Das letzte Tabu

meyer

Mitglied
Unverhoffte Vereinigung oder: Das letzte Tabu

Es war schon dunkel. Gerhard Kressing trat aus dem Haus auf die Straße. Wie so oft schlenderte er durch die Innenstadt, um sich in einem der zahlreichen Cafés niederzulassen und an einem Text zu arbeiten. Für die Aufsätze, die er gelegentlich als freier Mitarbeiter eines Wochenmagazins verfasste, begab er sich gern unter Leute. Wenigstens dann.
Der Wind blies ihm ins Gesicht; die Bäume am Straßenrand rauschten und die Markisen der Läden, an denen er vorbeiging, knackten bedenklich. Als er die Kreuzung überquerte, bremste rechts von ihm ein Ford scharf ab und kam mit albern aufgeregtem Quietschton zum Stehen. Als ob ich dem nicht rechtzeitig ausgewichen wäre, dachte Kressing geringschätzig und hob abwinkend die Hand Richtung Fahrer. Das rot-schwarz gekleidete Paar auf dem Reklameplakat auf der anderen Straßenseite, besonders dessen weiblicher Teil, hätte seine Aufmerksamkeit nie im Leben auch nur einen Moment beansprucht. Prall, heiß, eng - diese Wörter platzten rein zufällig in sein Hirn. Was, verdammt, hatte das mit \"wirkungsaktiver Zahnkrem\" zu tun?

Großes Thema diese Ausgabe, Beschluss der Redaktionskonferenz gestern: \"Welt ohne Tabus. Brauchen wir noch Grenzen?\" Knapp hatte dieser Aufmacher den Zuschlag bekommen statt \"Die neue Lust an der Lust. Die schrillsten Trends\". Die harte Entscheidungsschlacht gewonnen hatte die Kulturredakteurin nur unter Einwerfen zweier gewichtiger Punkte: Erstens war es zur Zeit überhaupt schwer en vogue, über das Ausufern des Liberalismus zu räsonieren - Werte, Leere, Spaßgesellschaft, man kannte das. Ausschlaggebend aber war der Hinweis auf die Titel der letzten Ausgaben (\"Kleine Geheimnisse. Warum so viele Frauen fremdgehen\" letzte Woche, \"Goethes hübsche Erbinnen. Das literarische Fräuleinwunder\" vor vier Wochen und - besonders subtil - \"Sex sells. Das Geschäft mit der Lust\" vor fünf). Sie argumentierte, es werde allmählich schwer, die Fotos der großbrüstigen Frauen auf der Titelseite noch wesentlich zu variieren. Variation aber musste sein. Der Leser musste jede Woche auch visuell das Gefühl haben, diesmal gehe es um ein völlig anderes Thema als in der Woche zuvor. Schließlich kaufte er kein Sexheft, nein, sondern ein illustriertes Magazin mit Anspruch und großem Politikteil.

Im \"Mosquito´s\" war dienstags Cocktailtag, minus 20 Prozent. Bis dahin waren es durch die Fußgängerzone circa 300 Meter. Die Geschäfte hatten zwar schon geschlossen, erregten aber in der Dunkelheit mit ihren leuchtenden Schaufenstern umso größere Aufmerksamkeit. Kressing betrachtete gelangweilt die Anpreisungen der Sonderangebote und die zwischen den Pappschildern sinnlos herum stehenden Schaufensterpuppen. Vor einer von ihnen machte er spontan Halt, stellte sich ihr gegenüber und begann grimmig ein kurzes, stummes Zwiegespräch. Ich kenn´ euch doch, dachte er. Eiskalt seid ihr. Oder war es vielleicht kein Kalkül, dass diese Dame und all ihre Kollegen und Kolleginnen in den Fenstern ausnahmslos Unterwäsche trugen - auch wenn sie \"Sportswear\" hieß? Außerdem wusste man ja, was für einen Sport diese Herrschaften im Kopf hatten. \"Jogger-Slips\" und \"Sportjacken\", dass ich nicht lache, dachte er. Alles nur Verschleierungstaktik. In Wahrheit ging es allen nur um das Eine. Er sah der Puppe, die sich in verbogener Pose unpraktischerweise an einem Sonnenschirm festhielt, ernst in die Augen und dachte: Lüstern. Alle seid ihr lüstern. Wütend riss er sich los von ihrem Anblick und wäre fast gegen einen Vorbeigehenden geprallt: Offensichtlich ließ sein Vorwurf sie gänzlich unbeeindruckt.

Das Thema fand großen Anklang. Mehrere Redaktionsmitglieder gehörten zu den traurigen Fällen von studierten Geisteswissenschaftlern, die sich täglich vorwarfen, vor Jahren einmal \"irgendwas mit Medien\" als Berufswunsch anvisiert zu haben. Im profanen Journalismus-Alltag fühlten sie sich notorisch unterfordert. Die Augen dieser Kollegen leuchteten bei solchen selten genug auftauchenden Themen stets in magischer Verzückung auf - dies war ihre Stunde. Kollege Nolle vom Lifestyleressort war sofort Feuer und Flamme. Er war Philosophie-Magister und begann gleich begeistert, von \"konstitutiver Autolimitation\" zu erzählen, vom Menschsein, das sich gerade im bewussten Verzicht auf fraglose animalische Triebbefriedigung äußere. Kollege Kottenschneider, Rubrik \"Stargeflüster\", Kulturgeschichte-Doktor, war ebenfalls angetan und erklärte, gerade rigorose Moralvorschriften hätten doch zentrale Kunstwerke der Weltkulturen erst möglich gemacht.
Kressing hatte zu den wenigen gehört, die für die liberalen Entwicklungen der Welt überhaupt noch ein gutes Wort einlegen mochten. Schnell war klar, dass er in einem der Beiträge für die Tabu-Ausgabe diese Position vertreten würde. \"Eigentlich ist es doch albern\", hatte Kressing gesagt (und gemerkt, dass er wütend wurde), \"erzählt mir nicht, dass ihr ernsthaft bereit wäret auf irgendeine lieb gewordene Freiheit zu verzichten, nur weil das kultivierter wäre. Erklärt mir das mal ganz praktisch: Wollen wir vielleicht eine Geschmacks-Zensur, die die Sittlichkeit der Medien überwacht? Lasst uns doch gleich mit unserem Laden anfangen! Gründe gäbe es genug.\" Kottenschneider, ein dicklicher Mittvierziger, zog die Augenbrauen hoch und schwieg beleidigt. Joachim Nolle seufzte ebenfalls ob so viel Uneinsichtigkeit, entgegnete aber geduldig: \"Aber schau dir doch unsere Gesellschaft an, mit ihren Auswüchsen, ihrer Beliebigkeit. Magst du vielleicht diese schrecklichen Talkshows à la \'Ich hab das Zeug zum Busen-Star\'?\" \"Natürlich nicht\", lenkte Kressing ein, \"daher sehe ich sie mir auch nicht an. Das reicht mir als Gegenmaßnahme. Jedenfalls ist mir eine unzüchtige Gesellschaft lieber als eine unfreie.\"

Mit eiskalten Händen öffnete er die Eingangstür. Wärme, Lärm und Jazzmusik empfingen ihn; die meisten der kleinen Tische waren besetzt. Das \"Mosquito´s\" hatte Tische und Stühle aus Metall, aber Holzboden und eher nostalgisch anmutende Wandlampen; außerdem gab es gelegentlich kleinere Livemusik-Auftritte. Heute hatte man aber dem CD-Player den Vorzug gegeben.
Der Kellner, ein sehniger Kerl mit Mode-Kahlkopf, wünschte einen guten Abend und gab ihm die Karte. Nach einem kurzen Blick auf die Liste der Cocktails fiel Kressing ein, woher ihm der Mann bekannt vorkam. Der \"Tequiera\" war eine Spezialität des Hauses. Barbara hatte ihm, bevor sie das Gemisch zweimal bestellte, noch mit nachsichtigem Lächeln das Wortspiel erklärt - \"Tequila\", \"te quiero\", oder Ähnliches; er konnte kein Spanisch, und mit Französisch haperte es auch.
Erschrocken durch die plötzliche Erinnerung bestellte er kurzerhand ein Pils, trotz des Cocktail-Rabatts. Dienstag Abend war es auch gewesen, als er mit Barbara im \"Mosquito´s\" gewesen war - der Abend, der der Anfang vom Ende war. Damals hatte er sich gefreut, dass eine zweiköpfige Combo da war, mit Saxofon und Piano. Eigentlich viel zu seicht, dachte Kressing jetzt, genau das Gedudel, mit dem in Spielfilmen immer die Sexszenen unterlegt werden. Wie in dem Kinostreifen, den sie sich gemeinsam angesehen hatten, bevor sie auf ein Glas hierhin gekommen waren.

Aber Barbara war begeistert gewesen von der Musik.
Durchaus amüsiert vom Gesehenen hatte Kressing leichthin gemeint, man könne es aber auch übertreiben mit der Bedeutung, die man dem \"partnerschaftlichen Hormonhaushalt\", er erinnerte sich seiner Worte, beimesse. In dem komödienhaften Film war es um das Auf und Ab in einer Liebesbeziehung gegangen mit glücklicher Wiedervereinigung am Schluss; beide Partner hatten zuvor durch diverse Kurse, Seitensprünge und sonstige Maßnahmen hart auf ein erfüllteres Sexualleben hingearbeitet. Kressing fand das Verhalten beider zwanghaft und den Film überhaupt unterhaltsam, aber fern der Realität - \"glücklicherweise\", sagte er und nahm einen Schluck \"Tequiera\". Das Saxophon säuselte zerstreut.
Dann hatte er Barbaras veränderten Gesichtsausdruck bemerkt und sie eilig nach ihrer Meinung zu dem Film gefragt. Doch sie wollte nicht über den Film reden, sondern über sein \"seltsames Verhältnis\" zum Sex in einer Beziehung.
Der kahlköpfige Kellner brachte das Pils. Kressing nahm einen Schluck. Zu spät hatte er gemerkt, dass sie sich mitten in einer Grundsatzdiskussion befanden - und auch dann nicht klüger geredet. \"Sich zu lieben ist das Eine. Aus dem Sex eine Ideologie zu machen, von der das Fortbestehen von Beziehungen abhängig gemacht wird, ist etwas ganz anderes.\" Das Klavier klirrte warnend. Endlich hatte er ernst gesagt: \"Vorgestern sagtest du noch, es macht dir Spaß mit mir. Wenn du mir nicht sagst, wenn etwas nicht in Ordnung ist, kann ich auch nichts machen. Du kannst mir nicht vorwerfen, dass...\" \"Darum geht es überhaupt nicht\", die jetzt offene Wut in ihrer Stimme klang ihm noch in den Ohren, \"ich finde es einfach eine Frechheit, wie du über Sex sprichst. Bitte verlange nicht von mir zu glauben, dass unsere Nächte dir nicht wichtig wären - glaub´ mir, das würde ich merken. Warum weigerst du dich zuzugeben, wie wichtig die Sexualität für Menschen ist?\"
Kressing lenkte ein - oder glaubte das zu tun, als er sagte: \"Das kann ich ja gern zugeben. Mir gefällt es, wenn wir uns lieben, sei dir da sicher. Ich brauche es. Aber was heißt das denn? Es gibt eben auch unsere Triebe, die befriedigt werden müssen. Aber ich schätze, uns würde nicht allzu viel fehlen, wenn wir sie nicht hätten.\" Ab hier konnte er sich an nichts mehr erinnern. Er stellte fest, dass sein Glas schon leer war.
Seitdem hatten sie nicht mehr zusammen geschlafen. Vier Tage später war Barbara ausgezogen.

Er rief den Kellner heran. \"Noch ein Großes\" - zum Teufel mit dem Cocktailtag, er musste jetzt arbeiten. Oder seine Nostalgiewelle betäuben? Er wusste es nicht. Jedenfalls nervte ihn der Laden eigentlich - warum blieb er überhaupt hier? Auf dem Blatt standen schon einige Notizen, die Kressing bereits am Vormittag im Büro und dann zu Hause angefertigt hatte. Er überflog die handgeschriebenen Stichwörter: \"Menschheit hat sich allmählich von sittlichen / religiösen Zwängen gelöst - Moral nun nicht mehr öffentl. aufoktroyiert, sondern individuell - dadurch gerade nicht Beliebigkeit, sondern (mit Grundkonsens als Rahmen) neu gebildete Vorstellungen v. \"Richtig\" u. \"Falsch\" - entscheidend (das hatte er unterstrichen) aber: ohne grundsätzliche Tabus, heute darf man über alles offen reden, keine unberührbaren, peinl. zu verschweigenden Themen o.ä. mehr, unsere natürlichen Bedürfnisse erhalten entsprechendes Gewicht - Freiheit\". Er starrte auf das Geschriebene, zückte den Stift, verbesserte \"aufoktroyiert\", indem er das überflüssige \"auf\" wegstrich - Tautologie, hätte es im Germanistik-Grundkurs geheißen. Barbara wollte ihm nicht aus dem Kopf. So wurde das nie etwas mit seinem Artikel. Er biss sich auf die Lippen. Hier, an diesem Ort, dachte er abschweifend und erbost, war es schließlich gewesen, wo sie ihm einen Strick gedreht hatte daraus, dass er nicht jederzeit Lust hatte, ein Loblied auf den Sex zu singen. Da durchzuckte es ihn - unvermittelt hob er den Stift und ergänzte hinter \"unsere natürlichen Bedürfnisse erhalten entsprechendes Gewicht\" ein \"ja, leider!\".
Das Bier kam, und Kressing nahm eifrig einen Schluck und leckte sich ungeduldig den Schaum von den Lippen - er war jetzt beschäftigt. Der Kuli arbeitete. \"Sex Dauerthema - immer und überall - hemmungslos - längst neue Ersatzreligion\"... Das neue Bierglas war bald schon wieder fast leer. Sein Blick wurde glasig, aber er war sicher, er hatte noch nie so klar gesehen. Ein durchdringender, stolzer Kugelschreiberstrich machte seine bisherige Textplanung hinfällig. Er begann zu schwitzen über die geniale Erkenntnis. Er hatte sich geirrt: Es gab doch noch ein Tabu.

\"Na so was, der einsame Tabulose! Oder sollte ich besser sagen, der Freiheitskämpfer?\" Mühsam sah Kressing auf. Florentine Lange, die Kulturredakteurin, grinste ihn an. \"Was dagegen, wenn ich mich kurz zu dir setze?\" Und schon saß sie auf dem Alu-Stuhl ihm gegenüber. Ihr dunkles Haar trug sie jetzt offen - heute Morgen, Kressing sah sie noch vor sich, hatte eine Haarspange es zusammen gehalten. \"Mal ehrlich\", begann sie leichthin, sah ihn aber unverwandt an, \"damit hätte ich nicht gerechnet, dass du mir mit meinem Themenvorschlag derartig in die Parade fährst. Tut mir Leid, aber ich finde, man sollte die niederen Triebe der Menschen manchmal zügeln. Bist du eigentlich wirklich so begeistert von unserer tollen Spaßgesellschaft?\" Angestrengt entgegnete Kressing: \"Ich bin gerade dabei, meinen Beitrag zu schreiben. Ich schätze, hier werden wir nicht zusammenkommen.\" \"Was meinst du?\", fragte sie.
Der Kellner kam und fragte den neuen Gast nach ihren Wünschen. Er sagte, er komme gleich wieder, als er sah, dass sie gerade erst die Karte zu studieren begann. \"Heute ist Cocktailtag\", sagte Kressing heiser. \"`Tequiera´ kommt von `te quiero´. Das heißt: Ich liebe dich.\" Er merkte erfreut, sie konnte auch kein Spanisch. Sie sah ihn aufmerksam an. \"Wieso kommen wir jetzt hier nicht zusammen?\" \"Ich meine\", allmählich fasste Kressing sich wieder, \"unsere Differenzen zu diesem Thema sind unvereinbar. Ich bin einfach dagegen, jetzt, in unserer toleranten und offenen Zeit, nun quasi neue Dogmen auszurufen. Allmählich gilt es eben als Tugend, den anderen leben zu lassen wie er es möchte - und nicht mehr, ihn in ein moralisches Raster hineinzupressen und ihn zu verdammen, wenn er nicht hinein passt. Allerdings geht es mir bestimmt nicht darum, alle Auswüchse unserer Zeit hoch zu jubeln.\" \"Nenn es Werte oder Dogmen - jedenfalls braucht jede Gesellschaft einen Konsens, dass gewisse Grenzen zu wahren sind. Ja, ich bin für Grenzen, und vor allem bin ich dafür, dass es nicht länger als cool gilt, diese Grenzen zu verletzen\", sagte Lange ernst und fuhr fort: \"Am schlimmsten ist diese idiotische Promiskuität.\" Kressing sah sie etwas verwundert an. Sie erklärte: \"Sex muss man ja heute für das Wichtigste im Leben halten. Diese zwanghaften Dauergeilen - möglichst einfallsreiche Methoden mit möglichst vielen Partnern. Man muss sich ja schon fast entschuldigen, wenn man es nicht ständig braucht. Wenn wir neue - oder alte - Werte brauchen, dann ja wohl dort.\" Kressing schluckte. Irgendwie kam ihm das fatal bekannt vor. \"Nein, Gerhard, Freiheit in allen Ehren. Aber du kannst es auch übertreiben.\" Stotternd brach es aus ihm hervor: \"Florentine, es wäre sehr nett, wenn du dir meinen Entwurf anhören würdest. Aber vielleicht besser nicht hier.\" Sie hob die Brauen.

\"Als am 26. 8. 1789 die französische Nationalversammlung die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte annahm, mögen die Beteiligten überzeugt gewesen sein, nun breche eine neue Zeit an. In der darauf folgenden Geschichte, dieser Eindruck drängt sich auf, überwog die Missachtung dieser hehren Ideale. Andererseits sind Fortschritte nicht zu leugnen. Meinungs- und Gewissensfreiheit sind in den Verfassungen der meisten großen Nationen verankert. Doch offenbar ist der Mensch erfinderisch darin, sich immer wieder neue Zwänge aufzuerlegen. Haben staatliche und sittlich-religiöse Machtstrukturen ihren Absolutheitsanspruch inzwischen eingebüßt, so ist es im Kleinen heute die Erotomanie, die unser Handeln bestimmt.
Wie bei jedem Tabu wird auch die Verletzung dieses neuzeitlichen Universalprinzips empfindlich, zuweilen existenziell, geahndet: Heutzutage Sexualität für eine eher uninteressante Notwendigkeit zu halten, kommt einem gesellschaftlichen wie partnerschaftlichen Selbstmord gleich. Wieder gibt es eine sexuelle Ausrichtung, die allgemein geächtet ist: die Unlust - und alles, was danach aussieht. Niemand verweigert heute ungestraft dem Idol Sex die ihm gebührenden Opfer. Der Autor spricht aus Erfahrung.
Wirklich liberal ist eine Gesellschaft aber erst dann, wenn sie sich von Zwänge ausübenden Denkschemata befreit. Wenn sie sich der Verabsolutierung von Weltbildern jeglicher Art widersetzt. Wohlgemerkt: Nicht etwa die Sorge um die körperliche Zufriedenstellung des Partners ist es, die aufgegeben werden sollte. Sondern das Dogma des Körperlichkeits-Kultes, das ungeschriebene Gebot, die sexuellen als die überhaupt eigentlichen Höhepunkte ansehen zu müssen - Höhepunkte der Liebe, des Lebens gar. Freiheit ist immer auch die Freiheit zum Verzicht. Liberté statt Libidismus - den wackeren Streitern von 1789 hätte es vermutlich gefallen.\"

Kressing räusperte sich.
\"Gerd\" - er hatte befürchtet, sie würde ihn doch nicht verstehen, aber spöttisch klang ihre Stimme gar nicht - \"bist du dir sicher, dass du das meinst?\" Sie saßen in seiner Wohnung auf dem Sofa. \"Naja\", sagte er, \"vielleicht hast du ja Recht - mit manchen Tabus lässt es sich ganz gut leben.\" \"Nein, nein\", tadelte sie ihn, \"ganz anders: Tabus sind dazu da, gebrochen zu werden.\" Zärtlich umspielten seine Hände ihre Hüften: \"Du weißt, ich bin für die Freiheit, zu verzichten, worauf man will. Aber zu viel Freiheit ist auch langweilig.\" \"Wie kannst du das nur sagen\", versetzte sie zwischen zwei Küssen, \"für jede einmal errungene Freiheit muss man kämpfen. Du weißt, ich bin für die Zügelung der Triebe. Aber manchmal ist es doch viel schöner, sich treiben zu lassen.\"
 



 
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