Das letzte Tagebuch (Natascha)

1. Natascha : Die pflichtbewusste, älteste Tochter, die die Familie versorgen musste



Von meinem Tod hatte Natascha nicht viel mitbekommen. Am Blutsonntag war sie neun, und alles, was sie bemerkte, war, dass weder ihr Bruder noch Onkel Jakob noch ihre Mutter nach Hause zurückkehrten. Sie war ein kluges Kind, und konnte sich denken, was passiert war. Sie hatte schon viele Tote gesehen, zumeist Erfrorene und so erwähnte sie den anderen unserer Dorfgemeinschaft gegenüber nur, der Winter hätte ihre Mutter und ihren Bruder geholt. Da niemand einsah, wieso das Kind die Wahrheit erfahren sollte, ließen die anderen Frauen sie in diesem Glauben. Wahrscheinlich wussten nicht einmal sie genau, was passiert war. Nachrichten aus der Stadt drangen nur selten bis aufs Land, vor allem, da der Winter in diesem Jahr gar nicht nachlassen wollte. Zudem schienen der Zar und das Militär nicht besonders geneigt, jedem Auskunft zu erteilen. Man hörte sogar, dass einige, die den Tod der Arbeiter am Blutsonntag als ein Sterben für das Vaterland ansahen, plötzlich und unversehens von der Bildfläche verschwanden, ebenso erging es jenen, die Revolutionsgedanken schmiedeten oder auch nur ein verächtliches Wort über den Zaren fallen ließen.
Dadurch, das auf dem Land niemand so richtig wußte, was eigentlich los war, lebten die Menschen dort in einer seltsamen Art von Frieden, denn sie wurden von niemandem behelligt. Dieser Frieden durch Unwissenheit hielt sich standhaft dank eines Krieges gegen den Hunger. Die Leute auf dem Land wollten nicht die aus der Stadt ernähren müssen, die aus der Stadt fürchteten sich vor den Krankheiten, die auf dem Lande kursierten. Es entstand eine unsichtbare Barriere zwischen den wissenden Städtern und den in der Vergangenheit lebenden Bauern. Unsere Gemeinschaft war da schon etwas fortschrittlicher, es war immerhin kein richtiges Feudalsystem mehr, da die Familie des Gutsherren, dem das Land gehört hatte, vor einiger Zeit einer schweren Krankheit erlag, und der einzige Erbe, ein Neffe des Gutsherren, irgendwo in den Wirren des Krieges abhanden gekommen war. Wir benutzten alles gemeinsam und wir teilten uns die Erträge der Felder. Es war eine Überlebensstrategie, denn durch unser Teilen blieben mehr am Leben, die das Land neu bestellen konnten. Vor allem für die Kinder wurde gesorgt. Hätte Karl Marx uns gekannt, hätte er uns vielleicht als ein Beispiel für ein kommunistisches Zusammenleben bezeichnet.
Natascha lebte friedlich in unserer kleinen Gemeinschaft, erledigte die Arbeiten, die ihr zugeteilt wurden und fand ihre größte Aufgabe darin, für ihre Geschwister zu sorgen. Sie genoß die Ruhe des Landes, obwohl Hunger und Armut ihr zu schaffen machte. Erst 1914 begann ihr Leben aus den Fugen zu geraten.
Sie war 18, als die Soldaten kamen, und die jungen Männer für den Krieg abholten. Natascha war verliebt, in einen Jungen namens Dimitri, der auch vom Land kam und den sie heiraten wollte. Dimitri war jedoch genau so arm wie sie, und Natascha wußte, es war ihre Pflicht, jemanden zu heiraten, der ihre Familie versorgen konnte. Als die Soldaten kamen, haben sie ihn mitgenommen. Aus dem Krieg schrieb er ihr oft lange Briefe, die sie nie erreichten, und auch der letzte, in dem er schrieb, dass die Deutschen ihre Stellung beinahe umzingelt hatten und er den Tod fürchten müsse, fiel vom Blut durchtränkt zu Boden, wo der Stiefel eines deutschen Soldaten ihn im Schlamm verschwinden ließ.
Natascha dachte noch lange an Dimitri, am meisten wahrscheinlich an dem Tag, an dem sie sich mit einem Mann verheiraten ließ, der in der Stadt lebte und über ein kleines aber gutgehendes Gewerbe verfügte, das Kochtöpfe, Pfannen, Teller und Becher aus Weißblech herstellte. Sie heiratete ihn zwei Wochen, nachdem Dimitri gegangen war, obwohl sie Pietrow, ihren Mann, nicht sonderlich mochte. Aber er versprach, für ihre Geschwister zu sorgen, was bedeutete, dass die zwei jüngeren Brüder, damals elf und dreizehn Jahre alt, in seiner Fabrik schufteten, während Nataschas Schwester, gerade mal sechzehn geworden, seinen Freunden und Geschäftspartnern gefügig war, wo durch Pietrow das ein oder andere Geld etwas leichter verdiente. Alles in allem verachtete Natascha ihren Mann schon nach ein paar Wochen, sie sah aber keine Möglichkeit, sich von ihm zu lösen, zumal er sein Gewerbe auf Waffen und Schießpulver umstellte, und durch den 1. Weltkrieg immer weiteren Gewinn machte und zusätzlich noch vom Zaren begünstigt wurde. Oft gab es Streit mit ihren Geschwistern, die lieber auf dem Land geblieben wären. Doch gewann Pietrow die Jungen für sich, indem er ihnen versprach, sie nicht in den Krieg zu lassen, da er sie hier an den Maschinen brauche. Er selber war als Krüppel aus dem Krieg gegen die Japaner zurückgekehrt, und er genoß das Mitleid, dass ihm andere entgegenbrachten.
Er mochte große Festlichkeiten in den Ballhäusern, er mochte die dekadente, reiche Gesellschaft, unter die er sich gerne mischte, und er genoß es, die Töchter reicher Eltern zu verführen, während seine Frau schwanger war und zu Hause auf ihn wartete. Pietrow interessierte sich weder für Hunger noch Armut, beides existierte in seiner Welt nicht. Er buhlte um die Gunst des Zaren und Natascha hätte sich nicht gewundert zu erfahren, dass er bei der Niederschlagung kleinerer Aufstände seine Hände im Spiel hatte. Für ihn war sie nicht mehr als eine zusätzliche Arbeitskraft, genau wie ihre Geschwister, die noch dazu äußerst billig war.
Pietrow war aber auch ein Mann, der für alle Fälle vorausplante. Wahrscheinlich war das auch der einzige Grund, warum er Natascha und ihre Familie in sein Haus geholt hatte. Er hoffte, das System würde so bestehenbleiben, wie es war, er mochte den Zaren, und er machte Gewinn. Trotzdem sah er auch, dass im Volk Unzufriedenheit herrschte, er bemerkte, dass in der Stadt immer mehr Wachen patrouillieren mussten, um die Sicherheit zu gewährleisten. Und er hatte für den Fall vorausgeplant, dass es dem Volk tatsächlich gelang, das System zu stürzen. Natürlich war er ein reicher Mann, aber er würde sich als überzeugter Sozialist ausgeben. Das würde sogar glaubwürdig erscheinen, weil er eine Frau und ihre Geschwister aufweisen konnte, die er aus der Armut gerettet hatte. Er fürchtete den Tag, aber wie gesagt, Pietrow war ein Mann, der auf alle Fälle vorbereitet sein musste. Natascha wusste, dass ihm eine Sache am meisten zu schaffen machte, nämlich die Duma, die der Zar 1905 als ein frei gewähltes Parlament eingerichtet hatte. Zu Pietrows Freude hatte der Zar dieses gut unter Kontrolle, das Zensuswahlrecht und die Legitimation, es jeder Zeit auflösen zu können, halfen ihm dabei. Trotzdem: Nataschas Ehemann gefiel es nicht. Er mochte die Parlamentarier nicht, seiner Meinung nach unterstützten sie doch zu sehr das Volk. Es gab zu viele Sozialdemokraten und andere sozialistische Parteien und Pietrow fürchtete, sie könnten einmal den Zar stürzen, sogar beinahe legal, da sie ihr Mandat als Volksvertreter trugen.
Der erste Weltkrieg zog ohne größere Probleme an Natascha vorbei, es interessierte sie wenig, was in Deutschland passierte, sie hatte sich um ihre kleine Tochter zu kümmern, die sie im Januar 1916 zur Welt gebracht hatte. Das Erzählenswerte ihres Lebens begann erst an dem Tag, an dem die Revolution begann, am 27.2.1917.

Vor zwei Tagen waren sämtliche Arbeiter aus Pietrows Werk in den Generalstreik getreten, und weder Natascha noch ihre Geschwister sahen einen Sinn darin, weiter zu arbeiten. Sie hatten sich in das Fabrikgebäude zurückgezogen, dass ausgestorben vor ihnen lag. Sie saßen die meiste Zeit auf dem Boden, aßen Brot, welches sie zuvor in Massen gekauft hatten, um über den harten Winter zu kommen. Außerdem spielten sie die unterschiedlichsten Kartenspiele, und es sah beinahe so aus, als hätte die Familie einmal wieder zusammengefunden.
Am 27. Februar allerdings hatten sie es gründlich satt, sich in den leeren Hallen zu verbergen, nur weil sie sich als Familie eines Fabrikbesitzers nicht unter den Streikenden sehen lassen durften. Obwohl Pietrow ihnen strikt untersagt hatte, auf die Straße zu gehen, machten sich die beiden Jungen am frühen Morgen auf, und schlossen sich den Demonstranten an. Natascha und ihre Schwester blieben zurück.
Sie saßen eine lange Zeit schweigend nebeneinander, bis Natascha das Wort ergriff, und sich bei ihrer Schwester entschuldigte für das Unrecht, das Pietrow über sie gebracht hatte. Uljana antwortete zögernd, sie habe es nur gut gemeint, vermutlich wäre die Familie ohne sie auf dem Land spätestens in diesem Winter verhungert. Sie spürten beide die Mauer zwischen ihnen, und Natascha fragte sich, warum zwischen ihnen eine solche Distanz entstanden war. Sie konnte es nicht genau sagen. Aber es hatte sicherlich mit Pietrow zu tun, der sie alle letztlich nur benutzt hatte.
„Was glaubst du, ob sie es diesmal schaffen?“ fragte Uljana. Natascha mußte zugeben, dass sie sich nicht sonderlich um die Streiks und Aufstände gekümmert hatte, geschweige denn, an die Möglichkeit einer Revolution gedacht jemals gedacht hatte. Ihre Schwester erklärte sie für naiv und warf ihr vor, die lasse sich zu sehr von ihrem Ehemann beeinflussen, der doch immer nur versuche, Kapital zu schlagen. „Mutter und viele andere haben es damals versucht, und sie sind dafür gestorben, und jetzt sagst du mir, dass dich alles kalt läßt, wofür sie gekämpft haben?“ Natascha dachte darüber nach und erwähnte dann etwas zögerlich, dass am Blutsonntag niemand gekämpft hatte. „Eben“, meinte Uljana darauf, „Die haben sie einfach abgeschlachtet, und wir haben uns das gefallen lassen.“ Von der Straße drangen jetzt Stimmen herein, die lautstark Parolen und Sprechverse im Chor sangen. „Sie reden von Demokratie“, sagte Natascha, „das hört sich gut an.“ Uljana wischte das mit einer Handbewegung weg. Es nur zu hören sei zu wenig, meinte sie, während sie sich erhob, man müsse es fühlen. Bevor Natascha sie aufhalten konnte, war sie durch das Tor nach draußen geschlüpft und hatte sich unter die Menge gemischt. Ihre Schwester hingegen dachte weiter über die Demokratie nach. Sie kam zu dem Schluß, dass ihre Mutter mit Sicherheit dafür gekämpft hätte. Außerdem entschloss sie sich dazu, auch etwas dazu beizutragen. Aber da gab es noch Pietrow, den sie mehr fürchtete als alles andere. Wenn sie wirklich kämpfen wollte, musste sie dort anfangen.
Mitten in ihre Gedanken drangen die Schüsse von der Straße. Sie hörte Schreie und weitere Schüsse. Natascha sprang auf. Sie lief zu einem der winzigen Fenster. Durch das milchige Glas spähte sie nach draußen. Was sie sah, war erschreckend. Etwas weiter die Straße runter befand sich ein Demonstrationszug aus Arbeiter, der jetzt in alle Richtungen auseinanderstob. Aus einer Seitenstraße kamen die Schüsse. Natascha konnte gerade einen Blick auf einen Gewehrlauf und einen uniformierten Arm erhaschen. Sie musste irgendetwas tun. Sie dachte wieder an Blutsonntag, und an Tiejka, ihre Mutter, die genau so gestorben war. Natascha rannte zum großen, schweren Schiebetor der Fabrikhalle, dass aus Eisen bestand und sich kaum von der Stelle bewegte. Die junge Frau mußte all ihre Kraft aufbringen, um das Tor etwa einen Meter aufzuschieben. Sie trat auf die Straße, winkte heftig und schrie den rennenden Demonstranten zu, herzukommen. Einige hörten auf ihren Ruf, und weitere folgten ihnen. Viele erreichten keuchend das Tor, sprinteten in die leere Fabrikhalle und waren glücklich, in Sicherheit zu sein. Andere dachten weiter und halfen Natascha, das Tor noch weiter zu öffnen, um mehr Leute aufnehmen zu können. Immer mehr strömten in die Halle, drängten sich gegenseitig zur Seite, nur um sich selbst zu retten. Die Schüsse und die Soldaten des Zaren kamen immer näher. „Wir müssen das Tor schließen“, schrie einer über den Lärm. Die Männer gehorchten und stemmten sich dagegen. Ein blutender Junge brach kurz vor der Halle zusammen. Einige traten einfach auf ihn, um weiter zu kommen. Natascha drängte sich gegen den Strom nach vorne. Sie erreichte irgendwie den Jungen und zog ihn nach oben. Dann arbeitete sie sich zur Fabrik vor und konnte noch gerade sich und den Jungen durch das Tor schleppen, bevor es mit einem dumpfen Knall gegen die Wand stieß. Von draußen hörte man die Schreie derer, die die Halle nicht erreicht hatten. Man hörte weitere Schüsse, die Schreie wurden lauter. Unter dem Tor floß eine rote Lache von Blut in die Halle. Die verängstigen Menschen drängten sich zwischen den Maschinen zusammen, einige Männer griffen nach Werkzeugen, um sie als Waffen zu benutzen.
Querschläger und Kugeln, die das schwere Tor trafen, erzeugten einen scharfen, metallischen Laut, bei dem jeder zusammenfuhr. Natascha erinnerte es nur an die Geräusche der Fabrik. Draußen starben die Menschen. „Wir müssen doch was tun!“ rief eine Frau. „Uns töten lassen?“ fragte eine höhnische Männerstimme. Ein Tumult brach los. Alle redeten wild aufeinander ein, während draußen die Schüsse und Schreie durch die Luft peitschten. „Wir kämpfen“, sagte Natascha eisig. Wie ihr der Gedanke gekommen war, wußte sie selbst nicht. Es wurde still. „Womit bitte?“ fragte jemand. „Mit einem Hammer und einer Zange?“ Wortlos bahnte sich Natascha einen Weg durch die Menge.
Das Lager der Fabrik wurde durch ein ähnliches Tor geschützt, wie das vor der Fabrikhalle. Mit Hilfe des Schlüssels, den Pietrow ihr überlassen hatte, öffnete sie das Schloss und schob die Tür auf. Einige hundert fabrikneue Gewehre und mehrere Fässer mit Schießpulver und Munition wurden sichtbar. Natascha griff sich eines der Gewehre und warf es dem Mann zu, der sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. „Damit!“ sagte sie leise, aber ihre Stimme war in der ganzen Halle noch zu hören. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf fragte sich, was Pietrow dazu sagen würde, wenn er erfuhr, dass sie seine eiserne Produktionsreserven, die für den Krieg bestimmt waren, den Revolutionären in die Hand gab. Sie wußte nicht, dass sie ihrem Mann damit das Leben rettete.
Die Männer übernahmen die Aufgabe, die Waffen auszugeben. Binnen weniger Minuten waren über hundert Mann mit Gewehren bewaffnet, die anderen nahmen Eisenstangen, Hämmer und was sie sonst finden konnten. Draußen erklangen immer noch vereinzelte Schüsse und durch die Fenster konnte man etwa fünfzig Soldaten ausmachen, die in alle möglichen Richtungen zielten.
Einige Unbewaffnete schoben das große Tor auf, während die Männer mit den Gewehren dahinter lauerten. Die Soldaten schienen zunächst nicht auf das Öffnen des Tores zu reagieren, und als sie es bemerkten, war es für sie zu spät. Sie standen ohne Deckung mitten auf der Straße, als die Streikenden aus der Fabrik zu schießen begannen. Einer nach dem anderen brach zusammen. Einige schossen zurück, und auch unter den Revolutionären gab es Tote. Begeistert von ihrem Erfolg drängten die Männer und Frauen aus der Fabrik hinaus und stürzten sich auf die Soldaten, bis keiner mehr übrig war. Nachdem sie über dem Blutbad, dass sie angerichtet hatten, triumphierten, bildeten sie wieder einen lockeren Zug, der einerseits Plakate in die Luft hielt, andererseits die Waffen schwenkte. Natascha blieb am Tor der Fabrik. Sie stand in einer Pfütze aus Blut, während ihr Blick von einem toten Soldaten zum anderen schweifte. Plötzlich fühlte sie sich entsetzlich. Ihr wurde übel und sie übergab sich in das Blut der Gefallenen, bevor sie auf allen Vieren in die Halle zurückkroch und sich weinend in eine Ecke kauerte.
Wann genau Pietrow zu ihr stieß wußte sie nicht mehr. Er sah erbärmlich aus. Sein eleganter Anzug war dreckig und zerrissen. Seine Haut war aufgeschürft und ein Auge war angeschwollen, über den Wangenknochen zeigten sich blaue Blutergüsse und mehrere blutige Kratzer. Ein Schnitt prangte an seiner Stirn nahe dem Haaransatz, das Blut daraus war ihm über die linke Gesichtshälfte gelaufen und wirkte jetzt, wo es geronnen war, wie eine Maske. In seinen Augen ließ sich keine Regung erkennen, sein Gang war merkwürdig steif, als er durch die Fabrikhalle wankte, seine Frau in der Ecke entdeckte und sich neben ihr auf den Boden sinken ließ.
Er saß lange Zeit da und sagte überhaupt nichts. Dann begann er ihr zu erzählen, was passiert war. Sie erfuhr von den Streiks, den Demonstranten und der Meuterei in der Garnison. „Die Soldaten haben sich auf die Seite des Volkes gestellt.“ Das sah aber hier anders aus, dachte Natascha, ohne es laut zu sagen. „Zumindest die meisten“, schloss Pietrow nach Minuten an seinen vorigen Satz an. Die Duma hatte sich entschlossen, die Ordnung wieder herzustellen, erzählte er, und der Petrograder Sowjet hatte ein provisorisches Exekutivkomitee gebildet. Während Natascha ihm zuhörte, tat ihr der Mann, den sie nie geliebt hatte, plötzlich leid. Für ihn war alles untergegangen. Er hatte sich meist mit der Monarchie gut arrangiert, alles wieder von vorn aufzubauen erschien ihm im Moment als beinahe unmöglich. „Viele Ballhäuser sind überfallen und geplündert worden“, sagte er leise, „Viele der Fabrikbesitzer haben sie auf die Straßen geschleift und zusammengeschlagen, einige wurden als Ausbeuter und Sklavenhalter beschimpft und sogar erschossen.“ Das machte Natascha Sorgen. Pietrow hatte seinen Arbeitern einen Hungerlohn gezahlt und damit immer Geschäft gemacht. Ihn als einen Ausbeuter zu sehen war einfacher als bei den meisten anderen Reichen, denn Pietrow hatte seinen Gewinn damit gemacht, dass er Waffen für den Krieg herstellte, und zuvor war er nur ein Mitglied des Mittelstandes gewesen. Zudem war er jemand, der den Zar immer unterstützt hatte und für die Rüstung seiner Soldaten gesorgt hatte. Es waren Gewehre aus Pietrows Fabrik gewesen, die in den letzten Monaten hunderte von hungernden Arbeitern erschossen hatten. Wenn andere Fabrikbesitzer getötet wurden, musste Pietrow erst recht damit rechnen. Natascha fürchtete nur, dass man vor seiner Familie nicht halt machen würde.
Wie lange sie so beieinander in der Ecke hockten, wußte sie nicht so genau. Irgendwann in der Nacht schlief sie ein. Als sie erwachte, war es noch dunkel. Es waren stimmen, die sie geweckt hatten. Stimmen, die von der Straße her kamen. Sie sprachen laut, so dass sie deutlich jedes Wort verstand. „Erschieß den Ausbeuter!“ sagte eine tiefe Männerstimme. „Er könnte noch nützlich sein“. Eine andere Stimme, viel leiser und ruhiger. „Wozu? Damit er noch mehr Armut verbreitet?“ Das war die Stimme einer Frau. „Vielleicht sollten wir uns erst sein Geld holen“, schlug ein dritter Mann vor. „Ich hab gehört du hast eine hübsche Frau!“ hörte Natascha wieder die erste Stimme, und es brauchte nicht viel Phantasie, sich das schmierige Grinsen vorzustellen, das diesen Worten folgte. „Geht ihr so immer mit denen um, die euch unterstützen?“ Das war Pietrows Stimme, und Natascha zuckte bei den Worten zusammen. Sie konnte beinahe durch die Wände sehen, wie sich die Männer zu ihm umwandten und ihn mit offenen Mündern anstarrten. „Was war das?“ Der erste Mann war wieder mal schnell zur Sache. „Du willst uns geholfen haben?“ , fragte der dritte Mann und es war ein Laut zu hören, der nur von einem Stiefel kommen konnte, der jemandem in den Leib getreten wurde. Natascha duckte sich noch mehr in die Ecke. „Heute vormittag, waren es meine Fabrikhallen, die die beschützten, die vor den Soldaten geflohen sind. Meine Frau hat ihnen die Tore selbst geöffnet. Und ich war es, der ihnen die Waffen gab, auf das sie ihre toten Brüder rächen konnten.“
„Das lügst du doch!“ , war die Antwort des ersten Mannes. „Nein, tut er nicht.“ Die Stimme war eine andere, die zuvor noch nicht erklungen war. „Ich war dabei, es war seine Frau, die das Tor da geöffnet hat, und sie hat uns auch die Gewehre gegeben.“ „Also schön“, brummelte der erste, dem diese Wendung offensichtlich nicht gefiel; er hatte mit einem toten Ausbeuter und einer Frau für die Nacht gerechnet; „Aber dich behalte ich im Auge. Und wenn du ein krummes Ding drehst, bring ich dich um.“ Wieder das Geräusch des Stiefels, dann Schritte, die sich entfernten. Das Fabriktor wurde aufgeschoben. Dank des Lichtes der Fackeln, die die Männer draußen bei sich trugen, konnte Natascha ihren Ehemann sehen, der auf die Schultern von zwei anderen gestützt, hereinkam. Sie eilte ihm entgegen, drängte die Männer zur Seite und übernahm Pietrow, den sie in Richtung ihrer Wohnung führte, die an die Fabrik angeschlossen lag. Den Männern bedeutete sie mit einem Wink, zu verschwinden, was sie auch taten. Den Rest der Nacht verbrachten sie schweigend.
Ein paar Tage vergingen, ohne dass wirklich etwas aufregendes geschah. Natascha vermisste ihre Geschwister, von denen keiner zurückgekehrt war. Pietrow war wieder in seinem Element. Er hatte es irgendwie geschafft, in den Petrograder Sowjet aufgenommen zu werden. Somit war er wieder ein Teil des Systems, eine Rolle, die er auch nun wieder gut spielte, obwohl er vermutlich als einziger dort ein Fürsprecher der Monarchie war. Das erzählte er natürlich nur zu Hause, und an dem Tag an dem der Zar abdankte, ging er nicht auf die Straße. Er sagte, dass wäre seine Art, dem Zar seine Ehre zu erweisen. Natascha hielt ihn für einen Heuchler, der letztlich nur überleben wollte. Verübeln konnte sie ihm das nicht, wahrscheinlich hätte sie ohne ihn nicht überlebt. Was sie in ihrer Freizeit machte, wusste er glücklicherweise nicht. Sie hatte in den letzten Tagen ein paar Freunde kennengelernt, die sich politisch sehr engagierten. Es waren alles Intellektuelle, in deren Mitte sie sich zunächst unwohl, was sich jedoch nach einiger Zeit legte. Sie sprachen viel über die Demokratie, ihr Vorbild war die französische Revolution, von der Natascha noch nie etwas gehört hatte. Die jungen Leute erklärten ihr geduldig alles, was sie nicht verstand. Sie mochte sie und ließ sich von ihnen überzeugen. Mit ihnen zusammen begann sie, die provisorische Regierung zu unterstützen, indem sie Plakate aufhängten und auf den Straßen mit den Leuten redeten. Natascha kam bei den einfachen Arbeitern ziemlich gut an, da sie selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammte und über die Probleme der Leute reden konnte. Sie merkte schnell, dass ihr ihre neue Aufgabe mehr Spaß machte als die Rolle der braven Ehefrau eines wohlhabenden Mannes.
Die nächsten Wochen brachten ein Chaos an politischen Systemen ins Haus. Natascha stand auf der Seite einer Republik, wie es sie in Frankreich gab, sagte es aber nie sondern unterstützte ihrem Mann gegenüber das kommunistische System nach Marx, für das Pietrow im Sowjet nachhaltig warb, während er zu Hause von der Monarchie berichtete und sich darin ereiferte, Möglichkeiten für eine Rückkehr in dieses System zu erfinden. Es war ein vollkommenes Durcheinander, bei dem kaum einer mehr wusste, wovon er eigentlich sprach. Was ihnen beiden sorgen bereitete, war ein Mann namens Lenin, der aus dem Exil zurückgekehrt war, und mit seiner Partei doch einigen Einfluss hatte. Als seine April- Thesen herauskamen, meinte Pietrow, der Mann habe sich mit dieser extremen Position sein eigenes Grab geschaufelt. Damit war Lenin für ihn vom Tisch, unwichtig und vergessen. Pietrow arbeitete weiter an der glorreichen Rückkehr zur Monarchie, obwohl er das mehr in seiner Phantasie als sonst irgendwo tat. Natascha jedoch vergaß Lenin nicht, da sie viel mit den einfachen Leuten zu tun hatte. Sie merkte, dass Lenins Forderung nach einem Austritt aus dem ersten Weltkrieg sehr gut unter den Arbeitern ankam und dort auch immer wieder aufgenommen wurde. Die provisorische Regierung litt im Moment unter gravierenden Fehlschlägen, und Natascha erkannte darin eine Chance für Lenin, die dieser sich bestimmt nicht entgehen lassen würde.
Die politischen Themen waren aber in den letzten Wochen für sie etwas in den Hinterhalt geraten. Genauer gesagt, sie waren in den Hinterhalt geraten, als Natascha Sergej kennenlernt hatte. Das war bei einem Treffen mit ihren Freunden. Sie hatten über die bisherige Entwicklung der Revolution gesprochen, als einer aus der Gruppe ihr Sergej vorstellte. Natascha mochte ihn sofort, seine offene Art, mit ihr zu reden, sie mochte seine Scherze und seine Ungezwungenheit. Er war der Sohn reicher Eltern, hatte sich aber der Revolution angeschlossen. Er verehrte Karl Marx und kannte fast alle Schriften dieses Mannes auswendig. Trotzdem kritisierte er Marx an vielen Stellen aufgrund seines Kulturoptimismus, er glaubte selbst nicht daran, dass jeder Mensch selbst einsichtig wurde. Er vertrat die Meinung, dass die Menschen beeinflußbar waren und oft einfach die Meinung eines anderen zu ihrer eigenen machten. Das gefiel ihm nicht besonders. Er war jemand, der alles hinterfragte und von allen Seiten betrachtete. Aber er war ein liebenswerter Kerl und er konnte andere für sich begeistern. Das bemerkte Natascha, als sie mit ihm einen ihrer Ausflüge auf die Straße unternahm. Sergej versuchte nicht nur die Leute zu überzeugen, vielmehr diskutierte er mit den Leuten die politische und soziale Situation. Für ihn schien es keine Rolle zu spielen, welcher Klasse sie angehörten, er sprach mit allen in der selben Weise, behandelte jeden mit Respekt. Das gefiel den Leuten, und sie redeten mehr mit ihm als mit sonst jemandem aus seinem sozialen Umfeld. Trotzdem reichte er nicht an Natascha heran, die in ihren Gesprächen mit den Leuten meisten gar nicht auf Politik zu sprechen kam, sondern sie einfach erzählen ließ. Sie hörte sich ihre Sorgen an, ihre Nöte, ihre Ängste. Die Leute kamen zu ihr, wenn sie Rat brauchten, und sie kamen zu ihr, wenn sie Trost brauchten. Es war nicht das erstemal, dass sich eine alte Frau an Nataschas Schulter ausheulte. Sergej war davon begeistert, zumal Natascha nie irgendeine Schule von innen gesehen hatte. Sie zeigte ihm, wie man mit den Armen redete, und er brachte ihr dafür lesen und schreiben bei.
Im August wurde Nataschas Sohn geboren, Pietrows drittes Kind. Die anderen zwei waren nicht in der Stadt. Pietrow hatte sie zu einer Tante auf das Land geschickt, weil er nicht wollte, dass sie die Unruhen der Revolution mitbekamen. Natascha war nicht dafür gewesen. Pietrow hatte sie jedoch mit seiner Entscheidung übergangen. Sie gebar das Kind zu Hause, die einzigen Anwesenden waren Sergej und eine Hebamme. Pietrow ließ sich den ganzen Tag nicht blicken. Er faselte in der letzten Zeit immer irgendetwas von einer baldigen Wahl eines neuen Ratsvorsitzenden und hatte sich offenbar vorgenommen, dieser zu werden. Das Natascha und Sergej inzwischen ein Liebespaar waren, wußte er nicht. Natascha war es egal, ihren Mann zu betrügen. Sie konnte sich in etwa vorstellen wie viele Nächte Pietrow seit ihrer übereilten Hochzeit nicht in ihrem Bett verbracht hatte. Es hatte ihr nichts ausgemacht, wenn er mit anderen Frauen geschlafen hatte, sie liebte ihn sowieso nicht. Er hatte sie geheiratet, um etwas zum Vorzeigen zu haben; hier, ich bin ein sozialer Mensch, ich versorge ein armes, kleines Mädchen vom Lande; und sie war darauf eingegangen, weil ihre Familie verhungerte.
Der 25. September begann damit, dass sie in Sergejs Bett erwachte und sich sofort auf den Heimweg machte, obwohl das Haus genauso leer war wie in den vergangenen Nächten. Sie machte sich an die Hausarbeit und kümmerte sich um ihren Sohn.
Als Pietrow nach Hause kam, wußte Natascha gleich, dass er betrunken war. Seine Wangen waren gerötet, sowohl vom Alkohol als auch von der Wut. Er riss die Tür auf, dass sie heftig gegen die Wand schlug und starrte Natascha voller Zorn an. „Du kleine Hure!“ sagte er zu ihr, leise und boshaft. „Du verdammte kleine Hure!“ Er schlug nach ihr und traf sie mitten im Gesicht. Natascha spürte, wie ihre Lippe aufplatzte und heftig blutete. „Warum?“ fragte sie ihn leise, und erntete weitere heftige Schläge ins Gesicht und den Unterleib. „Sie haben mir die Kandidatur zum Vorsitzenden verweigert“, brüllte Pietrow dann. „Und weißt du wieso?“ Er trat sie fest in den Unterleib, und Natascha sackte zusammen. „Wie will jemand, der noch nicht einmal seine Frau unter Kontrolle hat, wohl die Fähigkeit haben, die Arbeiter von Petrograd zu führen?“ Er schlug sie wieder. Dann setzte er sich in aller Ruhe auf einen Stuhl und blickte auf Natascha herab, die keuchend am Boden lag. „Weißt du, Lew Dawidowitsch Trotzki ist zum Vorsitzenden gewählt worden. Alles, was uns noch gefehlt hat, ist ein verdammter Bolschewist als Ratsvorsitzender. Weißt du, du hast alles zerstört was ich wieder aufgebaut habe. Du und dieser Kerl, mit dem du ins Bett gehst.“ Er drehte sich um und meinte dann. „Verschwinde. Ich will dich in diesem Haus nie wieder sehen. Du bist eine Schande für meinen Namen!“
Natascha stand eine halbe Stunde später auf der Straße. Sie hatte die nötigsten Sachen zusammengepackt und auf dem Arm trug sie ihren kleinen Sohn, den sie auf keinem Fall dem Wüten Pietrows aussetzen wollte. Er hatte nicht einmal reagiert, als der Kleine geboren wurde, also wieso sollte das Kind bei seinem Vater bleiben. Sie klopfte kurz darauf an Sergejs Tür. Er war nicht zu Hause, so blieb sie auf den Treppenstufen sitzen und weinte.
Sergej fand sie dort einige Stunden später. Zusammen tranken sie einen Tee und sprachen über Politik, da Natascha keine Lust hatte, über ihre Probleme zu reden. Sergeij glaubte, die Bolschewiki unter Lenin würden mit allem Nachdruck auf einen bewaffneten Aufstand hinarbeiten. Natascha glaubte nicht daran, dass das Volk ihm folgen würde. Sergej sah das anders. Er meinte, dass Volk würde Lenin glauben, dass er den Frieden wolle, und nach all den Niederlagen der provisorischen Regierung die Schuld dafür geben. „Was tun wir?“ fragte Natascha. Er sagte zu ihr, sie solle sich zunächst mal ausruhen und in den nächsten paar Tagen besser nicht auf der Straße sehen lassen. Natascha war damit einverstanden. Als Sergej am nächsten Tag das Haus verließ, konnte sie jedoch nicht lange tatenlos herumsitzen. Sie begann damit, einige von Lenins Schriften zu lesen, und war erschüttert von dem, was sie las. Sergej hatte Recht, dieser Mann würde nicht verhandeln, er würde die Regierung gewaltsam stürzen, sobald wie möglich.
Natascha dachte daran, mit den Leuten auf der Straße zu reden. Sie konnte sie davon überzeugen, Lenin nicht zu folgen. Aber es musste doch möglich sein, mehr Leute zu erreichen. Plakate, dachte sie, Plakate wären eine gute Idee. Sie arbeitete mehrere Stunden an einem Entwurf, bis sie glaubte, er sei gut genug, um ihn Sergej zu zeigen. Als er nach Hause kam, zeigte er sich begeistert von der Idee, er kritisierte nur, dass sie ihren Namen daruntergeschrieben hatte. „Wenn ich es anonym lasse, ist es nicht anders als all die Plakate der Bolschewiki. Die Leute hier kennen mich. Einem anonymen Plakat werden sie nicht folgen. Aber wenn sie die Person kennen, die dahintersteckt. Sie vertrauen mir, Sergej, sie vertrauen mir, weil ich für sie immer stark gewesen bin. Ich muss ihnen immer noch zeigen, dass ich stark bin.“ „Selbst wenn du damit die Bolschewiki direkt angreifst?“ „Sie sind nur eine Partei, sie sind nicht an der Macht, also was sollen sie mir schon antun?“ Sergej erkannte, dass er diese Diskussion schon verloren hatte. „Ich wollte mich nicht mit dir streiten.“ In den nächsten Tagen malte Natascha 100 Plakate und mehrere hundert Flugblätter. Auf all diesen stand nur ein Name, ihr eigener. Außerdem arbeitete sie an einer Rede. Sie sollte alle ansprechen. Sie sollte perfekt werden. Sergej behauptete später, diese Rede sei ihr Lebenswerk gewesen. Am 24. Oktober hielt sie diese Rede.
Die Plakate und Flugblätter waren schon vor einer Woche verteilt worden, und so waren viele zu dem Platz gekommen, auf dem Natascha ihre Rede halten wollte. Das Ziel ihrer Ansprache war allen sofort klar. Sie verurteilte die Bolschewiki und ihren geplanten Aufstand. Außerdem verlangte sie Unterstützung für die provisorische Regierung. Natascha zitierte Lenin und Marx, und als sie zum Ende gekommen war, jubelten ihr die Menschen zu. Sie blieb noch eine ganze Weile danach und beantwortete Fragen, diskutierte mit den Menschen, von denen sie die meisten schon kannte, und erntete sowohl von Sergej als auch ihren anderen Freunden ein großes Lob. Zufrieden gingen sie beide nach Hause.
In der Nacht übernahmen die Bolschewiki die Macht. Natascha und Sergej bemerkten kaum etwas davon. Sie hatten am Abend viel getrunken und hatten geschlafen wie zwei russische Bären. Was passiert war, hörten sie erst von einer alten Frau, die einen Tag zuvor noch unter ihren Zuhörern gewesen war. „Passen Sie auf sich auf“, sagte sie zu Natascha, „Die suchen nach Ihnen. Die waren gestern Nacht schon bei ihrem Mann. Die haben ihn getötet!“ Natascha wollte das nicht glauben, aber als sie sich Pietrows Haus vorsichtig näherten, konnte sie mehrere Bewaffnete Soldaten sehen, die offenbar nur darauf warteten, dass sie auftauchte. Sergej kaufte eine Zeitung und fand auch dort einen Artikel, dass Natascha von der bolschewistischen Regierung gesucht wurde. Sie wurde als Kapitalistin und Zarentreue beschimpft, was unter anderem mit ihrem Ehemann begründet wurde, außerdem bezeichnete man sie als Feindin des Systems, sie wurde als Verräterin gebrandmarkt und nun als Konterrevolutionäre gejagt. Sergej beruhigte Natascha und bemerkte, er habe Freunde, die sie aus der Stadt bringen würden. Natürlich würde er bei ihr bleiben.
Zwei weitere Tage blieben sie in Petrograd. Für Natascha waren das die zwei längsten Tage ihres Lebens. Immer wieder wurde ihr von Freunden berichtet, die verhaftet worden waren. Sie tauchten nie wieder auf. Man erzählte von Folter und Verhören, an deren Ende die Gefangenen erschossen wurden. Natascha machte sich die schwersten Vorwürfe. Sergejs Haus war bereits durchsucht worden, sie entkamen den Bolschewiki nur um ein Haar.
Natascha kehrte wieder nach Hause zurück, auf das Land, wo man sie kannte, und niemand glaubte, was er in der Stadt über sie gehört hatte. Sie half beim Bestellen der Felder und beim Hüten des Viehs, Sergej erwies sich als guter Handwerker, und somit waren sie den Bauern dort sehr willkommen. Natascha konnte zusehen, wie ihr Sohn größer und größer wurde. Und wieder einmal, wie schon vor Jahren, genoß sie die Ruhe des Landes. Selbst der Bürgerkrieg drang nicht richtig zu ihr durch. Zumindest nicht, bis sie von der Tscheka entdeckt wurde, und mit Sergej und ihrem jetzt dreijährigen Sohn erneut fliehen musste. Sie flohen tiefer ins Land, in der Hoffnung, nicht gefunden zu werden. Schließlich gelang es Sergej, zwei Karten für eine Bahnfahrt nach Deutschland zu bekommen. Der Bahnhof, an dem sie zusteigen sollten, wurde allerdings bereits von der Tscheka überwacht.
Sie übernachteten in einem kleinen Schuppen, der zu einem verfallenen Bauernhaus gehörte. „Du solltest gehen“, sagte Natascha zu Sergej. „Sie suchen nur mich.“ „Ich gehe aber nicht ohne dich.“ „Sergej, was nützt es meinem Sohn, wenn sie dich auch töten?“ „Aber ich liebe dich.“ „Ich liebe dich auch, Sergej, und deshalb will ich dich auch nicht verlieren. Ich weiß dass du meinem Sohn ein guter Vater sein kannst.“ „Wir werden nur zusammen fliehen, hörst du, Natascha? Mir ist egal, was die Tscheka mit mir anstellt. Ich will mit dir zusammensein, und ich werde dich auf keinen Fall zurücklassen.“ Sie schwiegen eine langen Zeit. Natascha gab sich offenbar geschlagen, denn sie sagte nichts weiter. „Ich liebe dich!“ sagte sie nach einer Ewigkeit, und er nahm es als eine Aufforderung, sie zu küssen. Das es in Wirklichkeit ein Abschied für immer war, ahnte er nicht.
Natascha blieb lange wach, bis sie neben sich Sergej und ihren Sohn gleichmäßig atmen hörte. Sie küsste beide sanft auf die Stirn, bevor sie sich aus dem Schuppen schlich. Es regnete in Strömen, und Natascha war schnell bis auf die Haut durchnässt. Bis zum Bahnhof war es nicht weit. Wie sie erwartete hatte, ließ die Tscheka nicht lange auf sich warten. Kaum zwei Minuten, nachdem sie das Bahnhofsgelände betreten hatte, wurde sie abgeführt.

Sergej suchte nach Natascha, als er aufwachte. Er fand nur die zwei Fahrkarten und einen Zettel, auf dem Natascha in ihrer schönen Handschrift geschrieben hatte: „Sei ihm ein guter Vater.“ Es war das letzte, was er je von Natascha hörte.

Natascha stand auf dem Hof, der von hohen Mauern umgeben war, die so schmucklos waren, wie man sich die Mauern eines Gefängnishofes nur vorstellen kann. Sie stand in der Mitte des Hofes, an einen Pfahl gebunden, der sie um mehrere Meter überragte und zudem tief in den Boden gerammt war. Ihre Rippen, ihr Gesicht und ihr Rücken taten noch immer von den Schlägen weh, die man ihr versetzt hatte. Beim Verhör hatte man sie geschlagen, bespuckt, vergewaltigt und auf jegliche andere Weise erniedrigt. Natascha war stark geblieben. Vor ihr standen fünf junge Soldaten in den Uniformen der roten Armee, dazu ein Kommandant, und eine Frau in der Uniform der Tscheka, die auch bei den Verhören anwesend gewesen war. Der Kommandant kam nun auf sie zu, er verlaß in kurzen Worten das Urteil, das nie von einem Gericht über sie gefällt worden war, sondern von der bolschewistischen Partei an einem Tag, der jetzt beinahe vier Jahre her war. Sie blieb ruhig und antwortete nur kurz auf die Fragen, die er ihr noch stellte.
Der Kommandant fragte sie nach einem letzten Wunsch oder Gebet. Sie lächelte nur und sagte, das hätte sie schon erledigt. Danach fragte er, ob sie eine Augenbinde haben wolle. Sie verneinte. Auch eine Augenbinde konnten sie nicht daran hindern, ihren Tod zu sehen. Der Kommandant trat zurück und gab ein Zeichen. Die fünf Soldaten legten ihre Gewehre an. Natascha fand, dass es nicht einmal weh tat.


Dies war Natascha, meine älteste Tochter. Sergej hat ihr ihren Wunsch noch erfüllt, und hat ihren Sohn aufgezogen, meinen Enkel, in dessen Haus ich heute geladen wurde, um meinen 122. Geburtstag zu feiern. Ich wurde wieder zum Leben erweckt. Aber ich vermisse Natascha unter den Gästen. Sie wäre jetzt 104. Sie war ein gutes Kind.
 



 
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