Das eine Glück des Oleg Rodunow

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Orgelbeben

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Das eine Glück des Oleg Rodunow

Der ehrenwerte Lampen-Bill, ein etwa sechzigjähriger Mann russischer Herkunft, der mit bürgerlichem Namen Oleg Rodunow hieß, betrieb seine kleine Effekthascherei am Ende der zweitklassigen Einkaufsstraße des 17. Bezirks mit bescheidenem wirtschaftlichen Erfolg. Die schmutzige, dem farbgewohnten Auge trostlos erscheinende Straße, vormals ein stolzer Boulevard, den die städtische Administration Ende der sechziger Jahre sich selbst überlassen hatte, beherbergte allerlei Ramschläden, schmierige Restaurants und mit süßlichen Begriffen belegte Bars, deren stumpfe, verdeckte Fenster von der Bewegung des Tages unbeeindruckt blieben. In den Stunden der Helligkeit beherrschte ein reges Treiben von Fahrzeugen, schreienden und feilschenden Menschen, Straßenverkäufern und gelegentlich aufheulenden Polizeisirenen das Bild. Abends, sobald es dämmerte, traten Vergnügungssuchende auf den Plan, die sich in den zahlreich aufgereihten Hinterhofzimmerchen jener fingierten Geborgenheit hingaben, die ein bar bezahlter Beischlaf zu spenden vermochte. Obwohl die nächtlichen Streitigkeiten, welche das lasterhafte Vergnügen nach sich zog, nicht selten in eine bewaffnete Auseinandersetzung mündeten, blieb das Sirenengeräusch des Tages in den meisten Fällen aus. Das Gewerbe der Dunkelheit folgte eigenen Gesetzen. Lampen-Bill kannte sie und verstand es, sein Geschäft nach ihren Erfordernissen auszurichten.

Die Effekthascherei, wie er seinen Kostümverleih getauft hatte, bot erlebnishungrigen Männern und Frauen, die ihre Freude zur Schau stellen wollten, gegen Gebühr eine ausgefallene Abendgarderobe an. Gleich welchen Aussehens und welcher Herkunft die Leute waren, sie streiften für ein paar Stunden ihre Alltagshülle ab und verwandelten sich in respektabel gekleidete Persönlichkeiten. Lampen-Bills besondere Begabung, seinen Kunden mit einfühlsamer, blumiger Beredsamkeit das Einzigartige des auserwählten Kostüms zu vermitteln, erfuhr im warmen Schein seiner Schneiderleuchten, die das Modell vortrefflich in Szene setzten, ihren Höhepunkt. Er verstand es meisterlich, die Illusion der Vollkommenheit zu zelebrieren, welche die sorgsam angepaßte Maskerade auf den Körpern seiner Kundschaft erzeugte. Lampen-Bill war ein Zauberer, der das triste Straßenbild, die hinreißend verwerflichen Rottöne der Nacht, allabendlich mit Königinnen und Märchenprinzen bereicherte, die ihren flüchtig aufschimmernden Glanz wie einen ewig währenden Reichtum genossen.

Selbstverständlich glichen die Kostüme keinem banalen Karnevals-Mummenschanz, sie waren alles andere als närrisch. Es waren festliche Gewänder, zumeist aus verstrichenen Zeiten stammend, aber mit einer Sorgfalt und Hingabe gepflegt, daß nicht allein die Struktur des Stoffes, sondern auch die Würde, die er im Betrachter hervorrief, in wundersamem Gleichklang konserviert wurde. Auch wenn einige Kleider nicht mehr der aktuellen Mode entsprachen, brauchte es kein Kunde zu fürchten, auf der Straße für sein Erscheinungsbild verspottet zu werden. Wer sich bei Lampen-Bill einkleidete, der war für diesen Abend etwas Besonderes, ob er dies mit einer stattlichen Feier kundtat, welche die normal Gewandeten einschloß oder nur stolz wogenden Schrittes zu einem der matt erleuchteten Hinterhöfe flanierte. Es war eines jener ungeschriebenen Gesetze der Nacht, daß niemand die Dienste Lampen-Bills bemühte, der sich dafür nicht durch besondere Fügungen des Tages veranlaßt sah. Wer in festlicher Aufmachung die breite Straße herunterkam, der besaß einen triftigen Grund dafür, beging einen Moment des Glücks, sei er einem inneren Empfinden, einem geschäftlichen Erfolg, einer Heldentat oder der Geburt eines Kindes geschuldet. Und als sei es ihre Pflicht, erzählte die betreffende Person Lampen-Bill von ihrem Glück, daß ihr die Empfängnis der feierlichen Insignien gestattete. Jeden überschwenglich vorgetragenen Bericht segnete er mit brummender Anerkennung ab. In den fünfundzwanzig Jahren, die er das Geschäft führte, war es nur ein einziges Mal vorgekommen, daß jemand aus niederen Beweggründen nach den höheren Ehren verlangt hatte.

Bill verweigerte damals einem aufgebrachten jungen Mann das Kostüm und wurde niedergeschlagen. Der Mann zog eine Waffe, als Bill blutend auf dem Parkettboden lag und drohte mit heiserer, überdrehter Stimme, ihn zu erschießen, wenn er nicht sofort den passenden Anzug herausrückte. Bill entgegnete, daß er sich lieber umbringen ließe, als einen ehrenwerten Mörder, wie sich der Mann selbst titulierte, zur Belohnung für sein Verbrechen mit einem Kostüm zu zieren. Glücklicherweise waren draußen einige Jungs auf den Tumult aufmerksam geworden, woraufhin sie die Effekthascherei kurzentschlossen stürmten und den Verbrecher überwältigten. Lampen-Bills Laden war bereits eine Institution zu dieser Zeit, die in einem Viertel, wo die Kriminalität zum Alltag zählte und wo Schutzgelder an der Tagesordnung waren, als unantastbar galt. Es stellte sich heraus, daß der Mörder aus einem anderen Bezirk kam und von Bills Kostümverleih zufällig erfahren hatte, als er sich nach seiner Tat bei einem nahe gelegenen Friseur zur Tarnung den Bart abrasieren ließ. Der Täter hatte die Effekthascherei als willkommenes Hilfsmittel gesehen, sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen, doch er hatte die Rechnung ohne die stille Autorität gemacht, die das Nachtleben des Boulevards bestimmte.

Der Mann wurde niemals der Polizei zugeführt und sein Schicksal war nur denjenigen bekannt, die ihn im Laden gestellt hatten. Keiner von ihnen verlor nach dem Vorfall ein Wort über dessen Verbleib, und niemand fragte sie danach. Nach diesem Ereignis, das sich in Windeseile herumgesprochen hatte, erschienen keine Kunden mehr, die sich widerrechtlich mit Lampen-Bills glitzernden Lorbeeren schmücken wollten. Die Jungs hingegen, die der Frevelei ohne Rücksicht auf sich selbst ein schnelles Ende bereitet hatten, wurden von Lampen-Bill aufs Königlichste ausgestattet und durften sich auf der Straße wie heimkehrende Kriegshelden feiern lassen. Angesichts der besonderen Rolle, welche die Effekthascherei für das seelische Gleichgewicht der Menschen im 17. Bezirk spielte, erscheint es verwunderlich, daß aus Lampen-Bill mit den Jahren kein wohlhabender Mann wurde. Tatsächlich war ihm die beständige Erweiterung seines Sortiments wichtiger als die Erfüllung persönlicher Wünsche. Er kaufte Stoffe, Knöpfe, Glasperlen, Schuhe, Pumps, Manschettenknöpfe, Krawattennadeln, Hüte, Perücken, Hemden, Kleider und Anzüge, wo er sie nur finden konnte. Dabei war es ihm gleichgültig, ob ein Kleid aus den zwanziger Jahren stammte, nach aktuellem Geschmack geschnitten war oder in der Art eines Showkostüms seine Aufmerksamkeit erregte. Ausschlaggebend war, daß Lampen-Bill die jeweilige Komposition als etwas Einzigartiges erkannte, etwas Schmuckvolles, das seinem Träger eine eigene, erhabene Würde verlieh. Lampen-Bill war ein Königsmacher, der sich in seiner Mission nichts vormachen ließ. Er kaufte nie belangloses Zeug, er wurde wütend, wenn es jemand wagte, ihm Schund zu präsentieren, doch wenn ihn ein Stück interessierte, wenn es eine eigene Magie besaß, war er bereit, jeden Preis dafür zu zahlen, den ein Händler verlangte. Er feilschte nie und wurde nur von Leuten betrogen, mit denen er vorher noch nicht ins Geschäft gekommen war. Seine größte Freude bestand darin, einen von Freude erfüllten Leib mit der angemessenen Hülle zu versehen.

Natürlich hatten Bills Künste ihren Preis, der jedoch mit der Person, die seine Dienste in Anspruch nahm, bisweilen stark variierte. Ein knapp bemessenes Budget war kein Grund, bei Lampen-Bill abgewiesen zu werden, es zählten vielmehr die Art des Anlasses, die Euphorie, welche der Kunde seiner jüngsten Lebenswendung entgegenbrachte und die Sympathie, die Bill in dieser Situation empfand oder auch nicht. Letztlich war der Preis nur eine Sache der Chemie, das Resultat eines Miteinanders von Molekülen. Die Effekthascherei hatte unter dem Namen Aenderungsschneiderei, Reinigung und Costuemverleih Heumann schon zu jener Zeit existiert, als die Einkaufsstraße noch den Namen Boulevard verdiente und die Dienerschaft des gehobenen Bürgertums dort vor allem die Reinigung von Bettwäsche und Unterbekleidung ihrer Dienstherren veranlaßte. Mitte der siebziger Jahre übernahm der Einwanderer Oleg Rodunow den inzwischen schlecht laufenden Familienbetrieb vom Urenkel des Gründervaters und konzentrierte sich nach zwei mageren Jahren ausschließlich auf die Kostüme, die sich rasch einer wachsenden Beliebtheit erfreuten. Ironischerweise blühten seine Kunden auf, während der Niedergang der Umgebung immer weiter voranschritt. Lampen-Bill, wie Rodunow auf der Straße genannt wurde, weil er seine Kunden unter einer Unmenge akribisch plazierter Schneiderleuchten, die niemand berühren oder verrücken durfte, zu Königen drapierte, entdeckte zwischen der Verschlechterung der Lebensumstände und der drastischen Zunahme der Kriminalität die untilgbare Sehnsucht der Menschen nach Augenblicken der Schönheit und des Friedens. Seinem Verständnis nach gab es keine Sicherheiten im Leben außer dem Tod, kein ewig währendes Glück und nur wenige Wendungen, die man als gerecht betrachten mochte. Doch trotz alledem gab das Recht eines jeden, das Aufflackern innerer Glückseligkeit mit allen Mitteln zur Schau zu stellen, die würdevoll genug waren, um das tiefe Gefühl der Lebendigkeit auf angemessene Art zu erleben. Lampen-Bill war davon überzeugt, daß dies das einzige Recht war, daß man niemandem nehmen konnte. Er war der Dekorateur persönlicher Glücksgefühle, der die Erfüllung eines Wunsches in edelst geschneiderte Stoffe zu bannen wußte.

Vor kurzem traf ich ihn bei Lou’s, wo er gewöhnlich zu Mittag aß. Wir kamen ins Gespräch, stellten fest, daß wir beim anstehenden Pferderennen auf denselben Gaul gesetzt hatten und äußerten uns bei einem heißen Kaffee gedankenvoll zu den vielen Unebenheiten des Lebens. Ich fragte ihn, wie er es schaffte, seit Jahrzehnten mit ungebrochenem Enthusiasmus die Kostümierung unserer Nachbarschaft zu übernehmen, Menschen zu schmücken, die doch im Grunde immer dieselben Dinge feierten, da fast niemandem der große Ausbruch aus seinem Leben gelang. Lampen-Bill sah mich entgeistert an. Glück entsteht immer verschieden, sagte er. Glück, das ist ein heiliger Moment, ein wohliger Schauer, der die meisten von uns viel zu selten durchdringt. Es ist unwichtig, ob Dir Dein Glücksgefühl zu Wohlstand verhilft. Wichtig ist nur, daß Du den Moment erkennst, seine Heiligkeit wertschätzt und daß Du die Möglichkeit hast, ihn zu zelebrieren, wenn Du dies wünschst. Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, erhob er sich, wünschte mir mit einer leichten Verbeugung einen schönen Tag und ging ohne ein Anzeichen von Eile hinaus. Ob ihn meine Frage gekränkt hatte? Ich bedauerte seinen Aufbruch, denn ich hätte gerne noch erfahren, weshalb man ihn selbst nie in einem seiner Kostüme antraf, aber – vielleicht hatten mich seine Worte bereits darauf hingewiesen. Sein persönliches Glück bestand darin, anderen dieses seltene Gefühl erfahrbar zu machen, und indem er dies vollbrachte, sorgte er dafür, daß ihn sein eigenes Glück niemals verließ. Ich blickte aus dem Fenster und sah, wie das Leben im fahlen Licht eines diesigen Tages an meinem Auge vorüberzog. Zwischen dem verlockenden Geschrei eines Obstverkäufers und dem Fluchen eines dürren alten Männleins, das seine schäbigen Krücken unbedacht in einen Hundehaufen getaucht hatte, ertappte ich mich bei der Frage, wann ich selbst das nächste Mal bei Lampen-Bill auftauchen würde, um mich, gewandet wie ein König, dem Schauer eines leis erweckten Glücksgefühles würdig zu erweisen.
 

maerchenhexe

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hallo Orgelbeben,

für mich ein gelungener Einstieg in die Leselupe, also gleichzeitig ein herzliches Willkommen. Berührend, wie sich diese "Vergessenen der Gesellschaft" ihr kleines Stückchen Glück bei Lampen-Bill holen können. Behutsam und mit viel Empathie erzählt. Und das ist mein Punkt, ich meine dein Text gehört ins Forum "Erzählungen". Natürlich lässt du Raum zum Weiterdenken, wie wird sich in dieser Straße alles weiter entwickeln, wenn es Bill einmal nicht mehr gibt, dennoch ist dieser Text in sich rund und abgeschlossen. Was mir das Lesen ein bisschen schwer gemacht hat, ist,dass du keine Redezeichen verwendest sondern stattdessen Kursiv. Und auch der ein oder andere Absatz könnte das Lesen vielleicht noch etwas freundlicher gestalten. Bei ...., daß... ist mir die alte Rechtschreibung aufgefallen, aber das ist Kleinkram. Ich hoffe, mein Kommentar kommt bei dir jetzt nicht zu negativ an, denn ich mag dein Werk. Und schließlich hat der Autor ja immer das Sagen und nicht die Kommentierenden.

ganz lieber Gruß
maerchenhexe
 

petrasmiles

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Hallo Orgelbeben,

ich habe so den Verdacht, dass Du einer von den Autoren bist, denen man gerne folgt, bei welchem Thema auch immer, egal in welche Region. Eine Geschichte und eine Sprache wie ein viktorianisches Plüschsofa (oder meiner Vorstellung davon als Sinnbild von selbstvergessener Behaglichkeit).
Ich könnte jetzt noch wortreich schwelgen, aber ich möchte Dich nicht mit überflüssigen Kommentaren vom Schreiben der nächsten Geschichte abhalten.
Wann ist es so weit?

Liebe Grüße
Petra
 
orgelbeben, hallo du...

Glück entsteht immer verschieden, sagte er. Glück, das ist ein heiliger Moment, ein wohliger Schauer, der die meisten von uns viel zu selten durchdringt. Es ist unwichtig, ob Dir Dein Glücksgefühl zu Wohlstand verhilft. Wichtig ist nur, daß Du den Moment erkennst, seine Heiligkeit wertschätzt und daß Du die Möglichkeit hast, ihn zu zelebrieren, wenn Du dies wünschst.
wer gab die die idee für solche worte,
ich bin hoch erstaunt und erfreut über soviel philosophie in einem flüssig und gut zu lesendem text. gratuliere.
heike
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Hallo Orgelbeben,

ich bin angenehm von deiner Erzählung berührt. Der ruhige, ein wenig breite, leicht melancholische, auf vordergründige Effekte verzichtende Erzählstil gibt dem Leser Halt. Solche Art von Literatur ist rar geworden in unserem "Informationszeitalter", das vor allem eines der Nicht- und Fehlinformation infolge von Überinformation und daraus resultierender Unaufmerksamkeit ist...

Mit dem nachfolgenden Satz hadere ich ein wenig:

Doch trotz alledem gab das Recht eines jeden, das Aufflackern innerer Glückseligkeit mit allen Mitteln zur Schau zu stellen, die würdevoll genug waren, um das tiefe Gefühl der Lebendigkeit auf angemessene Art zu erleben.

Vielleicht kann man da ein wenig vereinfachen.

Ach ja: Wo ist die Erzählung angesiedelt? Brooklyn?

LG

P.
 
Hallo Orgelbeben,

Mit dem nachfolgenden Satz hadere ich ein wenig:

Doch trotz alledem gab [blue]es[/blue] das Recht eines jeden, das Aufflackern innerer Glückseligkeit mit allen Mitteln zur Schau zu stellen, die würdevoll genug waren, um das tiefe Gefühl der Lebendigkeit auf angemessene Art zu erleben.
ansonsten würde ich hier nur zwei sätze daraus machen, so liest es sich leichter und idt denoch verständlich.

z.B.:
Doch trotz alledem gab es das Recht eines jeden, das Aufflackern innerer Glückseligkeit mit allen Mitteln zur Schau zu stellen.
Würdevoll genug, um das tiefe Gefühl der Lebendigkeit auf angemessene Art zu erleben.
oder so ähnlich...

gruß heike
 



 
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