Das erleuchtete Fenster.

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San Martin

Mitglied
Das erleuchtete Fenster

Nach der Arbeit fuhr er immer mit dem Bus nach Hause. Es war ihm zur Routine geworden. Der gleiche Bus zur gleichen Zeit. Auch stieg er immer eine Bushaltestelle zu früh aus und ging die Straße entlang, an der zweiten Kreuzung links abbiegend. Der Weg, den er so jeden Nachmittag, Montag bis Freitag, nahm, führte ihn an einem besonderen Haus vorbei. Das Haus war besonders, denn in ihm wohnte eine, die ihn einst geliebt hatte.

Oft, wenn er dort vorbei ging, war sie bereits daheim. Dann war ihr Wohnzimmerfenster hell; ein warmer, orangener Lichtschein fiel durch die weinroten Vorhänge. Er stellte sich vor, dass sie im Wohnzimmer im Schneidersitz auf der Couch saß, eine Wolldecke um sich geschlungen, in der linken Hand eine Tasse heißen Tees, die sie auf dem linken Knie abstützte. Er konnte es sich so genau vorstellen, weil er sie kannte, weil er aus irgendwelchen Gründen diese Details ihres Zusammenseins nie hatte vergessen können. Je ungemütlicher es draußen war, je kälter, regnerischer, dunkler, und je dunkler es in ihm selbst, desto wärmer und verheißender war das orangene Licht im Fenster, desto trostversprechender.

Und obwohl er wusste, dass es ihm wehtat, vorbei zu gehen und dieses Licht sehen zu müssen, obwohl er wusste, wie es ihn schmerzte, an sie zu denken, wie sie entspannt auf der Couch saß, allein oder mit ihrem Freund, obwohl er wusste, dass dieser verheißende Schein für ihn auf ewig unerreichbar sein würde, obwohl er all dies wusste, stieg er doch jeden Tag eine Bushaltestelle zu früh aus und ging an ihrem Haus vorbei.

Er ging, auch wenn sich seine Knochen anfühlten, als wären sie mit Glasscherben gefüllt; auch wenn er sich schwach und elend fühlte; auch wenn sein Bauch schmerzte, als hätte er rostige Nägel verschluckt; auch wenn sein Kopf dröhnte, als würden Hämmer unablässig gegen seine Schläfen schlagen; auch wenn er manchmal nur mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte.

Selten, selten nur traf er sie vor dem Haus. Dann winkte sie ihm lächelnd zu, denn sie waren Freunde geblieben. Lächelnd winkte sie ihn zu sich. Schön, dich mal wieder zu sehen, sagte sie dann und lächelte mit jenen Lippen, die er nie wieder würde küssen können, lächelte mit den Augen, die ihn nie wieder so ansehen würden wie vor langer Zeit, breitete ihre Arme aus und umarmte ihn und streifte ihn mit dem Atem, den er nie wieder an seiner Brust fühlen würde, dessen Süße er nie wieder schmecken würde. Warum kommst du uns nicht besuchen, fragte sie dann, nächste Woche vielleicht? Gern, antwortete er. Nun muss ich aber weiter. Bin nur zufällig hier vorbei gekommen. Bis bald. Er drehte sich um, bevor sie sich wegdrehen konnte, und ging die Straße hinab, wie ein jeder Mensch die Straße hinab geht, nicht zu langsam und nicht zu schnell. Ich liebe sie nicht mehr, dachte er bei sich mit der Stimme, in der alle seine Gedanken sprechen. Ich bin über sie hinweg.


05.11.2004, Braunschweig
 
L

Lotte Werther

Gast
An San Martin

Ein guter Anfang. Mir gefällt die Geschichte und auch die sprachliche Umsetzung. Dein Text verträgt aber Verdichtung durch Streichen.

Ich gebe dir Beispiele:

Das Wort "immer" hat es in sich.Gleich im ersten Satz gelesen, hat es mich enttäuscht. Es kann sehr schnell die Kraft eines Satzes atomisieren.

Nach der Arbeit fuhr er [strike]immer[/strike] mit dem Bus nach Hause. Es war ihm zur Routine geworden. Der gleiche Bus zur gleichen Zeit

Wenn du im zweiten Satz von der Routine schreibst, ist „immer“ im ersten Satz überflüssig.

[strike]Das Haus war besonders, denn[/strike] in ihm wohnte eine, die ihn einst geliebt hatte.

[strike]Er konnte es sich so genau vorstellen, weil er sie kannte,[/strike] weil er aus irgendwelchen Gründen diese Details ihres Zusammenseins nie hatte vergessen können.

Auch hier nimmt die Wiederholung der Information dem Text den Biss. Wir wissen, dass er sie kannte. Und auch, dass er es sich vorstellen konnte.

winkte sie ihm lächelnd zu, [strike]denn sie waren Freunde geblieben[/strike]

Lass das den Leser feststellen.

Seine Gedanken am Ende haben überrascht und mich erst eingehender über den Text nachdenken lassen.

Arbeite noch sorgfältiger an deiner Sprache, du bist auf dem richtigen Weg.

Lotte Werther
 

San Martin

Mitglied
Dankeschön. Ich sehe durchaus deine Kritikpunkte ein, nur fällt mir die Umsetzung der Änderungen schwer. Die Wiederholungen, die du gern gestrichen sehen würdest, sind ein Stilmittel, das sich durch die ganze Geschichte zieht und für den gesprochenen Vortrag des Textes förderlich ist (kleine Pause vor den Wiederholungen). Wenn ich es in meinem Kopf spreche, haben die Wiederholungen etwas singendes, schwingendes, eindringliches an sich, und auf diesen Klang habe ich den Text ausgerichtet... was nicht heißen muss, dass dieses Stilmittel zu jeder Zeit positiv wirken muss.

Ich nehme deine Kritik gern an, nur habe ich Schwierigkeiten, deine Vorschläge einzubauen...

"Seine Gedanken am Ende haben überrascht und mich erst eingehender über den Text nachdenken lassen." -- Das klingt so, als ob du ihm glauben würdest. Tu das bitte nicht. ;)

Die letzte Streichung ist gelungen; da stimme ich mit dir überein.

Danke für die Vorschläge. Ich werde den Text etwas ruhen lassen und dann überarbeiten.
 

Arezoo

Mitglied
Dann winkte sie ihm lächelnd zu, denn sie waren Freunde geblieben.
Ein genialer Satz, wenn man ihn nicht aus dem Zusammenhang reißt. Er macht fast die ganze Storyline aus. Symbolisiert die Zerissenheit zwischen dem, was sein könnte und dem, was ist.
Nicht rausnehmen!

Mir hat dein Text sehr gefallen. Flüssig gut geschrieben.
Und nicht nur das. Du verstehst hier eine Stimmung zu kreieren, die zwischen den Worten, zwischen den Zeilen entsteht.
Das berührt, schmerzt und macht am Ende etwas traurig.
Es hat mich fast schön persönlich angesprochen... Ja, so ein Haus kenne ich auch.

Liebe Grüße,
Arezoo

PS: Keine Punkte von mir, aber aus Prinzip nicht. Nie, weil ich nicht glaube, dass man Literatur nach Punkten auf einer Skala bewerten kann... :)
 

Gandl

Mitglied
Lieber San Martin,
diese Sätze mag ich: Ich bin über sie hinweg.
Was da bei mir alles freigelegt wird!
Da wird die ganze Story noch mal neu aufgerollt, überprüft – und: HA!
Ach ...soifz!
Lieben Gruß
Gandl
 
D

Denschie

Gast
Hallo San Martin,
einige sprachliche Aspekte, die mir auch aufgefallen
sind, hat Lotte Werther schon angesprochen.
Aber auch, wenn du daran nichts mehr ändern möchtest,
muss ich doch sagen, dass mich die Geschichte sehr
berührt hat. Sie spricht das Gefühl an. Das geht mir
selten bei solch kurzen Liebesgeschichten so, da es schwer
ist, "neu" oder zu sein oder so mit Sprache umzugehen,
dass wirkliche Stimmung entsteht.
Einen Vorschlag hätte ich dennoch, da mir zufällig etwas
aufgefallen ist: beim ersten Lesen übersah ich den
folgenden Satz:
Das Haus war besonders, denn in ihm wohnte eine, die ihn einst geliebt hatte.
Ich las also, ohne diese Information zu haben. Nachdem
ich beschlossen hatte, dir einen Kommentar zu schreiben,
las ich noch einmal und dachte, dass die Geschichte
gewinnt, wenn dem Leser diese Information am Anfang
vorenthalten wird.
Das nur als Vorschlag.
Liebe Grüße,
Denschie
 



 
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