Das Vermächtnis

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neuni

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Ich sah ihn zum letzten mal am Bahnhof in Göttingen. Es war ein eisiger Winterabend. Ich erinnere mich, dass er trotz der Kälte keine Jacke trug und kein Gepäck dabei hatte. Er warf mir einen Blick aus fiebrig blauen Augen zu, mich wohl erkennend aber zu keinem Gruß aufgelegt. Er verschwand auf der Treppe zu einem Gleis. Ich sah auf der Anzeige, dass er den Intercity Richtung Budapest nehmen würde. Das ist nun ein Jahr her. Ich habe ihn seit dem nicht mehr gesehen und meine Versuche ihn ausfindig zu machen haben keinen Erfolg. Er war einmal mein Freund.
Zum erstenmal begegneten wir uns am Institut für Mathematische Physik der Georg-August- Universität Göttingen. Er stand an der Tür des Sekretariats, eine große dünne Gestalt im schwarzen Mantel. Schulterlange braune Locken verdeckten sein Gesicht. Ich hörte ihn zu der Sekretärin sagen: „Und die Physik, ja die Physik. Sie wird nach meiner Arbeit hier nicht mehr die gleiche sein. Nicht hier in Göttingen und auch nirgendwo sonst im Universum“. Als ich ihn grüßte lachte er mich an, fand es aber nicht angebracht seinen Monolog für einen Gruß zu unterbrechen. Ich wünschte ihm einem Guten morgen und ging an ihm vorbei in mein Büro. Ich versuchte zu arbeiten, konnte mich aber nicht konzentrieren; er hatte nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht. Er war ein arroganter Mensch aber ungemein anziehend, dunkel und trotzdem strahlend. Ich fragte mich, warum er an diesem heißen Tag im Julie einen dicken schwarzen Mantel trage. Ich sollte später feststellen, dass er immer und überall gegen den Strich lebte. Es sagte mir später einmal, dass er ein Igel sei und dass ich doch das Theorem der Topologie kenne: „Man kann einen Igel nicht kämmen.“
Beim Mittagessen in der Mensa der Universität wurde er mir vom Direktor des Instituts vorgestellt: „Joachim Fest, frisch in Hamburg promoviert, nun für 2 Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter in Göttingen, ihr neuer Kollege.“ Beim Essen war er schweigsam und wirkte genauso überheblich wie unsicher. Ich hatte nun die Gelegenheit sein Gesicht eingehend zu betrachten. Er war bleich und ausnehmen schmal, ja beinahe ausgezehrt. Sein Mund war sinnlich, seine Augen strahlend und hell blau. Er war damals grade 30 Jahre alt geworden. Sein Alter war seinem Gesicht nicht abzulesen. Er saß mit übereinandergeschlagenen Beinen bei Tisch, so als müsse er sich schützen. Er aß an diesem Tag nicht viel und ich habe ihn auch später nie anständig essen sehen. Beim Verlassen der Mensa ging ich neben ihm her und sprach ihn an, „Ich bin Stefan Liebscher ihr Kollege in der mathematischen Physik, Herzlich Willkommen.“ „Gut, sag einfach JoJo zu mir“. Er warf mit einer Geste ein imaginäres JoJo Richtung Himmel und fing es wieder auf. Ich war verunsichert und wusste nicht genau wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Er schien dies zu bemerken, rammte wie aus versehen meinen Bauch, drehte sich vor mich und lachte mich an. Vielleicht lachte er mich auch aus, es war nicht eindeutig zu erkennen. Ich fragte ihn, als wir weiter gingen: „Wann wirst du von Hamburg nach Göttingen ziehen?“ „Bald ich habe nicht viele Dinge und brauche nicht viele.“ Er machte noch einmal die Geste mit dem imaginären Jojo, welches sich dieses mal genau auf das Zentrum des Universums zu richten schien. Die Professoren der Physik gingen grüßend an uns vorbei. Er ignorierte sie einfach, was mir recht unfreundlich schien. „Ich glaube ich komme morgen mit dem Zug oder übermorgen und fange dann an zu arbeiten.“ „Und wann findet der Umzug statt, vielleicht kannst du meine Hilfe brauchen?“ „Das wird mein Umzug sein, es ist genauso wie ich sagte. Und Hilfe brauche ich bestimmt nicht“. Er war ärgerlich, wandte sich schnell von mir ab, und verschwand ohne Abschied zu nehmen.
JoJo brauchte wirklich nicht viele Dinge zum Leben. Ich konnte dies feststellen, nachdem er aus Göttingen verschwunden war. Seine Wohnung war nicht gekündigt und nicht ausgeräumt. Ich half seiner Vermieterin, einer freundlichen älteren Dame, dies zu erledigen und beglich JoJo`s Miete, die er seit Monaten nicht gezahlt hatte. Das Schloss der Tür seiner Wohnung war kaputt, man konnte die Tür ohne Schlüssel öffnen. Als ich die Wohnung betrat, wurde mir klar, warum er nie jemanden zu sich eingeladen hat. Der Flur und die Küche waren angefüllt mit vollen blauen Müllsäcken, als hätte er über Jahre hinweg den Müll nie weggeworfen. Ein bestialischer Geruch nach Verwesung stand in den Räumen. Der Vermieterin wurde beinahe übel, als wir die Wohnung in Augenschein nahmen. Zwischen den Müllsäcken lagerte eine schier unerschöpfliche Sammlung von „Talermoor Dew“ Flaschen. Ein ausgezeichneter irischer Whisky den ich auch ab und zu gerne trinke. Die ganze Wohnung war mit Staub und Spinweben gesättigt. Außer den Spinweben fand sich im großen Zimmer kaum etwas. Ein alter Futon mit speckigem Bezug, einige Kleidungstücke verstreut auf dem Boden liegend, ein Rucksack, sonst nichts. Das 60qm große Zimmer wirkte endlos und leer. Im zweiten Zimmer fand ich JoJo`s Bibliothek, ein Haufen Bücher, wohl einige Tausend, zum Teil bis an die Decke gestapelt. Die Auswahl der Bücher zeugte ohne Frage von erlesenem Geschmack, den ich JoJo trotz seines Verfalls in vielen Hinsichten attestieren möchte. Ich fand den Erwählten von Thomas Mann neben De Sade über der Ethik von Spinoza. Darunter lagen die Upanischaden und neben Pynchon`s Enden der Parabel unvermeidlich Goethes Faust. Es handelte sich um ein echtes Kompendium der Weltliteratur, zumeist Prosa, ein wenig Philosophie und einige Bände Lyrik. Ich brachte die Bücher später zu einem Antiquar in Göttingen, um zumindest einen Teil meiner Ausgaben für die Miete, die JoJo nicht bezahlt hatte, zurückzuerhalten.
Was bleibt von ihm da seine Wohnung ausgeräumt und gesäubert, seine Bücher verkauft und er, wohin auch immer, verschwunden ist? Eine Hand voll Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und ein Stapel sauberer bedruckter Blättern, die ich neben seinem Bett fand. Er wird gewollt haben, dass diese Blätter gefunden werden, wenn er geht. Die Literatur war, wie ich wusste, seine Passion. Er erwähnt manchmal, dass er selber schreiben würde. Es sei ein Hobby, wie er sich ausdrückte. Als es ihm schon nicht mehr gut ging, sagte er mir dass, das Schreiben eine Art Therapie für ihn sei. Er würde auf diese Art seine Dämonen in Schach halten. Ich verstand ihn damals nicht richtig. Heute, nachdem ich seine Texte gelesen habe, glaube ich zu wissen, was er meinte. Ich bin davon überzeugt das die Texte die er zurückgelassen hat die Geschichte seines psychischen Verfalls erzählen. Ich glaube nicht, dass die Texte die Realität seines Lebens wiederspiegeln und in diesem Sinne autobiographisch sind. Ich denke, dass es sich um fiktive Bilder handelt, die von seiner verzerrten Wahrnehmung der Realität berichten. Ich hoffe wirklich sehr, dass es sich so verhält. Der erste Text, den ich hier einfügen möchte, entstand vermutlich in der Zeit als JoJo nach Göttingen kam.

Entlag einer geodätischen auf der Sphäre der Orte, entlang einer geodätischen auf der Pseudosphäre der Zeitpunkte, bewege ich mich mit 280km/h von einem Werk zum nächsten. Dieser Zug ist gefüllt mit Lebewesen, die ich an ihrem gehabe als Homo Sapiens identifiziere. Einst sagte man mir, dass ich zur selben Spezies gehöre. Ist dem so? Gewiss, in meinem Gepäck befindet sich eine Geburtsurkunde. Der Ort und die Zeit meiner Geburt werden angegeben, die Namen meines Vaters und meiner Mutter sind genannt. Weiterhin ist da das Abschlusszeugnis eines Gymnasiums mit meinem Namen. Ferner findet sich das Diplom einer Universität und eine Urkunde über meine Dissertation. Meine Leistungen sind schriftlich bestätigt und benotet. Bin ich Kraft biographischer Daten, und meiner Leistungen ein Mensch? Dies sind nur ins Nichts geworfene Rettungsanker. Die Menschen versuchen verzweifelt sich an ihnen festzuhalten, solange sie noch Angst haben zu fallen. Die geniale Laurie Anderson singt: „You are walking and you don’t always realize it but you are always falling with each step you fall forward slightly“. Oder wie die Existenzialisten sagen würden Leben ist Leben zum Tod. Für mich ist nicht genug Raum weder, in diesem Zug noch auf dieser Erde. Die Nähe der Homo Sapiens ist unerträglich, ich bin nicht mehr bei mir selber. Ich lache die Menschen in dem Abteil in dem ich sitze an. Was bleibt auch sonst schon im Umgang mit Ihnen? Dann stehe ich auf und verlasse das Abteil, gehe auf den Gang und setzte mich auf meine Taschen. Beruhigende Müdigkeit steigt in mir auf. Mein Sedotonienspiegel wird höher, wie die Reduktionisten sagen würden. Ich mag die Qualität dieser Empfindungen, eine Tatsache, zu der die Reduktionisten nichts zu sagen haben. Es ist keine Zeit zu schlafen. „Niemals schlafen, alles ist Lüge“, meint Blixa Bargeld. In zwei Stunden werde ich an einem anderen Ort, einem Schnitt in Dedekind`s Kontinuum ankommen. Es wird Zeit Alkohol zu trinken, um das leichte Glück der Müdigkeit zu steigern. Ich lasse meine Sachen, die mich nicht kümmern zurück und gehe ins Zugbistro. Zu dieser goldenen Nachmittagsstunde trinke ich ein Pils, der Whisky im Bahnbistro ist, wie ich weiß, ungenießbar. Gegenden huschen vorbei, Menschen huschen vorbei. Sie alle nehmen zu viel Raum in einer eindimensionalen Zeit ein. Hawkins und Penrose meinen man sollte der Zeit eine Dimension hinzufügen um alle Geschichten des Universums unterbringen zu können. Das ganze wird zu einer Kugel kompaktinfiziert, damit kein Anfang und kein Ende notwendig sind. Nietzsches ewige Wiederkehr des immer Gleichen wird zur ewigen Wiederkehr alles Möglichen. Ich denke, dass dieses Modell nicht hinreichen wird. Das Bewusstsein und seine Perspektive wird außer Acht gelassen. Man sollte alles noch einmal verdoppeln, wie Roussel es getan hat. Die Zeit ist mindestens vierdimensional man wird zu der Qaternionen als Modell greifen müssen, um alle Perspektiven, alle Möglichkeiten einen Blickwinkel einzunehmen, beschreiben zu können. Ja ich bin es. Ich werde es euch beweisen, und die Ehre wird mit zu Teil. Noch ein Bier bitte. Die Schwarzhaarige Frau, die dort ihren Kaffee bestellt, ist hochgradig anziehend. Ihr Hinterteil ist weit und weich. Ich werde ihren Oberkörper gleich nach vorne beugen und von hinten in sie eindringen. Wenn sie kommt, wird sie in die Augen des schnoddrigen Kellners des Zugbistros blicken. Sie nimmt ihren Kaffee, wendet sich um. Wir haben für einen Moment Augenkontakt, dann schaut sie weg, und geht an mir vorbei. Ich bin enttäuscht und bestelle ein drittes Bier. Die Lust pulsiert in mir. Die Erektion eines Spiegels, der Reflexe der Welt wirft, will bedient werden. Ich verlasse das Bistro und betrete eine giftig grünen Zugtoiletten. Ich schließe die Tür hinter mir ab, insoweit bin ich Mensch, ja mehr noch ein zivilisierter Teil der Gemeinschaft der Menschen. Erst wenn ich jede Tür geöffnet lasse, bin ich ganz bei mir. Ich lege meinen Mantel über die Klobrille und lasse meine Hose herunter. Ich werfe mir aus grauen Augen einen Blick zu und befriedige mich gegen den Spiegel spritzend. Millionen winziger JoJo`s rinnen den Spiegel hinunter und Richtung Ausguss davon. Ich beeile mich den Spiegel und das Waschbecken mit den ausliegenden Papiertüchern zu säubern. Dann verlasse ich die Toilette und kehre zu meinen Sachen auf dem Gang zurück. Auf zu neuen Werken. Der Zug wird bald in Göttingen, der Stadt meiner zukünftigen Untaten ankommen.


Er fing tatsächlich wenige Tage nach unserer ersten Begegnung an zu arbeiten. Sein Büro war im Hause ein Stockwerk unter meinem. Die Verwaltung hatte ihm nur einen kleinen Raum mit Blick in den Hinterhof zur Verfügung gestellt. Ich selber habe ein geräumiges Büro mit Blick auf den Park an der alten Stadtmauer Göttingens. Im Gegensatz zu Jojo war ich damals in der sicheren Stellung eines Akademischen Rates. Es tat mir ein wenig leid für JoJo, dass er unter schlechteren Bedingungen arbeiten musste als ich. Er schien sich aus dieser Tatsache nicht viel zu machen und bald hatten wir die Gewohnheit angenommen das Mittagessen in der Mensa zusammen einzunehmen. Wir sind ungefähr im gleichen alter, ich drei Jahr älter als er und wir waren beide, im Gegensatz zu Professoren und Studenten, dem Akademischen Mittelbau zugeordnet. Damit waren die Vorrausetzung für einen freundschaftlichen Umgang von gleich zu gleich gegeben. Dabei war ich es allerdings immer der den Kontakt zu JoJo suchte. Ich war von Anfang an von ihm faszinieren und mochte ihn mit der Zeit wirklich sehr. Er hatte sich wohl bald an den Umgang mit mir gewöhnt, ansonsten war er nicht sonderlich Kontakt freudig. Er besuchte nur selten die Seminare und Colloquien des Instituts und saß dort immer für sich alleine.
Sein direkter Vorgesetzter war Prof. Dr. Vogt, ein durchaus angesehner Theoretischer Physiker. In der erste Zeit gesellte sich Vogt manchmal beim Mittagessen zu uns, er unterließ dies jedoch nach einigen Wochen wieder. Vogt hatte JoJo für die Arbeit an einem seiner Projekte angestellt. Er war auf seine bayrisch bodenständige Art enttäuscht das JoJo nicht an seinem Projekt arbeiten wollte. Mir sagte Vogt unter vier Augen, dass er einen Fehler gemacht habe Herrn Fest einzustellen. „Der tut doch immer nur was er will“. Verantwortung und Pflicht waren tatsächlich nie JoJo`s Angelegenheit. Als ich ihn hierauf ansprach meinte er dazu, dass er wie ein Naturgesetz sei, dass sich nicht um die Wünsche der Menschen kümmern müsse. Woran er nun tatsächlich in Göttingen arbeitete, wurde mir nie klar. Er wirkte zeitweise bis zur geistigen Abwesenheit beschäftigt. Er sprach über seine Arbeit aber immer nur in Andeutungen und Halbsätzen. Nachfragen, von mir oder den Professoren, wusste er durch sein lachen oder durch einen langen auf den Boden gerichteten Blick auszuweichen. Er war auch für mich, seinen Freund, unnahbar.
Die Frage ob er während seiner Beschäftigung am Institut wirklich physikalische Forschung betrieb ist schwer zu beantworten. Ich habe mir, um ihn bessere einschätzen zu können, seinen publizierten Arbeiten beschafft. Es handelt sich um eine Hand voll, fraglos origineller, Skizzen einer neuen kosmologischen Theorien der Zeit. Die Journale in denen diese Artikel erschiene sind, haben Renommee und ein strenges Begutachtungserfahren. Meine eigenen Arbeiten sind durchaus manchmal abgelehnt worden. Trotzdem ist die Darstellung seiner Ideen ungeordnet und schwer nachzuvollziehen. Ich bezweifele, dass JoJo seine Ideen in Göttingen weiterentwickelte hat. Seine Publikationen aus dieser Zeit werden auf Gedanken beruhen, die er während seiner Promotion in Hamburg ausgearbeitet hat. Ich möchte an dieser Stelle einen Texte einfügen, der zeigt, dass Jojo in Göttingen mit etwas anderem beschäftigt war.

Dieser Spiegel muss noch einmal Reflexe der Natur werfen. Die Spiegelung ist intensiv. Ich bin nicht erlöst. Ich habe noch ein Bewusstsein der Natur und die Natur ist nicht erlöst, sie wird immer noch von mir empfunden. Ein Paar Augen blicken in meine Augen. In diesen Augen liegt Freude. Ich reagiere, einem Gesetz der Natur eines Spiegels folgend, mit Freunde. Die Natur enthüllt sich vor mir in ihrem ewigen Tanz. Dies ist eine Disco in einer Stadt die von den Menschen Göttingen genannt wird, in einer Zeit die von den Menschen das 21 Jahrhundert genannt wird. Vor mir auf der Tanzfläche sehe ich die leibhaftige Shiva. In den grellen Blitzen der Stroboskoplampen nehmen ihre Bewegungen immer mehr Raum ein. Reduktionstisch betrachtet ist Shiva in einem Endorphin Rausch. Nur wie fühlt es sich an, ein Gehirn welches von Hormone überschwemmt wird, zu haben. Unsagbar so. Ihre muskulösen Arme, ihr Bauch und ihre breiten Hüften rotieren im Takt der Musik. Ihre Beine bleiben fest im Boden verankert. Ein Song der Legendären Rosa Punkte spritzt wie Samen aus überdimensionalen Lautersprechender auf die Tanzfläche. Shiva`s glatte blonde Haare, deren graue Strähnen in hintergründigem Schwarzlicht leuchten, peitschen um ihren Kopf. Ihre Augen erblicken mich abseits von allem an der Bar. Trotz der Entfernung kann ich das Grün ihrer Iris, ja selbst einzelne braune Sprenkel in ihren Augen erkennen. Diese Augen rufen mich unwiderstehlich. Ich stelle mein Glas Whisky auf dem Tresen ab, dränge mich durch die Enge zuckenderer Körper. Ich versuche hinter Shiva zu kommen. Blixa Bargeld singt, "Weg die Liebe nicht, bevor es dir nicht gefällt, bevor es dir nicht gefällt“. Bald tanze ich genau hinter ihr. Ich erwarte, dass sie sich zu mir umwendet doch sie tut es nicht. Ich nähre mich ihr Schritt für Schritt, bis ich ihren Schweiß riechen kann. Ein Verhaltensbiologen würden behaupten das ihr Immunsystem meines genau ergänzt, da mich ihre Pheromone erregen. Diese Empfindung ist stark, ein Schwindel beginnt. Die Zeit konzentriert sich, wird von Takt zu Takt dichter. Ich empfinde zum ersten mal die Nähe einer Singularität in der Zeit. Ich bekomme Angst den Ereignishorizont zu überschreiten und nie mehr zurück zu kehren. Die Macht von Shiva über mich ist groß. Ich reiße mich ruckartig von ihr los und fliehe zu meinem Glass an der Bar. Ich trinke meinen Whisky aus, und bestelle einen Weiteren. Als ich mein neues Glass zu Mund führen will, spüre ich tief in meinem Unterleib, im Beckenboden, dass Shiva neben mir steht. Wir sehen uns an, ein Lachen überfällt mich. Sie sagt: „Muss ich dich jetzt küssen, damit du nicht weg bist“. „Du musst nicht aber du darfst“. Sie beugt sich zu mir hinüber und wir fassen uns mit den Lippen an. Als sich unsere Zungen berühren höre ich zum ersten mal den Nachhall des Big Bang. Shiva und Sakti, Natur und Bewusstsein vereinigen sich. Etwas fällt in ein Loch der Zeit. Danach ist nichts mehr. Ich finde mich mit einer unbekannten Frau halb unter dem Flipper neben einer Bar in einer Disco liegend, wieder. Meine Hände streicheln die Haut dieser Frau. Sie sagt: „Nicht hier ich kann das hier nicht“. Wir stehen auf, für einen Moment ist der Abstand unserer Körper wiederhergesellt. Die Frau fragt: „Kommst du mit zu mir?“. „Ja.“. Ich lasse mein Glass Whisky auf dem Tresen stehen. Wir verlassen die Disco und schlendern Hand in Hand durch eine warme Frühlingsnacht zu ihr.

In seinem zweiten Sommer in Göttingen sah ich JoJo manchmal zusammen mit einer stämmigen blonden Frau in der Fußgängerzone der Stadt. Wenn ich Einkäufe für meine Frau, die in diesem Sommer hochschwanger war, erledigte, konnte ich die Beiden manchmal in einem Cafe am Marktplatz beobachten. Ich sah sie nebeneinander sitzen, miteinander lachen und sich küssen. Einmal sah ich JoJo in einer langen Umarmung mit der Frau am Brunnen vor dem Rathaus. Für mich war klar, dass JoJo sich verliebte hatte. Er wirkte diesen Sommer beinahe glücklich. In jedem Fall war er gelöster und weniger angespannt, als früher. Bei unseren gemeinsamen Mittagessen war er zu Scherzen aufgelegt und entwickelte eine treffende Ironie über die Verhältnisse am Institut. Jeden Tag, wenn er ins Institut ginge, käme er sich so vor wie ein Eremit im tiefen Wald. Er würde täglich Platzhirschen, jungen Keilern, Rehen und einer ganzen Horde junger Kitze begegnen. Er beobachte die Geschehnisse mit dem interessierten Blick eines Zoologen, es menschele unter den Wissenschaftler doch sehr. Ich frage mich ob er mich ehr zu den Keilern oder der Rehen rechnete.
Da JoJo recht zugänglich war, wagt ich ihn beim Mittagessen nach der Frau, mit der ich ihn zusammen sah, zu fragen Seine Reaktion war ungeheuer arrogant: „Es handelt sich um Leidenschaft, davon verstehst du nichts.“ Ich war verletzt, schließlich war ich auch einmal in meine Frau verliebt. Ich konnte ihm aber nicht lange grollen. Hinter seiner Arroganz war immer eine äußerst empfindsame Natur zu spüren. Als er einmal bei mir zu Besuch war, sah ich dies deutlich. Einige Monate, nachdem meine Tochter geboren wurde, fragte ich ihn, ob er Lust habe meine Familienleben zu begutachten. Er lächelte und meinte das er sehr gerne zu mir kommen würde. Ich war überrascht, ich hatte damit gerechnet, dass er meine Einladung ausschlagen würde. Er verkündet ansonst immer strahlend das eine Familie nicht sein Problem sei und dies auch nicht werde. Als er zum Abendessen zu mir kam war er von ausgesuchter Freundlichkeit. Er hatte einen Strauß Blumen für meine Frau mitgebracht. Nachdem er ihr die Blumen übergeben hatte, sagte er zu ihr: „Ich gratulier ihnen vielmals zu der, wie ich höre, gut überstanden Geburt.“ Meine Frau war von seiner Höfflichkeit beeindruckt, die in gewissem Gegensatz zu dem stand, was ich ihr vorher über JoJo erzählt hatte. Er lobte, während des gemeinsamen Essens, wiederholt die Kochkünste meiner Frau, obwohl er wie immer kaum etwas zu sich nahm. Nach dem Essen zeigten wir ihm unsere Tochter, die in ihrem Bett lag und zu schlafen schien. Wir standen zu dritt um das Bett herum und betrachtend Laila. JoJo wirkt wie gebannt und hatte einige Minuten nur noch für das kleine Lebewesen Aufmerksamkeit. Meiner Frau und mir gefiel JoJo`s Haltung sehr, wir waren selbstverständlich stolze Eltern. Ganz unvermittelt fing die Kleine an zu Weinen. JoJo kam meiner Frau zuvor und nahm Leila auf den Arm. Nach wenigen Sekunden hörte sie auf zu weinen und schlief in seinem Arm wieder ein. JoJo legte das Baby zurück in das Bett und wir verließen schweigend das Zimmer. Später saß ich mit JoJo allein im Wohnzimmer, während meine Frau den Abwasch besorgte. Wir tranken einen Whisky und unterhielten uns. „Ich wusste noch gar nicht das du mit Kinder umgehen kannst.“ „Ich weiß nicht ob ich es kann. Ich mag Kinder tatsächlich und sie mögen mich. Eine Tatsache die mich allerdings wundert.“ Er spielte mal wieder mit seinem imaginären JoJo und war beinahe kindlich versunken. „Willst du einmal Kinder haben?“ „Nein, ich habe besseres zu tun.“ „Und deine Freundin?“ Diesmal blickte er erschreck auf den Boden, dann blitzten seine Augen mich an, „Bei ihr handelt es sich um ein humanoides Weibchen, bei dem es nicht mehr lange bis zur Menopause dauert. Wie sollte sie also keine Kinder wollen?“ „Das ist die Antwort eines Zoologen. Wie stehst du als Mensch dazu?“ Er schwieg. Wie ich folgendem Text entnehme war er, was dieses Thema anbetrifft, äußerst empfindlich.

Wir lieben uns in dieser Nacht, wie in vielen Nächten zuvor. Wir beobachten im Spiegel neben Shiva`s Bett das Tier vierbeinig, vierarmig und zweiköpfig, noch nicht in die Dualität aufgespalten. Diese Einheit hält im arytmetischen Mittel etwa eine halbe Stunde, dann zerreißt sie und alles ist vorbei. Shiva steht auf und geht ins Bad, um sich zu waschen. Sie tropft und lässt eine Spur unserer Körpersäfte hinter sich. „Der goldene Schnitt durch die Kehle eines verehrbahren Gottes“, singt Blixa Bargeld. Dies ist ein Einsturz in klassischen Proportionen. Was empfunden wird ist, was empfunden wurde, war. Die Einheit wurde empfunden, und war damit, die Einheit wird nicht empfunden, ist also nicht. Noch ist die Erlösung, der Tod im transzendentalen Sinne als die Abwesenheit jeglicher Empfindung, nicht da. Das Loch in der Zeit, das sich zwischen den Schenkel der Frau findet ist gefüllt und somit geschlossen. Shiva kommt aus dem Bad zurück und legt sich neben mich. Sie liegt ein Stück von mir entfernt, ist mir aber trotzdem viel zu nah. Der Raum reicht für mich nicht. Ich verschwinde für einen Augenblick im WIR. Will dies nicht, nicht mehr ICH. Ich flüchte mich in meinen Schlaf. War wohl wieder bei mir, wurde wohl von ihr im Schlaf betrachtet. Ich muss erwachen. Die fremde Frau, mit der ich eins war, blickt mich immer noch an. Sie meint mir etwas sagen zu müssen, „Du weißt, dass ich auf die Vierzig zugehe ich will ein Kind und verhütte nicht.“ Im Hintergrund vernehme ich ein leises Geräusch: „PLOPP.“ Der Naturalist würde sagen, dass eines meiner Spermien den Weg in ihre Gebärmutter gefunden hat und in diesem Moment schwanzwedelnd in ihre Eizelle eindringt. Ich lache. „Warum lachst du?“ Mein lachen gefriert. Ich werde zu einem kalten Spiegel aus poliertem Stahl, ich bin nicht mehr aus Fleisch und Gebein. Ich sehe eine Packung Schlaftabletten auf ihrem Nachtisch liegen. Ich würde gerne die Schachtel leeren um einen tiefen Schlaf zu tun. Ihre Stimme wird weich: „Möchtest du nicht auch ein Kind haben?“ Sie ergreift meint Schulter mit der rechten Hand und reibt mit ihrer linken Hand über meinen Bauch. Die Stelle auf meinem Bauch, unter dem die Esoteriker das Zentrum der Persönlichkeit verorten, verkrampft sich. Sie zieht ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. „Ich habe ein Werk zu vollbringen, ein Kind würde mich nur behindern. Ich will bestimmt kein Kind.“ „Aber selbst du hast doch Vater und Mutter gehabt. Sie habe dich gezeugt, sonst wäre es doch gar nichts mit deinem Werk.“ Sie legt mir nun eloquent dar, dass sich grade hieraus die Verantwortung ergibt das Leben von Generation zu Generation weiterzugeben und es zu schützen, damit neue Werke vollbracht werden können. Ich schweige und betrachte die dunkelblaue Packung Schlaftabletten. Auf der Verpackung ist der Nachthimmel mit Mond und Sternen zu sehen. Schlafen, sterben, schlafen, das Leben verlassen, dass ich nicht gewählt habe. Ich sage Shiva nicht, was ich denke. Ich sage einschmeichelnd: „Komm, wir gehen raus in eine Bar, trinken etwas, unterhalten uns weiter und lieben uns später ein zweites mal.“ Ich lächele sie auf meine kindlichste Art an. Sie ist einverstanden. Wir verlassen ihre Wohnung und gehen in die Stadt.

Nachdem JoJo Göttingen verlassen hatte, wartete ich darauf seine Geliebte zu treffen. Als ich sie endlich in der Fußgängerzone sah, ging ich ihr nach und sprach sie an. „Entschuldigen sie bitte, sie kennen doch JoJo, Herren Fest meine ich. Haben sie etwas von ihm gehört? Wissen sie wo er ist?“ Sie sah sehr erschreck aus, als würde sie ein Teil ihrer Vergangenheit, den sie zu vergessen versucht, nun einholen. „Nein, das habe ich nicht.“ „Ich bin Stefen Liebscher und war sein Kollege an der Universität und sein Freund.“ „Ich weiß.“ Für einen Moment schwiegen wir. Ihre Augen wurden matt und traurig, ich glaube verdeckt ihre Verzweifelung gesehen zu haben. Ich fragte „Wollen wir einen Kaffee zusammen trinken gehen, ich würde gerne mit ihnen über JoJo reden.“ Sie trat einen Schritt zurück, ihre Augen wurden unzugänglich und sie antwortete kalt „Ich bin nicht bereit über ihn zu reden, entschuldigen sie mich bitte.“ Sie drehte sich um und ging davon. Ich blickte ihr nach. Ich sehe JoJo Geliebte manchmal in der Stadt und warte darauf, dass sie eines Tages mit mir über JoJo redet. Wenn auch nur ein Teil von dem, was JoJo schreibt, mit der Realität seiner Beziehung zu dieser Frau zu tun hat, kann ich gut verstehen, dass sie um vergessen bemüht ist.

Dies ist der letzte Teil einer Liebesgeschichte. Diese Geschichte spielt in der Universitätsstadt Göttingen in der Bundes Republik Deutschland. Ich bin ein Bürger dieses Landes und übe den Beruf des Physikers an der Universität Göttingen aus. Meine Eltern leben in der Hansestadt Hamburg und beziehen ihre Rente. Ich bin seit 32 Jahren auf dem Planeten Erde. Würden wir Menschen den Satz vom ausgeschlossenen dritten endlich aufgeben, so könnte ich sage, dass diese Aussagen maximal zu zehn Prozent wahr sind. Zum übrigen Anteil der Wahrheit: Ich habe die Reißleine gezogen, fiel und bin zersplittert. Ich bin ein zerbrochner Spiegel der, zu meinem entsetzen, immer noch Fetzen einer Welt spiegelt. Die Tür, die sich nicht mehr verschließen, lässt, wird geöffnet. Shiva stattet mir einen Besuch in meiner Unterwelt ab: „Ich bin schwanger von dir, ich will das Kind bekommen.“ Ich schreie „Nein, ich will nicht, dass dieses Kind geboren wird.“ Ich werde sie schlagen, so mag sie fallen. Sie sieht die kalte Wut in meinen Augen und verschränkt die Arme schützend vor ihrem Bauch. Ich schreie: „Wenn du das Kind bekommst bring ich mich um.“ Ich ergreife ein langes Küchenmesser und drücke die Spitze des Messers unter mein Brustbein. Sie beginnt zu weinen. „Warum tust du das? Wir haben uns geliebt!“ Als hätte das Leben einen Wert und der Begriff der Liebe eine Bedeutung. Ich lache, ich lache all die aus, die es glauben. Sie flieht vor meinem Lachen. Ich lege das Küchenmesser bei Seite und gehe ihr nach. Ich finde sie im Stadtpark, gegenüber der Universität, an eine Mauer gekauert. Sie hat schwere Krämpfe im Unterleib. Ein Mediziner würde die Diagnose stellen, dass sie unter einem stressbedingten früh Apport leidet. Ihre Hose ist im Schritt von ihrem Blut durchnässt. Ich nehme sie in den Arm, sie schluchzt an meiner Schulter. Wie fühlt es sich an ein Kind zu verlieren? Ich kann es nicht wissen. Qualitäten von Empfindungen bleiben irreduziebel. Man weiß dann, und nur dann, wie es ist eine Empfindung zu haben, wenn man die Empfindung hat. Ich habe Angst das mir Shiva verblutet, so trage ich sie aus dem Park, rufe uns ein Taxi und bringe sie in das Universitätsklinikum. Dort wird sie behandelt, die Reste des Embryos werden ausgeschabt. Es ist hinüber. Ich fühle das Messer immer noch an meinem Bauch.

JoJo`s Vertrag an der Universität Göttingen wurde nach zwei Jahren nicht verlängert. Professor Vogt sagte mir hierzu, dass mit Joachim Fest nichts anzufangen sei. Jojo war nicht schockiert, er hatte damit gerechnet. Er meinte zu mir, dass er mit dem Arbeitslohngeld eine Zeit gut leben könne und sich nun auf bessere, seinem Talent entsprechende, Stellen bewerben werde. An dem Tag als er sein Büro an der Universität leer räumte wirkte er erstaunlich gelassen, beinahe ausgeglichen. Er sprach auch mit mir nicht darüber, was in ihm vorging. Wie es typisch für ihn ist, verließ er das Institut endgültig ohne sich vom Irgendjemanden zu verabschieden. Seitdem er nicht mehr an der Universität arbeitete, trafen wir uns natürlich nicht zum Mittagessen in der Mensa. Stattdessen lud ich JoJo regelmäßig zum Abendessen in die Pizzeria gegenüber dem Physikalischen Institut ein. Er aß nun noch weniger und trank noch mehr als früher. Ich erinnere mich, dass er während eines Abendessens fünf Halbe Liter Bier und einige Whisky zu sich nahm. Trotz seines Alkoholkonsums blieb seine Rede aber vernünftig. Er erzählte mir von seinen Bewerbungen auf Professuren in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Ich schätzte seine Chancen eine solche Stelle zu erhalten, nicht sehr hoch ein. Ich denke, ihm fehlten die notwendigen persönlichen Kontakte und die herausragenden Leistungen. Ich sagte ihm dies aber nie direkt. Ich bot ihm an meine Beziehungen einzusetzen, um ihm zu Helfen eine neue Anstellung zu finden. Er reagiert ohne Wut, lehnte mein Angebot aber dankend ab. Zurückhaltend meinte er, er werde seine Probleme alleine lösen. Mit der Zeit konnte ich sehen, wie JoJo`s seelische Probleme körperlicher Konsequenzen zeitigten. Seine Haut wurde immer durchscheinender, bald konnte man seine Venen als blaue Marmorrisierung unter der Haut erkennen. Er wirkte schwach, seine Hände zitterten, manchmal viel es ihm schwer sich zu erheben. Seine Energie war verschwunden und seine Augen waren nicht mehr strahlend. Sein schönes Gesicht wurde mehr und mehr von geplatzten Adern entstellt. Ich wies ihn auf den augenscheinlichen Verfall seines Körpers hin. Er sagte darauf, dass er sich sehr wohl darüber bewusst sei. Helfen lassen wollte er sich auch in dieser Zeit nicht.
Ich versuchte ihn zu meiner Familie einzuladen, was er entschieden ablehnte. Er war der Meinung, dass er sich in seinem Zustand nicht meiner Frau und dem Kind zumuten dürfe. Ich ging nach unseren Treffen tief deprimiert nach Hause. Welch ein gebildeter und intelligenter Mensch verfiel hier vor meinen Augen. Ich vermutete schon damals, dass ihn nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch das Scheitern seiner Liebesbeziehung belastet. Nachdem ich den nachfolgenden Text gelesen habe, bin ich davon überzeugt das er von schweren Schuldgefühlen geplagt wurde und die Frau schmerzlich vermisste. Den Alkohol benutzte er gewiss um für eine Zeit vergessen zu können. Vielleicht versuchte er sich tatsächlich auch auf eine andere Art über seinen Kummer hinweg zutrösten.

Dies ist die Nachtstadt. Ich suche Shiva in einer Hurengasse. Ich vermisse sie, seit wir uns nicht mehr treffen.. Dies macht mich, im Land der letzten Dinge, zu einem Menschen. „Sehnsucht ist die einzige Energie“, meint Blixa Bargeld. Die Erinnyen verfolgen mich, sie hetzen mich in die Nacht. Ich suche ein weiteres Loch in der Zeit, eine Singularität, in dieser Hurengasse. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es so etwas zwischen den Schenkeln einer Frau gibt. Ich bin nicht mehr in der Lage eine Theorie zu entwickeln, die diese Erfahrung erklärt. Was kostet ein Loch in der Zeit hier in Göttingen. Die Welt um mich herum schwankt, ich torkele. Das Licht ist rosa, eine Interferenz der Abenddämmerung mit dem roten Licht der Bordell Lampen. Die Huren stehen in den Fenstern und rufen mich, indem sie gegen die Glasscheiben klopfen. Die Nähe der Anderen Menschen gebiert Schuld. Durch Alkohol wandelt sich die Schuld, in meinem Fleische in Harnsäure um. Ich pinkele an eine Laterne zwischen den Häusern. Die Erinnyen sitzen auf meiner Schulter, sie haben mich erreicht und werden mich nicht mehr verlassen. Die Körper der Huren werden durch enganliegend Bodys betont. Ich wähle eine Schwarze mit großen Brüsten und starken Armen aus. Für 100 Euro darf ich zu ihr kommen. Das Zimmer, in das sie mich führt, ist klein und leuchtend Orange. Kitschige Bilder von Pärchen in Tantrastellungen hängen an den Wänden. Sie zieht ihren Body aus. Ihre Haut ist dunkel und glatt, sie ist für die Liebe gebaut. Ich versuche sie auf den Mund zu küssen, sie lässt es aber nicht zu. Entweder ihr Berufethos oder mein Mundgeruch verbietet es. Sie zieht mich geschickt aus und beginnt mich zu blasen. Mein ZNS tanzt, um Blixa zu zitieren. Es ist harte Arbeit für sie, der Alkohol in meinem Blut wirkt nach. Irgendwann hat sie mich endlich im physiologischen Sinne und zieht mir ein Kondom über. Das alles dauert viel zu lange. Meine Erektion wird schwächer. Die Welt ist durch Polyäthylen von mir getrennt. Ich kann mich von außen sehen, nackt vor einer Hure stehend, die vor mir kniet. Meine Lust schwindet. Sie scheint es zu merken, und legt sich daher auf eine himmelblaue Decke und spreizt ihre Beine. Ich sehe ihre rosa Schamlippen zwischen ihren schwarzen Schenkeln. Diese begrenzen ein Loch im Raum nicht in der Zeit. Sie sag: „Komm“. Ich dringe in sie ein und komme nach freudloser Vögelei. Einige Sekunden bin ich doch erleichtert, wenn auch nicht erlöst. Dann kehrt der Schmerz zurück. Die schwarze Frau umarmt mich zum Abschied kurz, dann muss ich sie verlassen. Die Sonne ist untergegangen. Ich bin in der Nachstadt. Es hat angefangen zu regnen. Das Licht der roten Laternen wird vom feuchten Asphalt gespiegelt über den ich mich von da weg trolle.

Bei unserem letzten gemeinsamen Essen in der Pizaria an der Universität wirkte JoJo sehr verstört. Die Nerven um seinen Augen zuckten nervös und er konnte seinen Blick für keine zwei Sekunden ruhig halten. Er erzählte mir von einem Vorstellungsgespräch am Weierstrass Institute in Berlin, bei dem er nicht in der Lage war seine neue Theorie der Zeit darzustellen. Sein Ansatz die Annahme der Kompaktheit der Zeit aufzugeben und Singularitäten in zeitlichen Koordinaten zuzulassen, wurde, wie er sagte einfach nicht begriffen. Insgeheim fragte ich mich was der Sinn einer solchen Theorie sein soll, für die es weder eine systematische noch eine empirische Begründung gibt. Mir ging es wohl genauso wie seiner Zuhörerschaft in Berlin. An diesem Abend bekam ich regelrecht Angst um JoJo. Seine psychologische Gesundheit schien gefährdet und ich wusste nicht, was ich tun sollte. JoJo meinte es wäre gut, dass er Stelle am WIAS nicht bekommen würde. Warum sollte er unter Menschen arbeiten, die ihn nicht verstünden: „Perlen vor die Säue“. Die Menschen wären es nicht wert sein Vermächtnis zu erhalten. Er schien nun regelrecht größenwahnsinnig geworden sein. Ich dachte daran ihm zu empfehlen sich professionelle Hilfe zu suchen und zu einem Psychologen zu gehen. Ich werfe mir heute immer wieder vor, dass ich es nicht getan. Ich bat ihn stattdessen mir seine neue Theorie der Zeit zu erklären. Er ging darauf ein. Wir saßen bis um zwölf Uhr nachts in der Pizaria. Jojo bestellte sich Unmengen an Bier und Whisky. Er sprach über die Zeit, den Raum, das Bewusstsein, die Perspektiven, die Qualität von Empfindungen, die Frauen, den Tod und die Erlösung. Durch meine Nachfragen versuchte ich den Eindruck zu erwecken, dass ich ihn verstünde. Nachdem er zu Ende gesprochen hatte, wirkte er getröstet. An diesem Abend habe ich zum ersten mal echte Dankbarkeit in seinen Augen gesehen und wir verabschiedeten mit der Andeutung einer Umarmung. Ich habe nichts von dem was er mir gesagt hat verstanden und ich zweifele daran das seine Theorien auch nur den kleinsten Nutzen haben. Das ich zuhörte war nicht mehr als ein Akt meiner Freundschaft zu ihm. Ich versuchte JoJo in den nächsten Wochen telefonisch zu erreichen, er meldete sich aber nie. Dann war sein Telefon abgestellt. Als sein Freund hätte ich bei JoJo vorbeigehen müssen, um mit ihm zu reden. Leider habe ich die Gelegenheit verpasst. Und so bleibt mir an dieser Stelle nur JoJo`s letzten Text einzufügen

Eine verzweifelte alte Frau sitzt am Tresen und bestellt Ouzo. Griechenland steht unserer Verzweifelung Pate. Sie sagt das ihr Mann sie verprügelt. In einem kurzen Aufblitzen von Mitgefühl, empfehle ich ihr in ein Frauenhaus zu gehen. Dann trinke ich meinen Whisky aus und fliehe vor ihr. Unsere Verzweifelung hat sich für eine Sekunde berührt. Sie folgt mir hinaus auf die Straße. Ich beschleunige meinen Schritt um von ihr wegzukommen. Ich spüre sie hinter mir, als eine der vielen Erynee. Sie holt mich ein, mein Wille ist zerbrochen. Ich schaffe es nicht wegzukommen. Ich bin ihren Projektionen ausgesetzt. Wir sitzen nebeneinander auf einer Bank vor dem Rathaus Göttingen. Sie erzählt das sie Spielzeug hat, viel Spielzeug in einem kleinen Laden direkt um die Ecke des Rathauses. Sie will mich mit in ihren Laden nehmen. Ich soll ihr Spielzeug sehen. Dies ist das einzige was sie noch liebt. Ich werde ihr Spielzeug sein, damit sie mich lieben kann. Sie muss den Laden schließen, sie hat kein Geld mehr weiter zu machen. Ihr Mann hilft ihr nicht, sondern schlägt sie, weil sie mit dem Laden nicht genug verdient hat. Sie verdient mich, ihr letztes Spielzeug. Was interessiert es mich noch, ich gehe mit ihr. Im Erdgeschoss eines Fachwerk-Hauses ist der Laden. Ich trage um letzten mal meinen grünen Mond. Wir betreten den Laden. Sie nimmt eine Puppe in den Arm und beginnt zu weinen. „So huch now Baby dont you cry“. Die Dinge spiegeln sich erneut. Auch sie war Shiva, aus der Blut mit totem Gewebe lief. Sie hat eine Flasche Ouzo in ihrem Spielzeugrucksack. Wir liegen auf dem Boden des Ladens und trinken. Der Schmerz kommt langsam, das Leben ist stark. Wer bin ich. Ein Spiegel. Was spiegelt dieser Spiegel: „Ich bin einer der besten Physiker Deutschlands und werde einer der besten Schriftsteller der Welt sein!“ Sie lacht mich aus: „Du bist ein wirklich lieber Mensch aber größenwahnsinnig!“ Wut steigt entlang meiner Wirbelsäule auf wie glühender Stahl. Sie stichelt meine Wut weiter an, da sie diese braucht. „Ich kenne Wissenschaftler und Künstler. Du bist keiner. Du bist einfach nur größenwahnsinnig“ Ich erhebe die Hand, um diesen Spiegel in kleine Stücke zu zertrümmern. Sie sagt: „Bringst du mich jetzt um, ich bitte dich tu es.“ Ich lege die Hände, nun zärtlich geworden, um ihren Hals. Ich drücke ihre Kehle zu. Sie beginnt zu röcheln. Der grüne Mond, der um meinen Hals hängt, zerbirst. Ich blicke in ihre Augen. Es ist so als würde sie ihren Wert erst im Augenblick des Todes erkennen. Als sie tot ist fließt die Zeit weiter sanft dahin.

In der Woche in der ich Jojo zum letzten mal am Bahnhof gesehen habe, stand in der Göttinger Zeitung, dass eine 54jährig Frau in ihrem Spielzeug Laden erwürgt aufgefunden wurde. Vom Täter bestehe keine Spur. Nach wie vor bin ich davon überzeugt das JoJo diese Frau nicht umgebracht hat. Ich glaube nicht, dass er dazu Fähig wäre so etwas zu tun. Ich gehe davon aus, dass JoJo auch von dem Vorfall in der Zeitung gelesen hat. Dies hat ihn dann dazu angeregt seiner Befindlichkeit in einem letzten Text Ausdruck zu verleihen, bevor er Göttingen verlässt. Ich suche ihn um zu erfahren ob es sich so verhält. Eines Tages werde ich JoJo finden und ihn fragen.
 

Rainer

Mitglied
hallo neuni,

ja, solche texte kann ich gut leiden - gefällt mir inhaltlich und stilistisch ausgezeichnet: schön flüssig geschrieben, keine ausgekauten wege beschritten, hinter der fassade der vordergründigen geschichte lauert noch einiges...

darf ich ein bißchen nöhlen (bei DEM text lohnt es sich ihn zu verbessern:))?

den fakt des alkoholismus würde ich vollkommen herausnehmen; er entmystifiziert mir zu viel und tut es auf eine etwas triviale weise. mach hier und dort ein paar andeutungen, aber erkläre nicht zu viel.

bitte, bitte, bitte laß den text hinsichtlich der rechtschreibung lektorieren. anfänglich hatte ich gar keine lust mehr weiterzulesen, einzig die stilistik hat mein interesse gewinnen lassen.

was mir noch in erinnerung geblieben ist:
muss es nicht shiva heißen (bin aber in dieser hinsicht völlig unbeleckt, möglicherweise ist auch siva die richtige schreibweise)?
kondome sind nicht aus polyäthylen (besser polyethylen) sondern aus latex bzw. silikonen (für die armen latex-allergiker). polyethylen ist zwar ein elastomer, aber unerotisch knistern, rascheln und schmerzhaft sich falten würde es wohl trotzdem bei dieser applikation... :)

wenn du nochmals über den text gehst, kann er viel gewinnen !
du kannst schon gut schreiben, aber die formalen belange machen wieder viel kaputt.

vg
rainer
 

neuni

Mitglied
Hallo Rainer,

nun noch einmal auf diesem Wege....danke für deinen Kommentar. Ich bin sehr an der Kritik meiner Schreinbversuche interessiert. Ich weiß das ich in den Formalen Aspektrn des Schreibens ehr schlecht bin, ich werde die Geschicht wenn ich Zeit finde noch überarbeiten.

Grüße

9i
 



 
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