Das Zimmer unter dem Dach

brain

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Es ist mittlerweile über fünfzig Jahre her, seit ich zum letzten Mal das Haus meiner Großmutter betreten habe, doch es vergeht kein Tag, keine Stunde und keine Minute, ohne dass ich an das Zimmer unter dem Dach denke und an das, was damals in eben jenem Zimmer geschehen ist.
Nach wie vor sehe ich mich außer Stande, eine rationale Erklärung für die furchtbaren Ereignisse zu liefern, deren unfreiwilliger Zeuge ich wurde.
Sehen Sie diese Aufzeichnungen also als den Bericht eines vom Alter getrübten und verwirrten Geistes an, wenn Sie dies beruhigen sollte, oder als die verrückte Geschichte eines Menschen, der seinen Sinnen nicht trauen kann, doch tun Sie das, was ich Ihnen offenbare, nicht als plumpe Lüge ab!
Es könnte gefährlicher sein, als Sie ahnen!
Jetzt und hier, am Ende meines Weges, frage ich mich, wie um alles in der Welt meine Großeltern in diesem Haus hatten verweilen können, wo sie doch Kenntnis gehabt haben mussten von seinen dunklen Geheimnissen und den unsäglichen Gräueln, die sich in seinen Winkeln verkrochen haben, doch ich glaube, dass man sich mit der Zeit mit allem arrangieren kann, nur um seine Wurzeln nicht zu verleugnen, sogar mit der Hölle, wenn es sein muss.
Man findet immer wieder gute und rechtschaffene Gründe, um weiter zu machen, um auszuharren, so wie ein Alkoholiker immer wieder plausible Gründe findet, um zu trinken, und wenn man lange genug in einem Stadium der Rechtfertigung gelebt hat, beginnt man, erst widerstrebend, doch nach und nach mit immer mehr Hingabe, diesen Gründen Glauben zu schenken, denn nichts erscheint einem so nachvollziehbar und wahr, wie eine Lüge, mit der man zu leben gelernt hat.
Ich glaube fest daran, dass es Dinge auf dieser Welt gibt, die niemals sterben und die ungesehen in den Schatten die Zeit überdauern; Dinge, die weder vergessen noch verzeihen und deren maßlose Gier nach Leben nicht einmal der Tod selbst zu stillen vermag.
Gott weiß, ich wünsche mir nichts sehnlicher, das namenlose Grauen von damals lediglich der überschwänglichen Phantasie eines dummen Jungen zuschreiben zu können, doch dem ist nicht so!
In meinem Besitz befinden sich über jeden Zweifel erhabene Beweise, die sich durch nichts widerlegen lassen und die, gerade durch ihre erschreckende Banalität, auf brutale Art und Weise real sind, denn sie sind buchstäblich greifbar!
Und deshalb spielt es für mich nicht die geringste Rolle, ob Sie meinen Ausführungen Glauben schenken oder nicht, denn ich weiß mit unumstößlicher Gewissheit, dass mein Verstand mich nicht trog, als ich Zeuge der Hölle auf Erden wurde, damals, in dieser eisigen Dezembernacht, in der Dachstube meiner Großmutter.
Ich war neun Jahre alt, als meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen.
Meine Großmutter holte mich aus dem Ferienlager ab, das ich zu dieser Zeit besuchte, und ich weiß noch, dass sie auf mich niemals älter gewirkt hatte als an jenem Tag, als sie mich mit Tränen in den Augen in ihre Arme schloss und so fest an sich drückte, dass der Geruch nach Mottenkugeln, den ihre Kleidung stets verströmte, mir die Sinne zu rauben drohte.
Mein Großvater sagte während der scheinbar endlos langen Fahrt auf dem Weg in mein neues Zuhause kein einziges Wort.
Ich erinnere mich daran, dass ich Angst hatte, irgendetwas falsch gemacht zu haben, doch heute weiß ich, dass sein Schweigen nicht von Zorn oder Wut zeugte, sondern von abgrundtiefer Trauer, und dass er verzweifelt mit sich rang, um nicht vor meinen Augen in Tränen auszubrechen.
Erst, als wir unser Ziel erreicht hatten und ich das Haus der flüsternden Schatten betrat, in dem ich so oft in meiner frühesten Kindheit Verstecken gespielt hatte, und das fortan meine neue Heimat sein sollte, erzählten sie mir, was mit meinen Eltern geschehen war.
Sie versuchten mit allerlei Umschreibungen die Tatsache zu beschönigen und so für mich ertragbar zu machen, dass ich meine Mutter und meinen Vater nie mehr wieder sehen würde.
Großmutter sagte, meine Eltern wären in den Himmel gekommen, sie wären nun Engel und der Herrgott würde von nun an auf sie Acht geben, doch nach der tristen Beerdigung, der nur der Priester, meine Großeltern und ich beiwohnten, konnte ich nicht länger an diese Erklärung glauben.
Alles, was ich vor Augen hatte, waren die schlampig zusammen gezimmerten Holzkisten, in denen die sterblichen Überreste meiner Mutter und meines Vaters verwesen würden und die man feierlich in dieser Ekel erregenden Grube versenkt hatte, an diesem dunklen, verregneten Oktobernachmittag, an dem selbst der dräuende Himmel über uns zu weinen schien.
Noch heute kann ich die Erde riechen, mit der man die Ruhestätte meiner Eltern zugeschaufelt hatte, und ich weiß auch noch, dass ich mich fragte, wie sie um Gottes Willen nach oben in den Himmel gekommen sein sollten, wo man sie doch tief in der Erde verscharrt hatte, unten, wo die Würmer leben und der Teufel sein Reich hat.
Heute verstehe ich es, doch ich wünschte bei Gott, dem wäre nicht so!
Obwohl meine Großeltern sehr unter dem Verlust ihrer einzigen Tochter, meiner Mutter, gelitten haben mussten, bemühten sie sich nach all ihnen zu Gebote stehenden Kräften ihre schier grenzenlose Trauer vor mir zu verbergen, was ihnen in vielerlei Hinsicht auch gelang.
Ich glaube, wir halfen uns gegenseitig dabei, unseren Überlebenswillen zu bewahren, obgleich es mir aus heutiger Sicht so scheint, als ob sie mich mehr brauchten als ich sie, denn obwohl meine Großeltern nach außen hin alles nur Erdenkliche auf sich nahmen, um meine Eltern für mich zu ersetzen und für mich da zu sein, wann immer ich Halt und Trost benötigte, werde ich doch nun das Gefühl nicht los, dass ihre Fürsorge nicht alleine mir galt, sondern ebenso sehr darauf ausgelegt war mich zu einem Ersatz für ihre geliebte Tochter zu machen, die sie an den Schnitter verloren hatten.
Ich kann es ihnen nicht verdenken.
Nach all den Jahren der Entbehrung und Hoffnung, die sie in ihr einziges Kind investiert hatten, standen sie nun, an der Schwelle ihres Lebens, vor einem bodenlosen Abgrund, den ich nunmehr ausfüllen sollte.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie sich an meiner Gegenwart festklammerten und mir die im Normalfall selbstverständlichsten Erfahrung im Umgang mit anderen Kindern meines Alters verwehrten, was mir nach einer Weile völlig normal erschien und ich eher für den Beweis ihrer innigen Liebe für mich hielt, als für die nackte Angst vor der Einsamkeit, die es in Wahrheit widerspiegelte.
Das Haus meiner Jugend war, damals wie heute, ein Monument des Verfalls, in dem die Schatten einander jagten und dessen Zimmer so gut wie nie das Licht der Sonne erblickten, was meine ohnehin schon melancholische Gemütsart nur noch verstärkte.
Die Möbel waren wurmstichig und die uralten Bodendielen warfen sich bei jedem Wetterumschwung, sodass es fast so klang, als würden unsichtbare Füße über sie hinweg schreiten.
Unmengen von Staub fingen sich in den Spinnenweben, die überall in den Zimmerecken hingen, die abgestandene Luft roch immer leicht nach feuchter Erde und es war stets in eine Art von Zwielicht getaucht, das man beinahe greifen zu können glaubte.
Es war augenscheinlich kein sehr geeigneter Ort für ein Kind; kein Ort der Lebensfreude oder des Lachens, sondern vielmehr ein dunkler, vor sich hin vegetierender Ort, an dem das Alter und das unaufhaltsame Dahinsiechen der Zeit allgegenwärtig war, wie die Stille eines Friedhofs um Mitternacht, lediglich unterbrochen von leise vor sich hin tickenden Uhren, monoton tropfenden Wasserhähnen und dem gespenstischen Kreischen rostiger Türangeln.
Ich erinnere mich daran, dass ich oft durch die Räume und Flure streifte und mir dabei vorstellte, ich wäre ein großer Entdecker und würde, im Zuge einer von aller Welt beachteten Expedition, ein uraltes und bislang unentdecktes Labyrinth einer der Menschheit fremden Welt erforschen.
Ich liebte dieses Spiel über alles!
Es war, neben den Unterrichtsstunden im Arbeitszimmer meines Großvaters, der ein pensionierter Professor war und eine sehr gute Allgemeinbildung sein Eigen nennen konnte, mein liebster Zeitvertreib.
Später, als ich älter wurde und mein Wissensdurst, den ich nun nicht mehr in einer regulären Schule stillen konnte, da meine Großeltern mich auf eigene Verantwortung hin von der Schulpflicht entbanden, wuchs, erschloss ich unter der kompetenten Anweisung meines Großvaters seine mehr als umfangreiche Bibliothek, in welcher ich mich in Bereichen weiterbilden konnte, die einem Kind meines zarten Alters für gewöhnlich verschlossen blieben.
Man kann sich vorstellen, wie diese soziale Isolation auf mich wirkte, oder wozu sie zwangsläufig im Laufe der Zeit wurde: ich war oftmals sehr einsam, doch seltsamerweise war ich mir dessen nicht bewusst.
Ich glaube, mit der Zeit gewöhnt man sich an jede Art von Finsternis, unterteilt sie irgendwann nur noch in Spektren aus grau, anthrazit und schwarz und vergisst, dass es jemals etwas gegeben hat, das Licht und Wärme in die Welt gebracht hat.
Durch das introvertierte Leben meiner Großeltern, die anscheinend weder Freunde noch Bekannte hatten und auch nicht den Wunsch hegten, am hektischen Leben der damaligen Gesellschaft teilzuhaben, vergaß ich das Bedürfnis nach der Nähe Gleichaltriger oder den Wunsch nach Spielgefährten oder Freunden, so als wäre dies lediglich etwas, das nur den Helden und Protagonisten der Abenteuerbücher widerfuhr, die ich in rauen Mengen verschlang.
In Ermangelung der Erfahrungen, die ich außerhalb meiner heimatlichen Mauern hätte machen können, erträumte und erbaute ich mir eine eigene Welt aus den Schatten und Winkeln des Hauses meiner Großeltern; ein erlebnisreiches Universum, welches ich erschuf, formte und nährte, einzig und allein durch die Schaffenskraft meiner unzähmbaren Phantasie und Kreativität, in welcher es nur so wimmelte von Zwergen, Faunen, Trollen, Feen, Geistern und allerlei merkwürdigen Fabelwesen, mit denen ich flüsternd unter der Bettdecke Geheimnisse austauschte und die mir dabei halfen, blind zu werden für die Einsamkeit, die mich auf Schritt und Tritt verfolgte und die ich beharrlich und erfolgreich verleugnete.
Ich vergrub meine desolaten Gedanken in den Mythen und Erzählungen, die ich in den Büchern meines Großvaters fand, und die mich am Leben erhielten und meinen Verstand bewahrten. In diesen Büchern gab es Götter, die babylonische Schlachten austrugen, die über das Schicksal von Epochen entschieden, sterbliche Helden, die allen Gefahren zum Trotz siegreich waren im Kampf gegen das Böse, versunkene Zivilisationen, deren Spuren noch heute das Gesicht der Welt zierten, und Furcht erregende Monstren, die in den tiefsten Winkeln der Welt hausten und ausharrten, bis ihre Zeit gekommen war.
Ein Band, eine umfangreiche Dämonologie aus dem vierzehnten Jahrhundert, weckte meine Neugier besonders. Unzählige Stellen waren dort markiert, die Seiten strotzten nur so vor Eselsohren und Lesezeichen. Es schien augenscheinlich sehr oft von meinem Großvater zur Hand genommen worden zu sein, obwohl er sich normalerweise nur mit wissenschaftlichen Abhandlungen auseinandersetzte und das magische Reich der Phantasie mied, so als fürchtete er sich davor, sich in ihm verirren zu können.
Dieses Buch war ein wahres Sammelsurium griechischer Helden, Götter und Dämonen, doch jede von meinem Großvater markierte Passage oder Textstelle, die ich las, handelte von einer sagenumwobenen Gestalt, die den Namen Gaia trug.
Gaia, so hieß es, war das griechische Wort für Erde, und Gaia selbst war die Mutter Erde, aus deren Schoß alles Leben hervorgeht und nach dem Tode wieder dorthin zurückkehrt. Sie stand für die Urprinzipien von Chaos und Ordnung und wurde als grauenvolle, verschlingende Allgegenwärtigkeit bezeichnet, vor der sogar die Götter in Ehrfurcht erschauern.
Diese Sagen und Mythen faszinierten mich und inspirierten mich dazu, meine eigenes Universum durch eben diese Mythen und Legenden zu erweitern und zu beleben.
In diesem Universum, meinem Refugium, gab es nur die Grenzen, die ich ihm auferlegte und die meine Großmutter, in Sorge um meinen Geisteszustand, zu ziehen für nötig erachtete.
Sie ließ mich gewähren, wenn ich durch ihren verwilderten Garten tobte, in dem scheinbar nichts wuchs außer Dornengestrüpp, Holunder, Giftefeu und Sumpfkresse, und mir dabei ein ums andere Mal vorkam wie ein heroischer Entdecker, der furchtlos durch die lockenden Korridore geheimnisumwitterter Ruinen wanderte, sagenumwobene Geheimnisse enthüllte und die letzten Rätsel der Menschheit entschlüsselte.
Niemals sagte sie mir, ich solle mich leise verhalten oder langsam gehen, anstatt mit lauten, weit ausholenden Schritten durch die Hausflure zu poltern, wie ich es so gerne tat.
Doch in einem Punkt war meine Großmutter unnachgiebig: sie verbot mir strikt, die Dachstube zu betreten!
Sie behauptete, dies sei kein geeigneter Ort für ein Kind und es gäbe dort nur zerbrochene Spiegel, an denen ich mich schneiden würde, und lose Dachschindeln, die auf mich herabfallen könnten.
Was sie scheinbar nicht ahnte, war die Tatsache, dass ihr striktes Verbot das Zimmer unter dem Dach erst interessant für mich machte. Es übte einen geradezu unwiderstehlichen Reiz auf mich aus, gerade weil es verboten war!
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie wild mein Herz pochte, als ich in jener eiskalten Dezembernacht die Treppe zum Dachboden hinauf schlich, während meine Großeltern in ihrer Kammer schliefen. Ganz langsam und behutsam stieg ich die knarrenden Stufen hinauf und mit jedem, zitternden Schritt nach oben gelangte ich tiefer hinein in das dunkle Herz des Hauses meiner Großeltern.
Ich stand Todesängste aus, während ich weiter ging, doch ich musste einfach wissen, was jenseits der verbotenen Tür meiner Entdeckung harrte; ich musste einfach das einzige für mich geltende Tabu brechen und diese fremden Grenzen meiner Welt einreißen, um an dem Käfig der Isolation zu rütteln, den das Schicksal für mich geschmiedet hatte.
Ich weiß noch, dass der Wind um das Haus heulte und den eisigen Schnee vor sich her trieb, sodass es fast so klang, als würde sich ein riesiges Ungetüm stöhnend und ächzend auf das Dach legen und es niederdrücken.
Ich weiß auch noch, dass es so kalt war, dass ich meinen Atem sehen konnte, der stoßweise in weißen Kondenswolken entwich und sich mit dem Staub der Dekaden vermählte, doch trotz der Kälte schwitzte ich.
Der feuchte, erdige Geruch, der mich so sehr an das Begräbnis meiner geliebten Eltern erinnerte, die ich insgeheim so sehr vermisste, obwohl ich mir dies nicht einmal vor mir selbst eingestand, wurde immer intensiver, und je näher ich der verbotenen Tür zur Dachstube kam, desto stärker wurde das verwirrende Gefühl hinab zu steigen in die Tiefe, wo die Würmer leben, fressen und sterben und der Teufel sein Reich hat.
Zitternd und innerlich bebend vor Angst stand ich minutenlang regungslos auf der obersten Stufe und legte behutsam mein Ohr an die Tür, so als könnten die Geräusche aus dem Inneren des Raumes Zeugnis davon ablegen, was mich erwarten würde, sollte ich das verbotene Zimmer wahrhaftig betreten.
Mein eigener Herzschlag kam mir mit einem Mal so laut vor, dass ich fürchtete meine Großeltern könnten durch den Lärm aufwachen und mich ertappen.
Ich erinnere mich an das raschelnde Geräusch der Ratten, die in den Wänden umherwuselten, an die dröhnenden Schläge der nahe gelegenen Kirchenglocke, welche die mitternächtliche Stunde verkündete, und an die kalte, unbarmherzige und tödliche Stimme des Winters, die in schier wahnsinnigen Kakophonien um das Haus fegte und mit jedem verstreichenden Augenblick wütender zu klingen schien. Und gerade, als ich meine Hand auf die Klinke legte und die Tür öffnen wollte, hörte ich ein mir seltsam vertrautes Geräusch, das ich jedoch nicht zuordnen konnte und das im Heulen des Windes fast unterging, wie ein Seufzer in einem Schneesturm; ein helles, schneidendes und glasklares Wispern, das durch das Toben des Dezemberwindes an mein Ohr drang und sich mit Nerven zerfetzender Regelmäßigkeit wiederholte.
Meine Furcht vor dem namenlosen Unbekannten jenseits der Tür erreichte Schwindel erregende Ausmaße, doch ich konnte und wollte nicht umkehren, ohne zumindest einen flüchtigen Blick in den verbotenen Raum geworfen zu haben.
Die Beharrlichkeit, mit der meine Großmutter mir das Betreten der Dachstube verboten hatte, insbesondere ihre Aussage, die Dachstube sei kein geeigneter Ort für Kinder, hatte mich gekränkt und tief in meinem Stolz verletzt. Was immer es auch kosten mochte: ich musste einfach sehen, was hinter der Tür lag, musste herausfinden, was dieses seltsame Geräusch zu bedeuten hatte, und sei es nur deshalb, um mir zu beweisen, dass ich immer noch der mutige, unerschrockene Entdecker war, für den ich mich seit meinem Einzug in dieses Haus der lebenden Schatten so gerne hielt.
Also atmete ich tief durch, öffnete langsam die Tür zur Dachstube und blickte in die wabernde Finsternis, die dahinter auf der Lauer lag.
Es dauerte einen Moment, doch dann gewöhnten sich meine Augen langsam an die Dunkelheit und ich konnte Formen und Umrisse inmitten der Schwärze erkennen. Strukturen wurden sichtbar, so als würden die Schatten ihr Innerstes preisgeben, unter meinem forschenden Blick. Ängstlich und im wahrsten Sinne des Wortes atemlos machte ich einen zaghaften Schritt in den Raum hinein, doch wie bei meinem Aufstieg, der den Eindruck in mir geweckt hatte, hinab in die Tiefe zu steigen, hatte ich beim Betreten der Dachstube meiner Großmutter das Gefühl, in eine bodenlose Grube zu stürzen.
Ich weiß noch, dass ich den Schnee an den Fenstern vorbei wehen sah und dass er abstrakte Formen auf die Fensterwangen malte, die mich merkwürdigerweise an die vielen Spinnenweben erinnerten, die überall im Haus in den Ecken der Zimmer hingen.
Mit verstaubten, ehemals weißen Laken verhängte Möbelstücke standen überall herum, neben nie geöffneten oder seit Ewigkeiten verstauten Kartons, an die sich wohl niemand mehr erinnerte. Der Staub auf dem Boden war zentimeterdick und ich hinterließ tiefe Spuren in ihm, als ich den Raum durchquerte und versuchte, mich in diesem Labyrinth der toten Erinnerungen zurechtzufinden.
Das fahle Licht des Vollmondes, der das Zimmer schwach erhellte, fiel durch das Fenster und ließ den am Fenster vorbei wehenden Schnee aussehen wie einen Schwarm zorniger und heulender Insekten, die rasend vor Hunger und Wut durch die Nachtluft jagten.
Ich erinnere mich noch daran, dass die spürbare Last der Dekaden, die dieses Haus gesehen hatte, allgegenwärtig war und mich mit tiefster Trauer erfüllte. Die Dunkelheit fraß sich in meine Seele hinein und wohnt seither in ihr und obwohl ich seitdem von Alpträumen geplagt werde, die mir in der Seele weh tun, empfinde ich dieses Gefühl auf irgendeine Art und Weise als erleichternd, so als hätte sich ein monumentaler Kreis geschlossen, der mich meiner Bestimmung näher bringt, als es jede irdische Erkenntnis jemals hätte tun können.
Der Geruch nach Erde, der im ganzen Haus wahrnehmbar war, wurde mit einem Mal intensiver und schien sich irgendwie durch die Schatten des Raumes zu bewegen.
Ich weiß noch, dass ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.
Dieses Gefühl war so stark, dass ich zitternd in der Mitte des Raumes stehen blieb und versuchte, im Lärm des Wintersturmes, der draußen tobte, in die trügerische Stille hinein zu horchen und sie auszuloten, wie ein U-Boot, das versuchte die Tiefe abzuschätzen, in der es sich befand.
Dann erblickte ich mit einem Mal ein Gesicht auf der anderen Seite des Raumes, mit dessen Proportionen irgendetwas nicht zu stimmen schien und dessen Anblick mich erstarren ließ. Es hatte menschliche Züge und sah dennoch auf eine eigentümliche Weise fremdartig aus; eine groteske Fratze, die mich mit weit aufgerissenem Maul und glasigen Augen anstarrte.
Ich war davon überzeugt, auf der Stelle vor Angst sterben zu müssen, doch dann begriff ich, dass ich in die Überreste eines Spiegels blickte und das merkwürdige Gesicht, das mich mit offenem Mund anstarrte, mein eigenes war, verzerrt durch die zerfetzte Reflexion der Bruchkanten des Spiegels.
Erleichtert seufzte ich auf und ging hinüber zu diesem Ding und berührte mit zittrigen Fingern die Oberfläche des Spiegels, strich fast zärtlich an den Rissen entlang, als ich in den Spiegelscherben eine schemenhafte Bewegung hinter mir wahrzunehmen glaubte.
Der merkwürdige Geruch drang erneut in meine Nase und dieses Mal gelang es mir nicht, die seit Dekaden vor sich hinfaulenden Möbel unter den verstaubten Tüchern dafür verantwortlich zu machen. Dieses Mal hatte ich die Gewissheit, nicht alleine zu sein!
Etwas war hier und schlich verstohlen durch die Schatten! Und dieses Etwas roch wie ein Grab, in dem sich die Würmer wanden und nach dem Fleisch der Verstorbenen gierten!
Das merkwürdige Geräusch, das ich vor der Tür gehört hatte, wurde lauter, doch noch immer konnte ich es nicht einordnen. Wenn ich heute darüber nachdenke, kann es auch sein, dass der Sturmwind nachließ und ich das keuchende Geräusch aus diesem Grund besser hören konnte, doch im Grunde spielt es keine Rolle, was ich weiß oder zu wissen glaube. Entscheidend sind für mich einzig und allein die Dinge, an die ich mich unzweifelhaft erinnern kann und die mich in meinen Träumen heimsuchen.
Das Keuchen wurde immer lauter und mit Grauen wurde mir klar, dass es nun direkt über mir war. Zitternd und mit einem Schrei auf den Lippen blickte ich nach oben und was ich dort sah, wurde zum Innbegriff der Hölle und des Grauens in meinem eigenen, phantastischen Universum.
Ich sah ein pechschwarzes, unförmiges Ding, das am Dachstuhl hing und sich langsam auf mich zu bewegte, wie eine riesige Spinne, die sich an ihrem Faden in die Tiefe gleiten lässt. Unzählige Augen starrten mich aus dem Zentrum des Wesens an, mit einer widerlichen Gier, die mich schier erstarren ließ. Mein Herz schlug so schnell, dass es in meiner Brust zu brennen schien.
Wie hypnotisiert sah ich hinauf zu der Kreatur, die mir mittlerweile so nahe war, dass ich den fleischigen Klumpen ihres Körpers genauer erkenn konnte.
Ich sah hervor stehende Rippenknochen an den Seiten und lange, nach mir tastende Klauen, die sich öffneten und schlossen, als würden sie blind in der Finsternis nach mir suchen.
Das spinnenähnliche Etwas keuchte unentwegt und sein giftiger Atem, der nach Erde, Fäulnis und Verwesung stank, schlug mir entgegen und drohte mir die Sinne zu rauben.
Mit einem schmatzenden Geräusch öffnete sich ein gewaltiges Maul inmitten der blinden, glasigen Augen des Dings; eine geifernde Fressfront, die mich an den weit geöffneten Schlund eines Tiefseefisches erinnerte.
Die Angst brachte mich schier um den Verstand und ich war unfähig, auch nur einen einzigen Muskel zu bewegen. Erst als sich eine der Klauen in meine Schulter krallte und versuchte, mich in den hungrigen Rachen des Monstrums zu zerren, erwachte ich aus meiner Trance und fing an zu schreien und um mich zu schlagen.
Ich weiß noch, dass ich eine der Klauen zu fassen bekam und dass sie sich anfühlte wie der morsche, abgestorbene Ast eines toten Baumes.
Ich weiß auch noch, dass ich mich irgendwie befreien konnte aus der Umklammerung der Bestie und dass ich panisch aus dem Zimmer lief, so schnell meine zitternden Beine es mir gestatteten. Auch an den Sturz kann ich mich noch erinnern, als ich bei meiner Flucht die Stufen verfehlte und die Treppen hinunter fiel.
Dann nichts mehr …
Ich erwachte mit dem Geruch von Zimt in der Nase.
Meine Großmutter würzte ihren Tee stets mit Zimt und daraus schloss ich intuitiv, dass ich mich in Sicherheit befinden musste.
Meine Großeltern erzählten mir, dass ich schlafgewandelt sein musste. Aus irgendeinem Grund, so sagten sie mir, muss ich auf der Treppe zur Dachstube ausgerutscht oder sein über meine Füße gestolpert sein, während ich träumte.
Ich hatte mir ein Bein gebrochen und eine stattliche Beule zierte meine Stirn. Drei endlose Monate lang musste ich das Bett hüten und als der Gips entfernt worden war, gaben meine Großeltern mich in die Obhut eines weit entfernten Internats, wo ich fortan lebte.
Sie starben ein halbes Jahr später, an Einsamkeit, wie ich vermute.
Großvater erlag einem Schlaganfall und Großmutter starb an einem Herzinfarkt. Dies erzählte man mir zumindest, nachdem man sie in der Erde des Friedhofs begraben hatte, in der man auch meine Eltern zur Ruhe gebettet hatte, aber ich glaube, dass das Ding, das unter dem Dach haust, etwas mit ihrem Tod zu tun hatte.
Das alles ist jetzt schon so lange her, dass es schon fast nicht mehr wahr zu sein scheint, doch manche Narben verschwinden nie, sondern werden mit der Zeit nur deutlicher und hinterlassen tiefe Spuren in der Seele, die einen dazu verlocken, ihnen zu folgen.
Spuren, die sich nicht verleugnen lassen und die allgegenwärtig sind, wohin man auch geht.
Als ich aus der Dachstube meiner Großmutter geflohen war, habe ich etwas mitgenommen, ohne es zu bemerken. Es muss passiert sein, als ich die Klauen abgewehrt hatte, die mich hatte packen wollen; ein kleines, metallenes Ding, das ich einer der Klauenhände entrissen haben muss. Instinktiv habe ich es vor meinen Großeltern versteckt, ohne mir dessen bewusst zu sein oder zu wissen warum.
Ich glaube, ich ahnte, dass sie es mir wegnehmen würden. All die Jahre habe ich es aufbewahrt und gehütet, wie einen dunklen Schatz, für den ich Zeit meines Lebens mit meinem Seelenfrieden bezahle, und jetzt, am Ende meiner Zeit, halte ich diesen Gegenstand in der Hand und fühle seine stählerne Kälte.
Es ist der Ring, den mein Vater meiner Mutter gekauft hat, als er um ihre Hand anhielt.
Sie trug ihn, seit ich auf der Welt bin, und sie nahm ihn mit in ihr Grab.
Und nun träume ich fast jede Nacht von diesen glasigen, blinden Augen, die nach mir suchen und um mich weinen, weil uns das Leben trennt.
Gott weiß, ich fürchte mich davor, den Weg, der mir vorherbestimmt zu sein scheint, zu Ende zu gehen, doch ich fühle das Gewicht und die Finsternis einsamer, entwurzelter Jahre, die kommen werden. Ich ahne die Einsamkeit, die auf mich wartet, und fürchte sie mehr als den Tod.
Ich weiß, dass ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann, dass ich der Erschaffer meiner eigenen Welt bin und es an mir liegt, zu entscheiden, ob ich in den Schoß meines Ursprungs zurückkehre oder einsam und unbeweint sterbe und der Vergessenheit anheim falle.
Alles, was ich tun muss, ist in die Tiefe zu steigen, wo die Würmer leben und der Teufel sein Reich hat, die Treppe hinauf und hinab, in das Zimmer unter dem Dach.
 
Also, Brain,

das ist ja gar nicht mal schlecht! Du hast hier ein gutes Stück Text hingelegt. Zwar noch nicht perfekt, aber ich muss sagen, das erscheint mir Rohmaterial für eine verdammt gute Geschichte. Natürlich mußt du kürzen und dich von guten Sätzen trennen, damit die Geschichte ordentlich Fahrt aufnehmen kann.

Der Schreibstil aber ist ausgezeichnet. Genau mein Geschmack. Aber mir sind hier und da Längen aufgefallen, die man einfach ausmerzen muß, auch wenn es einem schwer fällt.

Natürlich gefällt mir der Schluss noch nicht. Er ist nicht schlecht! Das will ich gar nicht sagen. Aber er ist nicht geil, wenn du verstehst, was ich meine. Und geil heißt, er ist zu schwach für den schönen Stil. Dieses Spinnenwesen muß einfach mehr tun, als einfach da zu sein und dem Prot. den Ring zu geben, damit der einen Beweis für das Leben nach dem Tod hat.

Mir hätte es besser gefallen, der Junge entkommt vom Dachboden, liegt in seinem Krankenbett und hört so seltsame Geräusche von oben, während die Großmutter und der Großvater hereinkommen, und dem Jungen so langsam ein schrecklicher Verdacht kommt. ABER WELCHER??

Tja, jetzt würde es anfangen, geil zu werden. Ich könnte mir sogar sowas vorstellen, dass diese Spinne im Genick der Großmutter sitzt und ihr langsam das Blut aussaugt. Und die Großmutter läßt es geschehen. Tja, aber aus welchem Grund??

So eine Spinne ist eine tolle Sache. Sie könnte ja bewirken, dass die Mutter des Protagonisten wieder lebendig wird. Sie saugt also den Lebendigen das Leben aus, um das Unlebendige vor dem Tod zu bewahren. Tja, und zum Schluss könnte unser Erzähler die Geschichte beenden, in dem er uns erzählt, dass seine Mutter tatsächlich noch am Leben ist und immer noch so jung aussieht, wie vor achtzig Jahren, während ihm eine riesige Spinne auf den Schultern sitzt und mit langem, schleimigem Rüssel an seinem Hinterkopf saugt.

OKOK, soweit die Fantasie. Aber wie gesagt, guter Text - könnte sogar geil werden. Aber dafür mußt du kürzen und der Geschichte am Ende noch mehr Bums geben.
Dann wäre ich heillos begeistert.

Grüsse, Marcus
 

brain

Mitglied
Also ...

... klingt interessant, besonders die Sache am Schluss, mit der Spinne auf der Schulter. Ich lass mir das mal durch den Hinterkopf gehen:)
 



 
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