Das letzte Tagebuch

Hallo!
Dies hier ist ein eher experimentelles Projekt von mir, eine Erzählung aus der Zeit der russischen Revolution in fünf Teilen. Dies ist der erste Teil. Es wäre nett, wenn ihr mir einfach schreibt, was ich verbessern oder umschreiben sollte!




Der Anfang: Von einer Geburtstagsfeier nach Rußland bis hin zum Tod



Mein Mann ist Soldat, an der Front. Ich muss der Wahrheit halber sagen, er war Soldat, an der Front, denn in der Zwischenzeit muss er wohl gestorben sein. Heute ist mein 122. Geburtstag. Es ist der erste Geburtstag seit 95 Jahren, den ich feiere. Es ist schon seltsam, Geburtstag zu feiern, ich habe es meinen Urenkeln zu verdanken, heute hier zu sein, unter ihnen. Es sind viele gekommen. Ich sehe sie ganz gern, wie sie durch das Haus laufen, die meisten in flotten Anzügen oder leichten Kleidern, denn es ist warm draußen, und ein festlicher Anlas. Verzeihen Sie einer alten Frau diese Gedankensprünge, ich erzähle eben so, wie ich denke, Sie brauchen es ja nicht so aufzuschreiben. Insgesamt sind fast dreißig hergekommen, obwohl nicht alle wirklich mit mir verwandt sind. Ganz in der Nähe sehe ich gerade meinen Enkel, Gott, er ist auch schon alt geworden in der ganzen Zeit, in der ich nicht mal wußte, dass es ihn gab, seine Haut ist faltig und er verliert immer mehr und mehr seiner grauen Haare. Aber seine Augen sind immer noch dieselben, sie erinnern mich an meinen ältesten Sohn – wenn mein Enkel doch wüsste, wie ähnlich sich diese Augen sind!
Wenn ich mich so umsehe, denke ich, ist ein schönes Haus, was er da hat, es gibt weder Ratten noch Läuse. Dreck und Rauch gibt es auch nicht. Das Dach ist dicht und die Wände halten die Wärme. Doch es ist mir irgendwie fremd, nach 95 Jahren einen Geburtstag in diesem Haus zu feiern, dass sich so sehr von dem unterscheidet, in dem ich die vorigen gefeiert habe. Ich kann mich noch erinnern wie wir damals in Russland mit dem alten, klapprigen Kohlenofen geheizt haben. Ich weiß noch, wie wir davorgehockt haben, vor mehr als 95 Jahren, vor einer Ewigkeit, und ein bißchen Wärme haben wir noch gerade vom Ofen erhaschen können, den Rest mussten wir selber liefern. Das war in Russland, vor einer Ewigkeit. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber schreiben Sie es doch anders auf, interessanter. Aber das wollen Sie ja nicht, weil Ihnen aufgetragen wurde, schreiben sie einen Bericht über Erlebtes.
Na ja, jetzt wohnen sie alle irgendwo in der Welt, diese neuen Generationen, die mich nur noch einen Geburtstag feiern lassen, nach 95 Jahren, damit ich erzähle, wie es war. Mein Enkel, bei dem wir zu Gast sind, wohnt in Deutschland, andere in Amerika, in Frankreich, Polen oder sonstwo. Ich kann mir die ganzen Namen der Länder, die ich nicht einmal auf einer Landkarte jemals gesehen habe, einfach nicht merken. Außerdem sind da noch diese komischen Namen, unter denen ich mir nichts vorstellen kann, Bundesrepublik, Vereinigte Staaten oder Sowjetunion. Ich habe irgendwann aufgehört, die Ereignisse zu betrachten, weil es langweilig wird. Hier ein neuer Krieg, da ein Friedensschluß und überall seltsame Wörter wie NATO, EU, ESA, Dax und Dow Jones, wovon alle reden, und „Mir“ ist jetzt eine Raumstation, was immer das heißen mag.
Es sind nicht viele in Russland geblieben, von meinen, nicht viele. Obwohl es eigentlich ganz schön war, damals, als mein Mann noch da war, doch der ist ja an der Front, wahrscheinlich ist er da geblieben, genau weiß das keiner, wen hat es denn schon interessiert, welcher von de einfachen Soldaten wann und wo liegengeblieben ist. Den Zar bestimmt nicht. Obwohl er gar nicht so schlecht war, er sah sogar gut aus, als er gekrönt wurde, das ist auch schon ewig her. Das war noch ein Tag voller Freude, und alle haben gejubelt, fast so, wie sie gejubelt haben wenn dieser Typ mit Namen Hitler seine Reden beendet hat. Aber das ist nicht zu vergleichen, denn unser Zar war doch irgendwie noch was besseres als dieser Hitler, sonst wäre ich wohl kaum damals in die Stadt gekommen, nach St. Petersburg. Ich war nämlich sogar da, als der Zar gekrönt wurde, ich habe ihn sogar gesehen. Wir haben uns gefreut, wie die Kinder haben wir gelacht, mein Mann und ich, zumal ich ha schon wieder schwanger war, mit meiner Tochter. Genau kann ich gar nicht sagen, wo die nachher gelandet ist. Ach, verzeihen Sie doch einer alten Frau ihre Träumereien.
Damals war es wenigstens noch ein Leben. Wir hatten zwar nicht viel zu essen aber es reichte, und der Zar hatte ja versprochen, sich um sein Volk zu kümmern. Also weshalb sollten wir uns Sorgen machen? Das mit den Japanern ist dann dazwischen gekommen. Und mein Mann mußte in den Krieg, gegen diese unverschämten Schlitzaugen, die es wagten, den Zar, den Vertreter Gottes, anzugreifen. Hoffentlich hat er viele von diesen über die Klinge springen lassen, mein Mann, bevor er liegengeblieben ist.
Es war ziemlich kalt, zu der Zeit, sehr, sehr kalt, und wir hatten sehr wenig zu essen, obwohl ich doch inzwischen fünf Kinder hatte, für die ich sorgen mußte. Wir haben uns dann mit anderen Frauen zusammengetan, so dass immer eine auf die kleineren Kinder achtgab. So konnten nämlich die anderen arbeiten und den Männern helfen, sofern die nicht Soldat waren, so wie mein Mann, und an der Front. Das Geld haben wir immer geteilt, wenn wir was bekamen, wir hatten halt nicht viel, aber es ging so gerade. Wir kümmerten uns auch um die Kinder von einer anderen aus der Gemeinschaft, die irgendwann gestorben war. Die waren inzwischen alt genug, um zu helfen, genau wie mein großer Sohn, der einem der Männer half, den er Onkel Jakob nannte. Onkel Jakob hatte seinen einen Arm verloren.
Das war noch eine Zeit, sage ich Ihnen. Es war immer dreckig und kalt, und wir hatten Hunger und Angst vor der Grippe, die jedes Jahr mehr Tote brachte, und die kleineren Kinder hatten die Windpocken.
Dann kamen die Männer des Zaren und holten noch mehr weg von der Ernte, für den Krieg, haben sie gesagt, für den Krieg. Damit Russland ein Bär bleibt. Als dann wieder wurde, hatten wir nicht mal mehr genug Kohle. Erst nach der Arbeit durften wir ein Stück auflegen. Sowas wie Isolierung gab es da nicht, so Styropor und Glaswolle oder wie man das heute nennt. Später durften wir dann sogar nur noch am Sonntag die Kohle auflegen. Wir haben fünf Röcke übereinander getragen, aber so richtig warm wurde es nicht. Im Dezember sind schon drei erfroren und der Januar wollte kein bißchen wärmer werden. Und wir waren es satt.
Wir hatten es satt, zu frieren, wir hatten den Krieg satt, die Kälte und den Hunger.
Es war dieser Priester, der die Idee hatte, aber von dem haben wir es nicht gehört. Die Kunde verbreitete sich zunächst nur in St. Petersburg. Aber die, die in die Stadt fuhren, hörten es auch und, weil es so etwas besonderes war und sie außerdem damit übereinstimmten, vergaßen sie es auf dem Rückweg nicht wieder. Auf jeden Fall haben wir auf dem Land es dann auch gehört, was der Priester gesagt hat, und die Männer hielten das für eine hervorragende Idee. Wir alle haben gedacht, dieser Priester, der hat verdammt gute Ideen. Wieso auch nicht? Schließlich, das müssen Sie wissen, war der Zar ja auch mehr als nur der König. Er war auch der höchste in der Kirche, er war Vertreter für Gott, was er sagte, war Gottes Wort. Gott selbst hatte dem Zar doch den Auftrag erteilt, auf sein Volk zu achten. Auf jeden Fall, weil Sie mich drängen, zum Punkt zu kommen, meinte der Priester, wir, also das Volk, sollten feierlich zu ihm ziehen, zum Zaren gehen und ihn um Hilfe bitten. Gott hatte ihn eingesetzt, und wie konnte Gott jemanden zurückweisen, der um Hilfe bittet. Und weil das Volk ihn schätzte und an ihn glaubte, wollten wir die Bilder des Zaren mitnehmen, ein Glücksbringer, aber auch eine Ikone und Bild für Gott. Nun, der Zar würde nichts anderes tun können, als uns zuzuhören, wenn wir ihm zeigten, dass wir ihn verehrten, wie es ihm gebührte.
Am 9. Januar sind die Männer dann losgezogen, ganz früh morgens, damit sie rechtzeitig da waren. Der Jakob hat sogar meinem Ältesten erlaubt, mitzugehen. Ich seh ihn noch vor mir, gerade mal zehn geworden, so dünn, dass man seine Rippen zählen konnte. Über den dicken Pullovern trug er den viel zu großen Mantel, den wir draußen im Wald gefunden hatten. Ein Holzfällerjunge hatte ihn getragen, aber weder der Mantel noch die dicke Jacke und die Pullover darunter hatten ihm vorm Erfrieren bewahrt. Uns war das ziemlich egal, die Pullover trugen jetzt die beiden Jungs von nebenan, die Stiefel hatte sich die Alte gekrallt, die immer auf dem Feld arbeitet, seit ihr Mann tot ist, und mein Junge hatte halt den Mantel, in dem sein dürrer, schmächtiger Leib versank. Und dann die Mütze, die ihm fast in die Augen rutschte! Aber stolz war er, stolz war er wirklich, dass er mitgehen durfte, und er hielt sein Schild mit dem Bild des Zaren ganz hoch. Es war noch dunkel, so früh sind sie aufgebrochen und ich hab ihnen durch den wehenden Schnee nachgesehen, vor allem meinem großen Sohn, wie er voller Stolz durch den Schnee stapfte mit dem Zarenbild. Ich hab es nie vergessen.
Viele müssen es gewesen sein, viel mehr, als sich der Priester erhofft hatte. Ich bin nicht dabeigewesen, jedenfalls nicht von Anfang an. Ich bin ja zu Hause geblieben. Ich wollte erst die Arbeit erledigen. Wir mussten die Stoffe nähen, die wir später verkaufen wollten. Aber irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl, und so bin ich zusammen mit einer anderen Frau so um Mittag rum, wo es wärmer war, losgegangen, nach Petersburg.
Es fing wieder an zu schneien, nicht so heftig wie noch vor ein paar Tagen, aber ein bißchen halt, und es wehte ein ziemlich kalter Wind. Wir sind erst ziemlich spät in der Stadt angekommen, ist schon fast dunkel gewesen. Als wir das Armenviertel durchquert haben, haben wir die Bettlerin gefunden, die lag halbtot auf der Straße. Sie röchelte und hustete schrecklich, wahrscheinlich hatte sie die Grippe. Die machte es nicht mehr lange. Das wußten wir beide, die andere Frau und ich. Die wär sowieso bald gestorben. Also haben wir ihr die paar Münzen abgenommen und einen harten Kanten Brot, außerdem den lumpigen Mantel und das verdreckte Halstuch. Es stimmt, ethisch korrekt ist es nicht, eine Sterbende zu bestehlen, aber sehen wir das mal so: Hätten wir es nicht getan, wäre der Nächste der Glückliche gewesen. Und ich hatte den wärmenden Mantel lieber um die Schultern als das ich ihn für irgendeinen anderen liegenließ. Außerdem, sie wäre sowieso bald gestorben. Darum haben wir uns sowieso wenig gekümmert. Wenn einer tot war, braucht der ja nichts mehr, also ist es so, als hätte man alles, was der noch besaß, auf der Straße gefunden. So wie bei dem Holzfällerjungen im Wald.
Die Stadt war wie leergefegt. Klar, haben wir uns gedacht, sind doch alle mitgegangen, zum Zaren, was sollen sie denn auch sonst tun. Und als wir durch das Viertel der Reichen Leute gingen, das genauso leer war wie der Rest der Stadt, haben wir so getan, als gäbe es uns gar nicht. Muss wohl Gewohnheit gewesen sein, dass wir uns in den Schatten versteckten. Entdeckte nämlich die Wache unsereiner in diesem Viertel, so brachten sie sie in die Kellerlöcher, die sie Gefängnis nannten, wo es feucht, dunkel und kalt war. Drum, dass wir uns versteckten, hat uns auch die Patrouille, die in scharfem Tempo vorbeigeritten kam, wohl nicht gesehen. Heute denke ich oft, hätten sie uns doch gesehen, hätten wir uns doch nicht versteckt, wie wir es aber nunmal immer taten, dann hätten sie uns gesehen, und wir wären früher gestorben. Damals, 1905, waren wir aber froh, dass sie uns nicht sahen, und beeilten uns, weiterzukommen, zum Winterpalast. Dabei sind wir an einem großen Haus vorbeigekommen, einem Theater oder Ballhaus oder sowas. Daraus konnten wir Musik hören, fröhliche Musik, und das Geräusch von vielen eleganten Schuhen, die zu der Musik tanzten. Stimmen waren auch da, die Stimmen von Reichen, die lachten und sangen. Uns ist ganz heiß geworden, als wir den Geruch wahrgenommen haben, nach frischem Braten und warmem Brot. Sofort spürten wir wieder, dass wir Hunger hatten, ziemlich logisch eigentlich, wenn man es aus der Distanz von 95 Jahren betrachtet, denn seit Tagen hatten wir kaum etwas nahrhaftes gegessen, außer ein paar Wurzeln und dem letzten, zähen Dörrfleisch vom letzten Winter, dass in etwas so schmeckte wie Leder. In dem Moment haben wir diese Leute gehasst, haben sie gehasst für ihre Feier und für ihr Essen und dafür, dass wir hier draußen waren, wo es eiskalt war und dafür, dass wir nicht mal mehr Kohle hatten, um zu heizen. Und es war ein tiefer, verwurzelter Haß, der später nur noch schlimmer wurde. Ich dachte an den erfrorenen Jungen im Wald, und daran, dass wir gezwungen waren, einer Bettlerin am Straßenrand ihr letztes Hab und Gut zu rauben, und ich wußte, die da drin waren schuld daran, dass sie tot waren. Sie und der verdammte Zar! Nein nein, das nicht, nein, wie konnte ich den Zar beschuldigen? Welch schändlicher Gedanke, welche Sünde, und ich musste an die Münzen denken, die es mich kosten würde, diese Sünde in der Kirche von mir zu nehmen. Der Zar war göttlich. Wie konnte dich wohl behaupten, dass Gott schuld wäre? Das konnte man einfach nicht sagen. Aber es war durchaus möglich, dass Gott einfach nicht wußte, wie wir hier leben mussten. Ja, genau, woher sollte er das auch wissen, denn sein Vertreter saß ja nur im Winterpalast, also, woher sollte er es wissen, wenn es ihm doch keiner sagte. Aber genau deshalb waren sie ja losgezogen. Denn der Zar war die Vertretung für Gott, modern gesprochen sowas wie ein Vizegott, also mussten wir ihm sagen, wie schlecht es uns ging, und dann konnte auch Gott uns helfen. Mit Gottes Hilfe würde der Zar alles besser machen. Da musste ich wieder an meinen großen Sohn denken, und ich sah ihn vor mir in dem viel zu großen Mantel und der Mütze, die ihm ins Gesicht rutschte und dann das Zarenbild, dass er vor seiner Brust hielt, voller Stolz, wie einer mit einer Mission, voller Stolz, voller Stolz. Und wir erreichten den Platz vor dem Winterpalast.

Das Zarenbild hielt er noch immer vor seiner Brust. Ich erinnere mich noch genau an das Bild, auf dem der Zar so elegant aussah, so voller Würde und Stärke, obwohl es nur schwarzweiß war, nicht so , wie die Bilder heutzutage, die einfach aus der Kamera kommen und bunt sind. Obwohl es nur schwarzweiß war, war jetzt Farbe über das elegante Zarengesicht gelaufen. Es war jetzt fast völlig dunkelrot beschmiert, und das war nicht nur das Gesicht des Zaren, sondern auch das Gesicht meines Sohnes, das darunter ganz bleich war.
Ich hatte schon so viele Tote gesehen. Ich hatte schon Blut gesehen und auch den Blick, der leer irgendwohin starrt. Mein Sohn starrte zum Himmel. Das war gut, dachte ich, dann kann seine Seele hinaufsteigen, wie die Priester das immer sagten. Ich hatte schon so viele Tote gesehen, aber ich glaubte es erst, als ich sah, dass der Mantel weg war und auch die Mütze und die Schuhe. Da wußte ich, dass mein zehnjähriger Sohn nicht mehr da war. So wie mein Mann, der Soldat ist, an der Front. So oft, wie ich den Tod schon gesehen hatte, dachte ich, ich hätte mich dran gewöhnt. Aber man gewöhnt sich nicht daran, man kann sich nicht an das Sterben gewöhnen, man kann es vielleicht als alltäglich betrachten, aber es gibt niemanden, der sich daran gewöhnen kann, an all das Blut und den starren, leeren Blick und an die Kälte der Haut. Es kann doch keinen Menschen geben, der den Tod zur Gewohnheit macht und nichts mehr dabei empfindet. Irgendetwas schreit in einem auf. Manche empfinden Trauer und Liebe gleichzeitig, wie ich, und es zerreißt sie innerlich. Manche empfinden es als gerecht, fühlen sich von Gott belohnt, wenn sie den Tod gebracht haben. Manche empfinden einfach nur Macht. Der Kommandant, der den Befehl gegeben hat, empfand nur Macht, göttliche Macht, über Leben und Tod zu entscheiden. Die Soldaten, die gehorchten, empfanden, das Richtige zu tun, für Gott, den Zar und den Kommandant, und sie wussten, sie würden dafür belohnt werden. Die Soldaten, die eine weinende, zerlumpte Frau fanden, die ihren toten Sohn in ihren Armen wiegte und seinen Körper klagend gen Himmel hob. Die Soldaten, die mich erschossen.
Verzeihen sie mir, ich vergaß, es zuvor zu erwähnen. Wußten sie nicht, dass ich tot bin? Dann haben sie geglaubt, ich sei wirklich 122 Jahre alt und hätte all die Toten überlebt? Ich bin am Blutsonntag gestorben. Ich wurde erschossen, von den Soldaten, die auf Patrouille waren, an dem Abend, vor dem ihre Kameraden einfach in die Menge gefeuert hatten, auf Befehl eines Kommandanten, der meinte, sie wollten den Zaren angreifen. Den Zaren angreifen? Was für ein Irrsinn! Niemand hätte ihn angegriffen, er war fast wie Gott, wie der Pharao für die Ägypter oder Caesar bei den Römern! Ich bin seit 95 Jahren tot, und heute, an meinem 122. Geburtstag, haben mich meine Urenkel wieder zum Leben erweckt, damit ich es Ihnen erzähle. Oh, Sie sagen jetzt sicher, was soll das? Sie wollten einen Bericht über die Revolution, und ich bin nicht einmal über Blutsonntag hinausgekommen. Sie haben geschrieben und geschrieben, weil Sie diese Aufgabe erfüllen wollten, und jetzt ist die Person, die die Revolution erzählen sollte, schon am Blutsonntag gestorben, ein paar Jahre zu früh. Meine Urenkel haben mich aber nicht wieder zum Leben erweckt, damit ich nur erzähle, was ich erlebt habe. Sie haben mich erweckt, damit ich diesen Bericht erzählen kann, einen ganz besonderen Bericht, den Sie übrigens die ganze Zeit aufschreiben.
Es hatte etwas mit den Seelen zu tun, wie die Priester sagten, und die meines Sohnes war mit seinem Blick in den Himmel hinaufgegangen. Aber als ich erschossen wurde, da ruhte mein Blick nicht auf dem Himmel, sondern tief in den starren Augen meines Ältesten. Und meine Seele wanderte, nicht in den Himmel, sie blieb auf der Erde, und letztlich verweilte sie in meine vier anderen Kindern. Das ist das besondere an diesem Bericht, und das ist es auch, was Sie, die Sie die Worte schreiben, dazu treibt, sie weiter zu schreiben. Es ist der Bericht einer Toten, die die Revolution erlebt, durch die Augen ihrer Kinder.
 



 
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