Das ist ein Überfall!

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jf

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Einen Tag vor ihrem 47. Geburtstag genau um 15 Uhr knallte Sigrid Herbst den Deckel ihres vollgepackten Koffers zu.

Zum gleichen Zeitpunkt verließ ihr Mann Simon zwei Stunden früher als gewöhnlich die Firma. Mit starrem Blick trat er im Erdgeschoß aus dem Fahrstuhl, seine Jacke in der Linken, die Tasche in der Rechten und sein Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Er fixierte den Ausgang quer durch die Eingangshalle, während seine hastigen, weit ausholenden Schritte, aber vor allem die Stimme aus dem Mobiltelefon seinen Blutdruck nach oben trieben.
Mit der rechten Schulter stieß Simon die Ausgangstür auf, die hinter ihm mit Schwung wieder ins Schloss fiel. Beim nächsten Schritt bemerkte er, dass die Tür seine Jacke eingeklemmt hatte und riss sie mit voller Kraft los. Der unterste Knopf der Jacke wurde von der scharfen Türkante abgetrennt und schoss quer durch die Lobby direkt auf die erschrockene Rezeptionistin zu.
Als ihm durch den Ruck das Handy entglitt und hart auf dem Gehsteig aufschlug, erreichte Simons Blutdruck ein so hohes Niveau, dass sich in seinen Ohren ein Rauschen erhob und er das Pochen seines eigenen Pulses hören konnte.

Regina Staudinger, die Rezeptionistin der Installationsfirma, für die Simon Herbst arbeitete, hatte ihn noch nie so gesehen. Dem Knopf konnte sie zwar ausweichen, trotzdem überlegte sie, ob sie Simon am nächsten Tag zur Rede stellen sollte.
Andererseits war sie sich nach dem heutigen Vorfall nicht mehr sicher, ob sie sich das trauen könnte, noch dazu in ihrem Zustand. Bisher war Simon immer höflich gewesen, aber jetzt musste sie wohl in Betracht ziehen, dass in Simon Herbst ein verstecktes Gewaltpotenzial schlummerte.

Patrick Burner war 33 Jahre alt, würde bald Vater werden, und in zwei Wochen standen die verspäteten Flitterwochen an. Es sollte die beste Hochzeitsreise aller Zeiten werden, und da Patrick erstens arbeitslos und zweitens pleite war, hatte er beschlossen, eine Bank zu überfallen.
Vermutlich wäre es besser gewesen, die Pistole seines Großvaters vor dem Überfall zumindest einmal auszuprobieren. Aber Patrick war sich sicher, dass ein echter Kerl wie er auch ohne Übung jeder möglichen Situation gewachsen sein würde.

Sigrid Herbst hatte mittlerweile den Koffer nach unten gebracht und saß mit einem Stift in der Hand am Schreibtisch vor einem leeren Blatt Papier. Irgendeine Botschaft musste sie ihm schließlich hinterlassen. Als ihr nichts einfiel, schaltete sie den Fernseher ein, womöglich würde sie "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" inspirieren.

Simon hatte die Jacke mittlerweile angezogen, den fehlenden Knopf ignoriert, das Handy wieder aufgehoben und die Wiederwahltaste gedrückt, während er auf den Eingang seiner Hausbank zusteuerte. Kurz vor den Stufen zum Bankeingang erreichte er seinen Gesprächspartner von vorhin. "Anzengruber und Sohn - Dachdeckerei" meldete sich eine unmotiviert klingende Frauenstimme. "Herbst nochmal, ich brauche den Chef, ich habe gerade mit ihm telefoniert", bellte Simon in das Gerät. "Herr Anzengruber hat gerade die Firma verlassen, ich kann Sie mit dem Juniorchef verbinden", spulte die Telefonistin routiniert ab und Simon landete in der Warteschleife.

Regina hatte mittlerweile die Firma verlassen und dem Reisebüro "Urlaub für alle!" wegen der Reiseunterlagen einen Besuch abgestattet. Nun war sie auf dem Weg zur Bank, um das Geld für die Anzahlung abzuheben.

"Patrick Anzengruber", meldete sich inzwischen der Juniorchef der Dachdeckerei Anzengruber und Simon Herbst atmete durch. "Hallo Patrick, Simon Herbst spricht." Er hatte gehofft, diese Sache mit Herrn Anzengruber senior erledigen zu können. Wahrscheinlich hatte der alte Gauner absichtlich seinen Sohn vorgeschickt, weil er mit Simon in die Schule gegangen war.
Dreißig Jahre Garantie gewährte die Firma Anzengruber mit dem Motto "Dichte Dächer seit 1837". Natürlich fand sich die erste undichte Stelle im Dach von Sigrids und Simons Haus genau 30 Jahre und zwei Monate, nachdem Simons Vater es bezahlt hatte.
Die Sturzbäche in seinem Wohnzimmer bei Regen waren allerdings nicht Simons größtes Problem. Auch in seiner Ehe zeichneten sich Risse ab. Sigrid und er hatten sich nicht weiter auseinandergelebt als andere Paare. Aber nachdem er ihren Geburtstag vergessen hatte, ihr dann als Entschuldigung die teure Perlenkette, die sie sich schon lange wünschte, versprochen, aber am Weg zum Einkaufen das dafür abgehobene Geld im Wettbüro verspielt hatte, war sie wirklich ausgerastet.
Dafür konnte die Firma Anzengruber zwar nichts, aber sie war am undichten Dach schuld, und zumindest hier würde Simon auf seinem Recht bestehen. Auf die lächerlichen zwei Monate konnte es doch nicht ankommen. Gerade als Juniorchef Patrick Anzengruber zu erklären begann, warum eben doch gerade diese zwei Monate ein Problem wären, betrat Simon Herbst die Bank, nur zur Sicherheit, falls sich die Firma tatsächlich hinauswinden würde und er einen Kredit bräuchte.

Nachdem Patrick Burner auf der Treppe zum Haupteingang mehrmals um sich geblickt hatte, zog er die Kapuze beim Betreten der Bank über den Kopf und soweit wie möglich ins Gesicht. In der kleinen Filiale hielten sich zwei Schalterbeamtinnen und ein Kunde auf. Kein Sicherheitsdienst war zu sehen. Patrick atmete auf, stellte sich direkt hinter den Kunden, drehte die Waffe unter seinem Pullover so, dass sich der Lauf deutlich abzeichnete und rief: "Das ist ein Überfall, ich will das ganze Geld, stopft alles in eine Tasche!"
Die Beamten hatten die Anweisung, im Falle eines Überfalls den Alarmknopf zu drücken und zu kooperieren, und das taten sie auch. Hektisch kramten sie in den Kassen herum und häuften das schnell verfügbare Geld hinter dem Schalter an. Dann hielt einer der beiden inne: "Haben Sie eine Tasche mit? Wir haben nur Geldkuverts hier." Bei Patrick setzte ein leichtes Schwindelgefühl ein.

Simon war inzwischen eingetreten. Fünf lange Minuten hatte er schon mit Patrick Anzengruber diskutiert und der frühere Schulkollege hatte sich als harter Diskussionsgegner erwiesen. Aber offensichtlich war ihm der Ernst der Lage nicht klar. In Simons Kopf drehte sich alles, das kaputte Dach, die fatale Situation zwischen seiner Frau und ihm, die Tropfen, die bei Regen unaufhaltsam in die Plastikwanne im Wohnzimmer fielen. Er hatte genug: "Patrick!" rief er "Verdammt, es geht hier um alles! Mach keinen Blödsinn und lass mich nicht bis zum äußersten gehen!"

Als Patrick Burner seinen Namen hinter sich hörte, fuhr ihm eine heiße Schockwelle durch den Körper. Nun war alles aus, jemand hatte ihn erkannt. Er riss die Hände hoch, die Kapuze rutschte ihm vom Kopf, und die Pistole knallte mit einem metallischen Geräusch auf den Boden.

Simon Herbst war irritiert. Am Mobiltelefon argumentierte Patrick Anzengruber nach wie vor auf Eigenschuld, was das Dach seines Hauses betraf, da riss der Mann, der vor ihm in die Bank gegangen war, die Hände hoch und ließ etwas fallen. Er bückte sich und wollte dem Herren den Gegenstand reichen, als hinter Simon seine Kollegin Regina die Bank betrat.

Regina erfasste sofort die Situation. Simon Herbst, ihr Arbeitskollege, dessen brutale Neigungen sie heute nachmittag hatte beobachten können, wollte ihren Verlobten ausrauben und bedrohte ihn mit einer Pistole. Sie zögerte nicht lange, griff nach einem Schirmständer aus Metall und zog ihn Simon Herbst über den Schädel.

Als Simons Frau im Fernsehen ihren Ehemann sah, wie er nach seinem versuchten Banküberfall ohnmächtig auf einer Bahre in einen Rettungswagen getragen wurde, stiegen ihr Tränen in die Augen. Nie hätte sie gedacht, dass er so etwas für sie machen würde. Sie fasste einen Entschluss: Sie würde ihm verzeihen.
 



 
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