Das falsche Gesicht

Dorian

Mitglied
Es war Samstagmorgen. Der Wecker klingelte um 6Uhr30 und ich war aus dem Bett und halb angezogen, bevor mir einfiel, daß ich die ersten beiden Stunden frei hatte: Mädchenturnen.
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Ich warf den Wecker aus dem Fenster und kroch zurück unter die Decken, wo ich natürlich nicht mehr einschlafen konnte. Nach einer halben Stunde des Herumwälzens gab ich auf und schlurfte ins Badezimmer, um meine Blase zu entleeren.
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Doch was mußte ich entdecken, als ich am Badezimmerspiegel vorbeikam ? Jemand hatte mein Gesicht gestohlen und mir dafür ein anderes dagelassen!
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Es war ein durchschnittliches, unauffälliges Gesicht, nicht schlecht aussehend, aber mit den mir eigenen aristokratischen Zügen nicht zu vergleichen.
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Ich war schockiert. Mein altes Gesicht mußte wieder her!
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Vollständig angezogen wankte ich in die Küche, wo ich meinen Vater hinter einer Zeitung und vor einer Tasse Kaffee vorfand.
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"Guten Morgen, Vater", sagte ich.
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"Guten Morgen, junger Mann", erklang es von irgendwo aus der Zeitung.
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"Vater, ich bin heute morgen mit dem falschen Gesicht aufgestanden", bemerkte ich.
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Der Vater warf mir aus der Sicherheit seiner Zeitung einen kurzen Blick zu.
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"In der Tat", sagte er. "Das bist du." Die Zeitung raschelte.
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"Wo ist denn die Mutter ?"
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Ich wußte, daß es keinen Sinn hatte, weiter in den Vater zu dringen.
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"Die Frau, welche dich geboren hat", antwortete die Zeitung leicht pikiert, "zieht es vor im Wohnzimmer zu frühstücken. Sie sagt, von dort aus kann sie den Fernseher besser sehen."
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Was sich leich nachvollziehen ließ. Schließlich war der Stammplatz unseres Herrn Fernsehers schon seit Jahren im Wohnzimmer befindlich. Joschi, der Fernseher stand dort gemütlich auf einer Kommode, direkt neben der Kiste von Pepi, dem Kater. Ich beschloß, die Mutter aufzusuchen.
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Sie saß im Wohnzimmer vor dem Herrn Fernseher und einem Glas Orangensaft. Glücklich biß sie in einen gebutterten Toast.
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"Guten Morgen", sagte ich.
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"Guten Morgen", antwortete die Mutter. "Kennen wir uns?"
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"Ich bins, dein Sohn, Mutter", klärte ich sie auf. "Jemand hat über Nacht mein Gesicht mit einem anderen vertauscht. Was soll ich denn jetzt machen? Ich kann doch so nicht in die Schule gehen."
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Zu diesem Zeitpunkt wurden mir die Vorteile der ganzen Geschichte bewußt.
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"Hör auf zu tanzen und zu jauchzen", sagte die Mutter. "Wir werden schon eine Lösung finden. Komm mit."
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Sie stand auf, ging in die Küche, nahm meinem entsetzten Vater die Zeitung weg, faßte ihn fest ins Auge, deutete auf mich und sagte: "Unternimm gefälligst etwas."
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"Du hast recht", antwortete der Vater. Er stand auf, hob seine Tasse und straffte die Gestalt. Es kam nicht viel dabei heraus und zu meinem Leidwesen muß ich gestehen, daß ich seine Figur geerbt habe.
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"Es kann nicht angehen", fuhr er fort, "daß man meinem Sohn einfach das Gesicht entwendet. Ich werde mich beschweren."
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Dann hob er die Tasse zum Salut, und leerte sie auf einen Zug.
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In diesem Stadium sind wir noch heute.
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Nun, nicht ganz.
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Als ich nämlich zur Schule ging, traf ich den Kerl, der mein Gesicht gestohlen hatte. Ich erkannte ihn sofort, schließlich lief er mit meinem Gesicht herum.
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"Wieso", fragte ich ihn und er verstand auf der Stelle.
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"Ich war mein altes Gesicht leid", antwortete er. "Es ist so durchschnittlich und unauffällig. Recht gutaussehend zwar, aber nicht zu vergleichen mit deinen aristokratischen Zügen."
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Ich war versucht ihn zu schlagen, wollte mir aber nicht die eigene Visage verbeulen.
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Er schlug mir eine Art Gottesurteil vor: Wir würden unsere beiden Gesichter in eine Schachtel legen und ich dürfte danach eines davon blind ziehen. Dieses müßte ich dann wohl oder übel behalten.
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"Fair ist fair", dachte ich und sagte zu.
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Ich weiß bis heute nicht, ob ich das richtige Gesicht gezogen habe (es ist nämlich gar nicht so leicht, *überhaupt kein* Gesicht zu haben und trotzdem im Auge zu behalten, wer man eigentlich ist).
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So kann es also sein, daß *ich* hinten in der Klasse sitze und diesen Aufsatz schreibe ... oder jemand anders. Für genau diesen Fall haben wir diesen Aufsatz nämlich vorbereitet.
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Wie dem auch sei, Herr Lehrer: Bitte benoten Sie mich oder den anderen Kerl nicht zu streng, denn wir sind aus verständlichen Gründen ein wenig verwirrt.
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Vielen Dank
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anemone

Mitglied
Ja, so kann's gehn,

sehr interessante Geschichte, so recht aus dem wahren Leben,
aber nett geschrieben

Mit zwanzig Jahren hat jeder das Gesicht, dass Gott ihm gegeben hat, mit vierzig, das Gesicht, dass ihm das Leben gegeben hat und mit sechzig das Gesicht, dass er verdient.
(Albert Schweitzer)
 

Dorian

Mitglied
1989 mußte ich eine Schularbeitzu dem Thema "Heute morgen erwachte ich mit einem falschen Gesicht" schreiben. Mir fiel überhaupt nichts ein. Note: Nicht Genügend
Voriges Jahr setzte ich mich nochmal hin und schrieb, was Ihr hier vor Euch habt.

Aber ich kann auch anders. Laßt Euch überraschen.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

dorian, nach einer so neten geschichte lassen wir uns gern von dir überraschen. aber sag mal, wie hast du - und vor allem wozu - die ganzen brs in den text gesetzt? fragend guckt
 

Dorian

Mitglied
Hallo!

Tja, das mit den brs war mehr oder weniger ein Unfall. Ich habe die Geschichte nämlich schon mal auf eine andere Hobbyschriftstellerseite gepostet, aber dort habe ich sie direkt ins Dialogfeld geschrieben. Als Word-Datei habe ich sie nicht mehr, daher habe ich sie direkt von dort kopiert und hier eingefügt und das kam dabei raus. Weiß auch nicht wieso.
Sollte also kein Stilmittel oder sowas sein. Hoffe es stört nicht zu sehr beim Lesen

LG

Dorian
 



 
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