Eukalyptus. Gunters Lieblingslutschobjekte. Als Belohnung für seine gute Tat wanderten auch gleich drei dieser Leckerlis in seine Hosentasche. Und wieder stand er im Dunkeln. „Zum Teufel mit dem Licht!“, fluchte er und betätigte zum wiederholten Mal den Lichtschalter der zweiten Etage. „Auf in den Dritten.“, dachte er und begann wieder mit dem Treppensteigen.

Im nächsten Stockwerk angekommen, empfing ihn wieder ein netter Holztisch. Der Bruder des letzten Tisches bot ein nettes Gesteck aus Strohblumen dar, das ganz ruhig auf einer rot, weiß karierten Decke platziert war. Ganz im Gegensatz zu dem Treppensteiger, der sich mit schlurfenden Schritten und Wein bewaffnet an den Blumen vorbei, in den vierten Stock schnaufte. Der Tisch des fünften Stockwerks hielt ein Schachspiel bereit. Gunter, als alter Schachfanatiker, begrüßte den Inhalt des kleinen Tischchens als willkommenen Anlass wieder eine kleine Pause einzulegen. Er beobachtete die Stellung der Figuren um nach kurzer Zeit zu flüstern: „B4-C2 und Schach! Ein Lob an die Fähigkeiten eines Springers.“ Wie als wollte er einem unsichtbaren Spieler einen Tip geben. Zufrieden mit seiner Leistung auf dem Tisch stieg er weiter nach oben, ohne seinen Bauch zu vergessen.

Vorbei an mehreren unterhaltsamen Dekorationen, kämpfte er sich nach oben und freute sich immer schon auf das nächste Stockwerk und eine neue Überraschung auf einem neuen Tischlein. Da gab es die verschiedensten Blumen, eine Fotokollage der letzten Studentenfeier, ein liebevoll zusammengeklebtes Streichholzhaus. Da gab es kleine Teddys, Kerzen und gestrickte oder gehäkelte Deckchen. Das alles interessierte ihn so sehr und er war dermaßen versessen und neugierig auf das jeweils nächste Tischchen, sodass er glatt an seinem Zielstockwerk 13 vorbeischnaufte und erst vor der blaugepinselten Zahl 15 erwachte. „So ein Mist!“, brummelte er und schlappte wieder nach unten. Vorbei an den kleinen Teddys... Moment – irgendetwas stimmte doch hier nicht. Standen hier vorhin nicht Blumen? Gunter kratzte sich am Kopf. Sollte er mit 40 Jahren schon senil werden? Und warum zum Teufel befand er sich im 16. Stockwerk? Er war sich sicher, das er eben im 15. gestanden hatte und er war nun eine Etage tiefer. Anscheinend waren die Architekten nicht die einzigen gewesen die hier Fehler gemacht hatten. Mit spöttischen Gedanken gegenüber den Malern die nicht fähig waren richtig zu zählen, wanderte er weiter nach unten. 16. „Spinne ich jetzt?“ dachte er. „Wo bin ich jetzt eigentlich? 15. oder 16. oder 13. Stock?“ Er war total durcheinander. Die Weinflasche fest in der Hand begann er nach seinem Sohn zu rufen: “Tom. Tooommm. TO-HOM!“ Keine Antwort. Eigentlich müsste er doch bald kommen und nach ihm suchen. „Woher zum Teufel soll ich denn wissen wo ich hier raus muss. Wie kann man nur so bescheuert sein und so eine Scheiße fabrizieren. Eindeutig fehlt beim Eingang ein Schild: ‚Von Deppen gebaut! Bitte Stockwerke mitzählen!’“, regte sich Gunter lauthals auf. Seine Hauptschlagader quoll sichtlich hervor und der rot glühende Kopf bot nun einen schönen Kontrast zu dem weiß gestrichenen Wänden.

Sichtlich verwirrt wusste er nun nicht, ob er wieder nach oben oder nach unten laufen sollte. Er hatte sich auf einen gemütlichen Abend gefreut und musste jetzt in einem Treppenhaus umherirren. Und warum kam Tom nicht um ihm zu helfen? Er musste doch wissen, dass es unmöglich war hier den dreizehnten Stock zu finden. Obwohl Gunter Angst hatte weiter nach unten zu laufen, weil er im Zweifelsfall alles wieder zurücklaufen musste, entschied er sich doch noch ein Stockwerk tiefer zu gehen. Schließlich zeigten die Zahlen, dass er viel zu weit oben war. Vom angeblich 16. Stock begab er sich tiefer in den 20! Auf dem Tischchen grinste ihn ein Gummientchen mit orangenem Schnabel an. Gunter war sich jetzt ziemlich sicher, das er dieses Entchen auf seinem Weg nach oben nicht gesehen hatte und beim Anblick den Schnabels viel ihm auch auf, dass er bestimmt seit dem 4. oder 5. Stock keinen Lichtschalter mehr betätigt hatte. „Irgendwas ist hier faul.“, hallten Gunters Worte über die Stufen des Treppenhauses. Unruhe machte sich bei ihm breit und langsam störte ihn die Weinflasche in der Hand. Er war jetzt bestimmt schon zehn Minuten in diesem verdammten Stufengewirr unterwegs und wollte nur noch zu Tom. „TOOMMM!!“, rief der verzweifelte Gunter. „TOOOOOOOOM!“, rief er lauter. Außer seinem Echo antwortete niemand.
Mit einem Blick auf seine Digitaluhr erfuhr Gunter die genaue Uhrzeit: 17:53h. „Na gut“, beherrschte er sich und beschloss wieder zum Eingang zurückzukehren um über die Sprechanlage seinen Sohn um Hilfe zu bitten. Wenn es ihm schon nicht möglich war das richtige Stockwerk zu finden, so könnte er sich ja abholen lassen. Beim hinabsteigen fiel sein Blick auf das Fenster und lies ihn schlucken. Erde. Hinter dem Fenster war Erde! Er befand sich unter dem Erdboden? Nun war es mit seiner inneren Ruhe ein für allemal vorbei.
„Das ist nicht Möglich! Das ist ein schlechter Traum! Das kann nicht... das ist nicht... Wo.. Zum Teufel!“, stammelte er...

Würmer schlängelten sich hinter dem Fenster durch das Erdreich und Gunter geriet in Panik. Er drehte um, stolperte wieder nach oben und blickte durch das nächste Fenster. Erde. Die nächste Treppe nach oben um die Tür zu öffnen. Egal ob es der richtige Stock war oder nicht. Er brauchte Hilfe, eine Erklärung. Er brauchte jemand der im das alles erklären konnte. Mit der rechten Hand auf der Türklinke versuchte er diese herunter zu drücken, um die grüne Stahltür zu öffnen. Sie bewegte sich nicht. Mit dem Gewicht seines weiten Bauches gelang es ihm jedoch endlich die Tür zu öffnen und er wurde nach hinten gestoßen. Erde, haufenweise Geröll und sich windende Würmer fielen ihm entgegen! Nichts hasste er mehr als lebende Würmer. Schreiend befreite er sich von dem Massen und stolperte zurück auf die Stufen.



Er war begraben. In einem irrsinnigen Treppenhaus. Seine Seele fing an zu wimmern und seine Hand umkrampfte die Flasche. Das einzige woran er sich nun festhalten konnte. Zum Glück hatte sie den Sturz überstanden. Das alles war zu viel für ihn. Auf den Stufen sitzend, die Würmer beobachtend, knubbelte der Mann am Korken der Weinflasche. Er brauchte jetzt dringend einen Schluck und er bereute, dass er keinen Whiskey gekauft hatte. „Verdammte Scheiße, was ist das hier!“, schrie er durch das Gebäude. Womit hatte er das verdient! Er wollte es schon aufgeben die Flasche zu öffnen als sein Blick auf den Stockwerktisch fiel. Mit einem wahnsinnigen, ironischen Lachen griff er den darauf befindlichen Korkenzieher und öffnete die Flasche. „Das ist die Hölle, ich bin in der Hölle!“, rief er und trank die Hälfte des Weins, rülpste laut und trank den Rest. Das tat gut aber es half ihm nicht weiter. Er war vergraben in einem Treppenhaus. Er musste hier raus. Aber wie? Am besten auf dem selben Weg wie er hineingekommen war. Er musste nach unten. Es würde sich alles aufklären. „Das ist alles nur ein Studentenstreich“, hoffte er für sich aber glaubte es nicht. Er stürzte die Treppen hinunter. Ein Stock, und noch einer, ein dritter und ein vierter. An den Tischen vorbei, deren Inhalt nun das uninteressanteste in dieser Welt war. Unglaublich! Es nahm kein Ende! Je weiter er nach unten kam desto mulmiger wurde ihm. Er geriet in Panik. Wo war der Gottverfluchte Ausgang! Wieder öffnete er eine Tür. Wieder vielen ihm Erde und unzählige Würmer entgegen. Diesmal waren es mehr Würmer als Erde und ein lehmiger Gestank kam aus der Tür. Vor lauter Schreck wechselte Gunter seine Laufrichtung und rannte wieder aufwärts. Sein Bauch und seine Erschöpfung waren vergessen. Er wollte nur noch raus aus dieser Hölle. Seit Ewigkeiten war er in diesem „Ding“ unterwegs. Er machte erst im 42. Stock halt. Der angeblich 42. Auf die Zahlen konnte man sich nicht verlassen. 32 – 63 – 12 – 35. Das war keine Realität mehr, das war Wahnsinn. Er lies sich auf der Treppe nieder und verschnaufte. Wie lange war er schon unterwegs? Mit einem Blick auf die Uhr verstand er gar nichts mehr: 17:53h.“Leck mich am ARSCH!“, schrie er. Seine Blase drückte. „Wo ist der Tisch mit dem gottverfluchten Pisspott!!!“ Es war ihm egal. Das Treppenhaus hatte es verdient. Er suchte sich die nächste Ecke, öffnete den Zugang zu seinen klebrigen Genitalien und wurschtelte sein bestes Stück, ohne es zu sehen, in die Richtige Position.

Erleichternd plätscherte der ehemalige Wein gegen die Wand. Es wollte nicht aufhören und plötzlich...
„DAD! Was machst du da?“, ertönte die erschütterte Stimme seinen Sohnes hinter ihm. Erschrocken führte Gunter den Strahl noch über sein linkes Hosenbein, bevor er das Werkzeug der Erleichterung unter seinem Bauch und in der Hose verschwinden lies. „Und wie siehst du überhaupt aus? Dad?“, fragte Tom und Gunter drehte sich, um in Tom’s entgeistertes Gesicht zu blicken. „Ähh...“ Gunter war verwirrt und froh zugleich. „Ich... äh... die Tischchen haben mich abgelenkt und ich bin zu weit gelaufen.. und äh.. diese Scheiß Stockwerkzahlen. Du weist was ich meine... Wenn die bescheuerten Tische nicht gewesen wären...“, stammelte Gunter und suchte nach einer Erklärung für seine Pinkelei in die Ecke. „Dad? Bist du ihn Ordnung? Welche Tischchen meinst du denn? Bist du betrunken? Das musst du mir erklären. Komm erst mal rein. Wir wischen deine Sauerei dort weg und dann müssen wir uns unterhalten. Du machst mir wirklich Angst!“
Mit offenem Mund stand Gunter vor seiner Pfütze und zeigte mit dem Finger nach unten. “Tischchen...“,stammelte er noch bevor Tom ihn schnappte und am Ärmel hinter sich herzog. In der Wohnung angekommen verschwand Tom gleich mit einem Putzlumpen und einem Eimer Wasser Richtung Treppenhaus.

Das ist jetzt 5 Minuten her. Gunter kontrolliert seine Taschen, findet ein Eukalyptus, fusselt es mit zitternden Händen aus dem Papier und schiebt es sich in dem Mund. „Schmeckt ganz normal“, denkt er, bevor er sich entschließt nach Tom zu sehen...



und? was sagt ihr zu meiner ersten story auf Leselupe.de?
 
Hallo Chris,

es ist ja mehr eine Persiflage als eine Horror-Geschichte, demzufolge wird die Logik dort passend gemacht, wo sie benötigt wird.
Also, ich habe mich köstlich amüsiert, vor allem, als Gunter statt in Panik zu geraten, erst einmal die Flasche Wein köpft.

Bis bald,
Michael
 
Hi Chris,
schöne, witzige Geschichte. Erinnert mich vage an Kafka, auch wenn ich mir Jeremy Irons irgendwie nicht in der Rolle des Gunter vorstellen kann. Die Geschichte ist durchweg gut erzählt. Am Besten aber finde ich den Schluss. Wenn ich mir das mal bildlich vorstellen darf?
- "bevor er sich entschließt, nach Tom zu sehen."
Die Farben in Technicolor intensivieren sich. Wir sehen, wie Gunter aufsteht und in den Flur geht.
"Tom?", ruft er.
"TOMMMMMM!" Dazu eine wunderbare Breitbildaufnahme vom Flur, gerichtet auf die zwei Meter hohen Fenster, hinter denen sich Erde befindet.
ZOOM AUF EINEN REGENWURM, DER SICH VERZWEIFELT IM ERDREICH WINDET!

Gruss Marcus
 

Chris Hunter

Mitglied
Freut mich, das dir meine erste Geschichte hier gefallen hat.Vielleicht gibts davon auch noch n zweiten teil, der noch verwirrender wird. mal sehen wie die ideen wachsen...

@marcus: schönes kommentar :)
 



 
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