Das Wunder

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chrissieanne

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Lara öffnet die Augen. Kalt und still ist es im Zimmer. Draußen regnet es. Also wird der Himmel wohl grau sein. Sehen kann sie ihn nicht, im zweiten Hinterhof parterre. Sie fühlt sich elend. Heute ist der zweite Weihnachtstag, sie hat es fast geschafft, und nun muß sie so einen Mist träumen?

Im Kreise lieber Menschen, die schon lange aus ihrem Leben verschwunden sind, saß sie an einem wunderschön gedeckten Tisch. Es wurde gescherzt und gelacht, der Raum war warm und behaglich, und es roch so gut: nach frisch geschälten Orangen und Tannennadeln, die sie an Kerzen entzündeten, nach Honigwein und Braten, der im Ofen brutzelte. Inmitten des Raums stand ein mit Äpfeln, Nüssen, Holzfiguren und Schokokringeln geschmückter Weihnachtsbaum. Rotes Lametta glitzerte und auf seiner Spitze saß ein großer, goldener Engel. An seinem Fuße lagen unzählige bunte Päckchen.
Rote Wangen und leuchtende Augen in freudiger Erwartung. Glücklich und geborgen fühlte sie sich, ihr Körper war warm und weich im Einklang mit ihrer und allen Seelen. Zusammen mit diesen Menschen, die zu ihr gehörten, würde sie das Fest der Liebe feiern.

Sowas blödes, sowas von kitschig - was soll das? Wütend dreht sie sich auf die andere Seite und zieht sich die Decke über die Ohren.

Seit Jahren ignoriert sie alle bedeutungsschwangeren Tage: Ostern, Pfingsten, Valentinstag, ihren Geburtstag, und vor allem: Weihnachten und Silvester. Weihnachten ist immer besonders anstrengend. Die ganze Adventszeit, die Lichter, Sankt Martin und Nikolaus. Die Laternenzüge der Kinder. Ständig zieht sich ihr Bauch zusammen und sie wird übermannt von dieser dämlichen Sehnsucht. Sie kann sich dem nicht entziehen. Dabei ist es so absurd.
Wenn frau Kinder hat, ja, dann sollte sie das zelebrieren, und den Kleinen ganz besondere, stimmungsvolle, aufregende Tage organisieren. Doch als aufgeklärte Erwachsene, die alleine lebt?
Weihnachten ist Konsumterror und praktizierter Sadismus am einsamen Menschen. So sieht sie das.
Alle Bedingungen der heutigen Zeit sind so, dass niemand mehr Zeit für den anderen hat. Es wird ständig suggeriert, dass jeder alles schaffen kann, und die, die nichts schaffen was gesellschaftlich anerkannt, oder zumindest hochgradig interessant ist, fallen in tiefste Depressionen. So sieht’s doch aus.
An Weihnachten treffen sich Menschen, die das ganze Jahr über sich kaum gesehen haben, und es m u ß jetzt alles wunderbar werden, und alle Defizite, die sich aufgestaut haben, müssen sich in Nichts auflösen. Das kann doch nicht gut gehen!
Diejenigen, die sich mit niemanden treffen können, hören im Radio ständig diese Weihnachtslieder und sehen im Fernsehen die unterschiedlichsten Filme, Galas und Dokumentationen, die alle nur eins suggerieren: nur du bist allein, und du bist selber schuld.
Sie w i l l aber allein sein, will n i c h t s mit alldem zu tun haben.

Lara wirft, genervt von ihren Gedanken, die Decke von sich, steht auf und stellt die Heizung an. Nachdem sie geduscht hat, schaut sie in den Kühlschrank und stellt entsetzt fest, dass sie kein Bier mehr hat. Wein ist auch keiner mehr da. Hab ich so viel getrunken ?
Sie hat sich am letzten Tag vor Heilig Abend mit Lebensmitteln und Alkohol eingedeckt, um die Tage gut versorgt zu Hause zu verbringen. Um dieses ständige Sehnsuchtsgefühl zu vermeiden, muß man konsequent zu Hause bleiben. Und - ganz wichtig: kein Radio, kein Fernsehen. Tarotkarten hat sie sich gelegt und gelesen. Tagebuch geschrieben und, sie muß es sich eingestehen, immer mal wieder geheult. Das Telefon hat nicht geklingelt. Sie hat es gehofft, auch das muß sie sich eingestehen. Aber wer soll schon anrufen? In den letzten beiden Jahren hat sie sich immer mehr ins Schneckenhaus zurückgezogen. Alle ihre früheren Freunde haben mittlerweile Familie und sind erfolgreich im Beruf. Nur sie jobbt nach wie vor in der Kneipe und hat nur hier und da mal eine Affäre .Sie hätte ja gerne gearbeitet, doch ihr Chef macht grundsätzlich die Weihnachtsschichten. Da besteht er drauf - das läßt vermuten, dass auch dieser so selbstbewußt wirkende, und bei allen Gästen so beliebte Mensch ein soziales Problem hat. Doch das ist ja nun auch kein Trost.

Genug jetzt Lara! Reiß Dich am Riemen. Den Tag schaffst Du jetzt auch noch.

Die Wohnung wird jetzt langsam wärmer. Draußen regnet es noch immer. Zum Glück kein Schnee. Sie liebt Schnee, doch eine weiße Weihnacht wäre Koks für ihre Melancholie.
Nachdem sie einen starken, heißen Tee getrunken hat, zieht sie sich ihre Jacke an. Sie wird jetzt das erste Mal seit Heilig Abend ihre Wohnung verlassen, um an der Tankstelle Bier zu kaufen. Ohne Alkohol hält sie diese Einsamkeit nicht aus.
Ja, gut. Ich bin einsam. So viele Menschen sind einsam. Das ist traurige Realität heutzutage.
Nur hat sie sich das bisher nicht eingestanden.
Während sie im Hausflur ihr Fahrrad aufschließt, hört sie im ersten Stock Gelächter und Kinderstimmen. Es riecht nach Bratäpfeln., und wieder laufen ihr Tränen übers Gesicht. Verdammt, was ist nur los mit mir? Mit einer energischen Handbewegung wischt sie sich übers Gesicht und öffnet die Haustür.
Eiskalt ist es und kaum eine Menschenseele unterwegs. Sie radelt los, genießt die kalte Luft und die ungewöhnliche Ruhe auf der Straße. Sie biegt in eine kleine, dunkle Nebenstraße, nimmt aus den Augenwinkeln etwas großes, dunkles am Straßenrand wahr und erreicht den sonst so belebten Platz an der Kreuzung zweier Hauptstraßen. Dort leuchtet ihr auch schon die Tankstelle entgegen.
Ein gelangweilter, gepiercter und tätowierter Kleiderschrank steht an der Kasse. ACDC kreischen aus den Lautsprechern. Sehr sympathisch, findet Lara. Er kassiert ab, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
„Fröhliche Weihnachten!" wünscht sie, und geht lachend nach draußen. Das wäre ein Mann für mich. Noch immer an die vor Zorn glühenden Augen denkend, fährt sie denselben Weg zurück. In der kleinen Seitenstraße fällt ihr Blick auf einen Tannenbaum im Straßenrand. Sie hält an.
„Das gibt es doch nicht!"
Schon immer hat sie es gehaßt, wenn die Leute, direkt nach den Feiertagen, ihre noch dicht benadelten, im tiefsten Grün stehenden, gesunden Bäume einfach aus dem Fenster warfen oder anderweitig entsorgten. Diese Bäume wurden extra gezüchtet, damit die Menschen ihre Tradition leben konnten. Aus ihrer Kinderzeit kannte sie das noch so, dass ihr Vater eine Tanne im Wald ausgrub - mit Wurzel - und sie dann nach Weihnachten im Garten wieder einpflanzte. Manchmal konnte man denselben Baum bis zu dreimal nutzen. Gut, in Berlin hat nicht jeder einen Garten, und in den Balkonkasten kann man ihn ja schlecht pflanzen, aber wenn schon, dann soll er doch mindestens bis zum sechsten Januar in der Wohnung und Mitglied der Gemeinschaft sein. Schließlich gibt er sein Leben dafür. Und jetzt liegt hier schon einer am zweiten Weihnachtstag!
Fassungslos schaut sie auf den Baum, der da hilflos im Rinnstein liegt.
Eine kleine Schönheit. Klein zwar, doch mit dichtem Nadelwuchs und ebenmäßig gewachsen Ein angefressener Döner und zwei zerknüllte Servietten oder Taschentücher hängen in seinen prächtigen Zweigen. Wer macht denn so etwas? Ohne groß nachzudenken stellt sie ihr Fahrrad an eine Hauswand, befreit den Baum mit spitzen Fingern von dem Döner und den Servietten und stellt ihn auf. Und nun?
Sie schleift den Baum zum Fahrrad. Irgend jemand muß das Rad halten, damit sie ihn auf den Gepäckträger legen kann. Nur ist hier leider niemand. Ratlos schaut sie in alle Richtungen. Dort hinten am Ende der Straße vor dem Puff stehen vier junge Türken. Sie nimmt allen Mut zusammen, lehnt den Baum an die Hauswand und geht zu ihnen rüber.
„Entschuldigung, ich hab da ein Problem, kann mir einer von Euch vielleicht helfen?"
Breit grinsend, sie von oben bis unten begutachtend, werden erstmal Sprüche auf türkisch ausgetauscht.
„Was is’ los, schöne Frau?"
Sie erklärt ihre Situation. Lautes Gelächter - wieder türkischsprachiger Austausch - doch zwei von ihnen gehen mit ihr zu Baum und Rad.
„Frohes Fest dann noch!" wünscht einer und auch sie muß lachen.
Sie schiebt das Fahrrad mit dem Baum auf dem Gepäckträger nach Hause. Hier bietet sich das gleiche Problem, doch keine Hilfe weit und breit. Also wirft sie den Baum auf den Boden, trägt das Rad in den Hausflur, schließt es ab und wuchtet dann die Tanne durch den Hausflur in ihre kleine Wohnung.
Dass ihre Ficus eingegangen ist, darüber war sie sehr traurig, doch jetzt hat sie diesen großen Blumentopf. Der Baum hat zwar keine Wurzeln mehr, aber sie schüttet trotzdem Erde in den Topf, damit er stehen kann.
Nachdem sie die Tanne eingepflanzt, ans Ende ihres Zimmers plaziert,und den Boden mit dem Staubsauger von Erde befreit hat, läßt sie sich erschöpft auf die Couch fallen. Sie nimmt ein Bier aus dem Rucksack, öffnete es mit den Zähnen und prostete dem Baum zu:
„Herzlich willkommen mein Lieber! Tja, wir beide haben wohl mindestens eins gemeinsam, oder? Wir hassen Weihnachten."
Sie trinkt ihr Bier und schaute den Baum an. Irgendwie sieht er jetzt noch üppiger aus, und die Atmosphäre im Raum ist verändert. Seltsam. Sie fühlt sich tatsächlich wohl. Sie köpft noch ein Bier, und seuzft wohlig.
Ach, das Leben ist so schön. Und ich schaff das schon. Und du, lieber Baum, nimmst zwar verdammt viel Platz weg, aber auch Du hast ein Recht auf ein Zuhause.

Sie muß eingeschlafen sein.
Nein - sie schläft noch und träumt Das kann doch nicht sein! Sie setzt sich auf, zwickt sich - doch es bleibt.....
Ihr Baum ist geschmückt! Mit Holzfiguren, Äpfeln, Nüssen und Schokokringeln. Rotes Lametta glitzert. Die Luft ist erfüllt mit Düften nach Orangen und - Braten?
Sie läuft in die Küche - und tatsächlich schmort in ihrem Backofen ein großer Schweinebraten. Auf dem Herd kochen Rotkohl und Kartoffeln.
„Was ist das? Wer war das?"
Sie geht zurück ins Zimmer. Jetzt erst sieht sie, dass es geschmückt ist mit Blumen und Blättern. Mistelzweige hängen von der Decke, Kerzen leuchten überall. Ihr Tisch ist gedeckt für fünf Personen.
Das gibt’s doch nicht. Ihr Kopf rauscht. Sie hat Angst und sie freut sich und sie ist traurig - weil wer sollte mit ihr essen.........
Das Telefon klingelt. Sie zuckt zusammen. Ich geh nicht ran. Doch sie hat vergessen den AB anzustellen. Es hört nicht auf zu klingeln.
„Ja?"
„Lara! Liebe Lara! Ich bins Birgit!"
Ihre alte Freundin Birgit.
Seit langer Zeit haben sie nichts mehr voneinander gehört. Jemand hatte Lara erzählt, sie sei jetzt erfolgreiche Architektin.
„Birgit! Hallo! Wie geht es dir?"
„Lara, es ist Weihnachten und ich fühle mich so alleine. Die ganze Zeit habe ich ausgehalten. Doch - ich muß jemanden sehen. Ich denke schon lange an dich. Ich hoffe, du bist nicht sauer, dass ich mich ausgerechnet jetzt melde....."
„Birgit, nein ich freue mich maßlos. Komm doch vorbei. Ich habe gerade Schweinebraten im Ofen. Laß uns einen schönen Abend verbringen."
„ Ist das Dein Ernst? Aber du erwartest doch bestimmt Gäste. Störe ich da nicht?"
„Du störst überhaupt nicht. Und ich erwarte keine...doch jetzt erwarte ich ganz liebe Gäste."
„Gott ist das schön. Bis gleich - ich freu mich so!"
Lara legt auf und kann es nicht fassen. Sie hatte Birgit seit vier Jahren nicht gesehen.
Das Telefon klingelte wieder.
„Lara. Klaus hier. Du erinnerst dich?"
Wie könnte sie sich nicht erinnern! Es ist ein Wunder! Birgit, Klaus, Lucie, Peter und Lara waren damals unzertrennlich. Und dann hat die Zeit, der Alltag, die Ansprüche sie voneinander getrennt.
Lara hat gehört das Klaus, Anwalt mit gut laufender Kanzlei, sie verachtet, weil sie es nicht geschafft hat aus ihrem Leben etwas zu machen.
„Du, ich mußte heute so sehr an dich denken. Ich weiß das kommt sehr plötzlich, und du hast bestimmt was vor, schließlich ist Weihnachten. Aber hast du nicht Lust darauf, dass wir uns mal wiedersehen?"
„Klaus, Lieber. Und wie ich Lust darauf habe. Komm vorbei. Ich habe Schweinebraten im Ofen. Bring Wein mit und wir machen uns einen schönen Abend. Birgit kommt auch."
„Was? im Ernst? Oh mann, das ist ja verrückt. In einer Stunde bin ich da. Ich freu mich."
„Ich mich auch. Ich hab sogar einen Weihnachtsbaum!"
„Das gibt’s nicht. Doch noch sentimental geworden auf die alten Tage?"
„War ich doch schon immer. Außerdem hat er mich und ich ihn gefunden,"
„Aaaaah ja. Ich merk schon, Du bist immer noch so schräg wie damals. Ich könnte heulen. Ich hätte nie gedacht, daß du mir noch so vertraut bist. Bis gleich, Süße."
Lara starrt den Baum an. Ein Traum, es kann nur ein Traum sein.
Da sieht sie das Päckchen unter der Tanne liegen.
Es ist in dunkelrotem Samt gewickelt, verziert mit einer goldenen Seidenschleife.
Sie setzt sich in den Schneidersitz und fängt langsam an, das Geschenk auszupacken. Nachdem sie den Samt entfernt hat, kommt ein einfacher weißer Karton zum Vorschein. Sie öffnete den Deckel und darin liegt...

ein großer, goldener Engel und zwinkert ihr zu.

Das Telefon klingelt wieder.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ei,

diese deine geschichte habe ich bisher nicht zu gesicht bekommen. gut, dass wir darüber geredet haben. jetzt kommt sie natürlich auch in das album.
lg
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Korrekturvorschläge:

Das Wunder
Veröffentlicht von chrissieanne am 07. 12. 2003 16:49
Sie wehrt sich gegen das Wachwerden.
Im Kreise von vielen lieben Menschen, die lange aus ihrem Leben verschwunden sind, saß sie an einem wunderschön gedeckten Tisch. Es wurde gescherzt und gelacht, der Raum war warm und behaglich. Die Luft erfüllt von vielen wunderbaren Düften: frisch geschälte Orangen, Tannennadeln(Komma) die sie an den Kerzen entzündeten, vom Braten, der im Ofen brutzelte. Der Mittelpunkt des Raumes war ein mit Äpfeln, Nüssen, Holzfiguren und Schokokringeln geschmückter Weihnachtsbaum. Rotes Lametta glitzerte und auf seiner Spitze saß ein großer, goldener Engel. An seinem Fuße lagen unzählige bunte Päckchen.
Rote Wangen und leuchtende Augen in freudiger Erwartung. Sie fühlte sich glücklich und so geborgen Ihr Körper war warm und weich im Einklang mit ihrer Seele. Zusammen mit diesen Menschen, die zu ihr gehörten, würde sie das Fest der Liebe feiern.
Lara öffnet die Augen. Ihr Zimmer ist kalt und sie ist allein. Der neue Tag erwartet sie, doch sie will ihm nicht begegnen. Sie zieht die Decke bis über beide Ohren und fühlt sich elend. Warum dieser Traum?
Heute ist der zweite Weihnachtstag, sie hat es fast geschafft, und nun [red] muß [/red] (muss) sie so einen Mist träumen?
Seit Jahren ignoriert sie alle bedeutungsschwangeren Tage. Weihnachten ist immer besonders anstrengend. Die ganze Adventszeit, die Lichter, Nikolaus, die Laternenzüge der Kinder.... Heiligabend. Ständig zieht sich ihr Bauch zusammen, und sie wird übermannt von dieser dämlichen Sehnsucht.
Ach was, Sehnsucht - sentimentaler Schwachsinn ist das! Sie ist weder gläubig, noch hat sie Familie. Und sie lebt gerne allein!
Lara steht auf und stellt die Heizung an. Nachdem sie geduscht hat, schaut sie in den Kühlschrank und stellt entsetzt fest, [red] daß [/red] (dass) sie kein Bier mehr hat. Wein ist auch keiner mehr da. Hab ich so viel getrunken (Leerfeld zuviel)? Sie hat sich am letzten Tag vor Heilig Abend mit Lebensmitteln und Alkohol eingedeckt, um die Tage gut versorgt zu Hause zu verbringen. Um dieses ständige Sehnsuchtsgefühl zu vermeiden, [red] muß [/red] (muss) man konsequent zu Hause bleiben. Kein Radio, kein Fernsehen. Tarotkarten hat sie sich gelegt und gelesen. Tagebuch geschrieben und, sie [red] muß [/red] es sich eingestehen, immer wieder geweint. Das Telefon hat nicht geklingelt. Sie hat es gehofft, auch das [red] muß [/red]sie sich eingestehen. Aber wer soll schon anrufen? In den letzten beiden Jahren hat sie sich immer mehr ins Schneckenhaus zurückgezogen. Alle ihre früheren Freunde haben mittlerweile Familie und sind erfolgreich im Beruf. Nur sie jobbt nach wie vor in der Kneipe und hat nur hier und da mal eine Affäre. Sie hätte ja gerne gearbeitet, doch ihr Chef macht grundsätzlich die Weihnachtsschichten. Da besteht er drauf - das [red] läßt [/red] (lässt) vermuten, [red] daß [/red] auch dieser so [red] selbstbewußt [/red] (selbstbewusst) wirkende,(kein Komma) und bei allen Gästen so beliebte Mensch ein soziales Problem hat. Doch das ist ja nun auch kein Trost.
Genug jetzt(Komma) Lara! Reiß [red] Dich [/red] (dich) am Riemen. Den Tag schaffst [red] Du [/red] (du) jetzt auch noch.
Die Wohnung wird jetzt langsam wärmer. Draußen ist es trüb und regnerisch. Zum Glück kein Schnee. Sie liebt Schnee, doch eine weiße Weihnacht würde ihre Melancholie ins Unerträgliche steigern. Nachdem sie einen starken, heißen Tee getrunken hat, zieht sie sich ihre Jacke an. Sie wird jetzt das erste Mal seit Heilig Abend ihre Wohnung verlassen, um an der Tankstelle Bier zu kaufen. Ohne Alkohol hält sie diese Einsamkeit nicht aus.
Ja, gut. Ich bin einsam. So viele Menschen sind einsam. Das ist traurige Realität heutzutage.
Als sie die Treppe[blue] herunterläuft[/blue] (hinunter läuft), hört sie im ersten Stock Gelächter und Kinderstimmen. Es riecht nach Bratäpfeln. Während sie im Hausflur ihr Fahrrad aufschließt, laufen ihr wieder Tränen übers Gesicht. Verdammt, was ist nur los mit mir? Mit einer energischen Handbewegung wischt sie sich übers Gesicht und öffnet die Haustür.
Eiskalt ist es und kaum eine Menschenseele unterwegs. Sie radelt los, genießt die kalte Luft und die außergewöhnliche Ruhe auf der Straße. Sie biegt in eine kleine Nebenstraße, nimmt aus den Augenwinkeln etwa dunkles am Straßenrand wahr, und erreicht den sonst so belebten Platz an der Kreuzung zweier Hauptstraßen. Dort leuchtet ihr auch schon die Tankstelle entgegen.
Ein gelangweilter, gepiercter und tätowierter Kleiderschrank steht an der Kasse. ACDC kreischen aus den Lautsprechern. Sehr sympathisch, findet Lara. Er kassiert ab, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
„Fröhliche Weihnachten!"(Komma) sagt sie, und geht lachend nach draußen. Das wäre ein Mann für mich. Noch immer an die vor Zorn glühenden Augen denkend, fährt sie denselben Weg zurück. In der kleinen Seitenstraße fällt ihr Blick auf einen Tannenbaum im Straßenrand. Sie hält an.
„Das gibt es doch nicht!"
Schon immer, auch in der Zeit(Komma) als sie Weihnachten noch mochte, hat sie es[red] gehasst[/red] (gehasst), wenn die Leute direkt nach den Feiertagen ihre noch dicht benadelten, gesunden Bäume einfach aus dem Fenster warfen oder anderweitig entsorgten. Diese Bäume wurden extra gezüchtet, damit die Menschen ihre Tradition leben konnten. Aus ihrer Kinderzeit kannte sie das noch so, [red] daß [/red] ihr Vater eine Tanne im Wald ausgrub - mit Wurzel - und sie dann nach Weihnachten im Garten wieder einpflanzte. Manchmal konnte man denselben Baum bis zu dreimal nutzen. Gut, in Berlin hat nicht jeder einen Garten, und in den Balkonkasten kann man ihn ja schlecht pflanzen, aber wenn schon, dann soll er doch mindestens bis zum sechsten Januar in der Wohnung und Mitglied der Gemeinschaft sein. Schließlich gibt er sein Leben dafür. Und jetzt liegt hier schon einer am zweiten Weihnachtstag!
Fassungslos schaut sie auf den Baum(Komma) der da hilflos im Rinnstein liegt.
Eine kleine Schönheit. Klein zwar, doch mit dichtem Nadelwuchs und ebenmäßig gewachsen(Punkt) Ein angefressener Döner und zwei zerknüllte Servietten oder Taschentücher hängen in seinen prächtigen Zweigen. Wer macht denn so etwas? Ihr Herz ist erfüllt von Wut auf die Menschen und voller Mitleid mit dem Baum. Ohne groß nachzudenken stellt sie ihr Fahrrad an eine Hauswand, befreit den Baum mit spitzen Fingern von dem Döner und den Servietten und stellt ihn auf. Und nun?
Sie schleift den Baum zum Fahrrad. Irgend jemand [red] muß [/red] das Rad halten, damit ich ihn auf den Gepäckträger legen kann. Nur ist hier leider niemand. Da sieht sie hinten am Ende der Straße vor dem Puff vier junge Türken stehen. Sie nimmt allen Mut zusammen, lehnt den Baum an die Hauswand und geht zu ihnen rüber.
„Entschuldigung(Komma) kann mir einer von [red] Euch [/red] (euch) helfen."
Sie von oben bis unten begutachtend werden erstmal Sprüche auf türkisch ausgetauscht.
„Was ist denn los(Komma) schöne Frau?"
Sie erklärt ihre Situation. Sie lachen - wieder türkischsprachiger Austausch - doch zwei von ihnen gehen mit ihr zu Baum und Rad.
„Frohes Fest dann noch!"(Komma) wünscht einer und auch sie [red] muß [/red] lachen.
Sie schiebt das Fahrrad mit dem Baum auf dem Gepäckträger nach Hause. Hier bietet sich das gleiche Problem, doch keine Hilfe. Also wirft sie den Baum auf den Boden, trägt das Rad in den Hausflur, schließt es ab und wuchtet dann die Tanne durch den Hausflur in ihre kleine Wohnung.
[red] Das[/red] (Dass) [blue] ihre [/blue] (heißt es nicht der Ficus) Ficus eingegangen ist, darüber war sie sehr traurig, doch jetzt hat sie diesen großen Blumentopf. Der Baum hat zwar keine Wurzeln mehr, aber sie schüttet trotzdem Erde in den Topf, damit er stehen kann.
Nachdem sie die Tanne eingepflanzt, ans Ende ihres Zimmers plaziert,(kein Komma, aber Leerfeld)und den Boden mit dem Staubsauger von Erde befreit hat, [red] läßt [/red] sie sich erschöpft auf die Couch fallen. Sie nimmt ein Bier aus dem Rucksack, [blue] öffnete [/blue] (öffnet, sonst Zeitsprung) es mit den Zähnen und [blue] prostete [/blue] (prostet) dem Baum zu:
„Herzlich willkommen(Komma) mein Lieber! Tja, wir beide haben wohl mindestens eins gemeinsam, oder? Wir hassen Weihnachten."
Sie trinkt ihr Bier und schaute den Baum an. Irgendwie hat sie das Gefühl, [red] das [/red] (dass) er noch üppiger geworden war, und die Atmosphäre im Raum ist anders. Sie fühlt sich wohl. Trinkt noch ein Bier.
Ach(Komma) das Leben ist schön. Und ich schaff das schon. Und du(Komma) lieber Baum(Komma) nimmst zwar verdammt viel Platz weg, aber auch [red] Du [/red] (du) hast ein Recht auf ein Zuhause.
Sie [red] muß [/red] eingeschlafen sein. Nein - sie schläft noch und träumt Das kann doch nicht sein! Sie setzt sich auf, zwickt sich - doch es bleibt.....
Ihr Baum ist geschmückt. Mit Holzfiguren, Äpfeln, Nüssen und Schokokringeln. Rotes Lametta glitzert. Die Luft ist erfüllt mit Düften nach Orangen und - Braten?
Sie läuft in die Küche - und tatsächlich schmort in ihrem Backofen ein großer Schweinebraten. Auf dem Herd kochen Rotkohl und Kartoffeln.
„Was ist das? Wer war das?"
Sie geht zurück ins Zimmer. Jetzt erst sieht sie, [red] daß [/red] es geschmückt ist mit Blumen und Blättern. Mistelzweige hängen von der Decke, Kerzen leuchten überall. Ihr Tisch ist gedeckt für fünf Personen.
Das gibt’s doch nicht. Ihr Kopf rauscht. Sie hat Angst und sie freut sich und sie ist traurig – weil(Komma) wer sollte mit ihr essen.........
Das Telefon klingelt. Sie erstarrt. Es klingelt. Ich geh nicht ran. Doch sie hat vergessen(Komma) den AB anzustellen. Es hört nicht auf zu klingeln.
„Ja?"
„Lara! Liebe Lara! Ich bins(Komma) Birgit!"
Ihre alte Freundin Birgit.
Seit langer Zeit haben sie nichts mehr voneinander gehört. Jemand hatte Lara erzählt, sie sei jetzt erfolgreiche Architektin.
„Birgit! Hallo! Wie geht es[red] Dir[/red] (dir)?"
„Lara, es ist Weihnachten und ich fühle mich so alleine. Die ganze Zeit habe ich ausgehalten. Doch - ich [red] muß [/red] jemanden sehen. Ich denke schon lange an[red] Dich[/red] . Ich hoffe, [red] Du [/red] bist nicht sauer(Komma) [red] das [/red] (dass) ich mich ausgerechnet jetzt melde....."
„Birgit, nein(Komma) ich freue mich maßlos. Komm doch vorbei. Ich habe gerade Schweinebraten im Ofen. [red] Laß [/red] uns einen schönen Abend verbringen."
„ (Leerfeld zuviel)Ist das [red] Dein [/red] Ernst? Aber [red] Du [/red] erwartest doch bestimmt Gäste. Störe ich da nicht?"
„Du störst überhaupt nicht. Und ich erwarte keine.......doch(Komma) jetzt erwarte ich ganz liebe Gäste."
„Gott ist das schön. Bis gleich - ich freu mich so!"
Lara [blue] legte [/blue] auf und [blue] konnte [/blue] es nicht fassen. Sie [blue] hatte [/blue] Birgit seit vier Jahren nicht gesehen.
Das Telefon [blue] klingelte [/blue] (die vier machen einen Zeitsprung) wieder.
„Lara. Klaus hier. Du erinnerst[red] Dich[/red]?"
Wie könnte sie sich nicht erinnern! Es ist ein Wunder! Birgit, Klaus, Lucie, Peter und Lara waren damals unzertrennlich. Die innigste Bindung hatte sie an Birgit. Das hat auch am längsten gehalten. Doch sie haben sich alle geliebt. Und dann hat die Zeit, der Alltag, die Ansprüche sie voneinander getrennt.
Lara hat gehört(Komma) [red] das [/red] (dass) Klaus, Anwalt mit gut laufender Kanzlei, sie verachtete, weil sie es nicht geschafft hat(Komma) aus ihrem Leben etwas zu machen.
„Du, ich [red] mußte [/red] heute so sehr an [red] Dich [/red] denken. Ich weiß(Komma) das kommt sehr plötzlich, und [red] Du [/red] hast bestimmt was vor, schließlich ist Weihnachten. Aber hast [red] Du [/red] nicht Lust darauf, [red] daß [/red] wir uns mal wieder(getrennt)sehen?"
„Klaus, Lieber. Und wie ich Lust darauf habe. Komm vorbei. Ich habe Schweinebraten im Ofen. Bring Wein mit und wir machen uns einen schönen Abend. Birgit kommt auch."
„Was? [red] im [/red] (Im) Ernst? Oh[red] mann[/red] (Mann), das ist ja verrückt. In einer Stunde bin ich da. Ich freu mich."
„Ich mich auch. Ich hab sogar einen Weihnachtsbaum!"
„Das gibt’s nicht. Doch noch sentimental geworden auf die alten Tage?"
„War ich doch schon immer. Außerdem hat er mich und (nicht) ich ihn gefunden,(besser Punkt)"
„Aaaaah ja. Ich merk schon, [red] Du [/red] bist immer noch so schräg wie damals. Ich könnte heulen. Ich hätte nie gedacht, [red] daß Du [/red] mir noch so vertraut bist. Bis gleich, Süße."
Sie legt auf. Starrt den Baum an, die ganze Wohnung. Ein Traum, es kann nur ein Traum sein.
Da sieht sie das Päckchen unter der Tanne liegen.
Es ist in [red] dunkelrotem [/red] (dunkelroten) Samt gewickelt, verziert mit einer goldenen Seidenschleife.
Sie setzt sich in den Schneidersitz und fängt langsam an, das Geschenk auszupacken. Nachdem sie den Samt entfernt hat, kommt ein einfacher weißer Karton zum Vorschein. Sie öffnete den Deckel und darin liegt.....
ein großer, goldener Engel und zwinkert ihr zu.

Das Telefon klingelt wieder.


__________________
Das Buch soll die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Franz Kafka)
Einfach zum Heulen schön!
Ganz lieb grüßt
 

chrissieanne

Mitglied
liebe flammarion,

ja, ich weiß, ich bin eine lahme ente, aber jetzt ist ja bald weihnachten und ich hab endlich die olle kamelle, die du liebenswürdigerweise wieder ausgegraben hast etwas verändert.
etwas langatmig ist sie ja noch immer, aber nun...
vieleicht etwas besser.

lg
chrissieanne
 



 
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