Das müde Sandmännchen

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Das müde Sandmännchen

Der Mond zündete sein Pfeifchen an und machte sich auf den abendlichen Gang um die Welt. Doch als er in die Kinderzimmer schaute, war er sehr erstaunt. Viele der Kleinen waren noch putzmunter und dachten gar nicht daran, schlafen zu gehen. „Na so was“, wunderte sich der Alte, „hat der Sandmann nicht gewissenhaft gearbeitet? Da muss ich sofort nach dem Rechten se¬hen.“

Er schaute in jeder Ecke des Weltalls nach, doch nir¬gends entdeckte er den Schlafbringer. In den letzten Tagen hatte der Wind sehr lange und mächtig gebla¬sen, bis er zu einem ausgewachsenen Sturm wurde. Der schob die Wolken so dicht zusammen, dass die Menschen auf der Erde nächtelang keinen einzigen Stern sehen konnten. Jetzt war es endlich wieder klar am Himmelszelt, und daher putzten alle gerade eifrig an ihren Strahlenkränzen. In der kommenden Nacht wollten sie unbedingt um die Wette blinken.
„Habt ihr vielleicht den Sandmann gesehen?“, fragte der Mond die Sternenkinder.

„Aber ja“, riefen die Sternchen ihm zu, „er kam an uns vorbei, hatte jedoch keine Lust auf ein kleines Pläuschchen. Wir wunderten uns, denn sonst verweilt der Spitzbart gern ein Weilchen in unserer Mitte. Mühsam zog er den halb vollen Sack mit dem Schlaf¬sand hinter sich her, und ging herzhaft gähnend seines Weges. Gewiss hat der Gute sich eine der kuscheligen Wolken zum Ausruhen ausgesucht.“

„Wie, der Sandmann ist müde?“, fragte der Mond verblüfft. „Ich bin überrascht. Schließlich hat er seine abendliche Aufgabe noch nicht erfüllt, sehr merkwür¬dig. Denkt euch, unzählige kleine Erdlinge liegen um diese Zeit schlaflos in ihren Betten. Bis später ihr Sternchen, ich schaue mich mal weiter nach ihm um.“

Beunruhigt zog der Mond seine Bahn und näherte sich dabei dem Wetterschloss. Trutzig lag das uralte Ge¬mäuer in den dunklen Tiefen des Alls. Schon von Weitem hörte er aus den verschiedenen Kammern leises Grummeln. Das Unwetter war hier Zuhause. Nachdem Sturm, Blitz, Donner, Hagel und Regen durch die Welt getobt waren, gönnten sie sich jetzt nach dieser kräftezehrenden Anstrengung eine or-dentliche Ruhepause.

Niemand in der Unendlichkeit des Universums wagte es, das Gewitter während dieser Zeit zu stören. Der gute Mond aber hatte keine Wahl, schließlich musste er wissen, wo sein vertrauter Kamerad steckte. Vor¬sichtig rief er hinüber: „Hallo, Unwetter, hat einer von euch Gesellen zufällig den Sandmann gesehen? Ich muss ihn unbedingt sprechen.“
Eine Weile tat sich gar nichts. Gerade wollte der Mond erneut rufen, als grelle Blitze aus dem Schloss schossen, begleitet von tiefem Donnergrollen. Regen¬tropfen prasselten hernieder und brachten sein Pfeif¬chen zum Erlöschen. Kräftig blasend erschien der Wind.

„Den Traumbringer suchst du? Was haben wir denn mit dem zu tun?“, säuselte er ärgerlich. „Bei uns ist der Sandstreuer ganz sicher nicht. Sieh zu, dass du weiter kommst. So eine Unverschämtheit, diese Ruhe¬störung.“ Schläfrig zog sich das Wetter wieder ins Schloss zurück.

„Das kann man aber auch freundlicher sagen“, meinte der Mond leicht verärgert. Vergebens versuchte er seine Pfeife wieder anzuzünden. Der Regen hatte den Tabak ruiniert, er war klatschnass. „Auch das noch“, seufzte er und steckte das unbrauchbar gewordene Rauchgerät ein.

Kurz darauf kam der gute Mond an der Milchstraße vorbei. Wie es dort funkelte und glitzerte, er fand den Anblick immer wieder schön. Plötzlich durchschnitt tiefes Schnarchen die wundervolle, stille Idylle. Ver¬blüfft bemerkte der Mond am Rande der Galaxie einen kleinen Wolkenberg. Der Gesuchte hatte es sich dort tatsächlich gemütlich gemacht. Er schlief tief und fest in seinem weichen Bett, den Beutel mit dem Streusand neben sich.

„He, du Faulpelz, wirst du wohl aufstehen und deiner Pflicht nachgehen!“, schimpfte der Mond los. „Was ist passiert? Liegst hier herum und schläfst, während viele Kinder nicht ins Traumland können.“

Erschrocken wachte das Männlein auf, rieb sich die Augen und stammelte: „Oh, entschuldige alter Freund. Ich war so müde und wollte mich nur ein kleines Stündlein ausruhen.“

„Wie ist das möglich“, grollte der Mond. Du sollst gefälligst die Kinder zum Einschlafen bringen und dich nicht selbst auf die Reise ins Traumland schi-cken.“

„Glaube mir“, beteuerte sein alter Freund, „es war ein bedauerliches Versehen. Beim Ausstreuen fegte der Sturm auf dem Rückweg zum Wetterschloss ganz dicht an mir vorbei. Ich sprang leider zu spät zur Seite und spürte, wie mir in dem Moment ein paar der Sandkörner in die Augen rieselten. Die machten mich dermaßen schläfrig, dass ich mir unbedingt ein be¬quemes Plätzchen suchen musste.“ Er strich über sein Bärtchen und schmunzelte: „Hätte gar nicht gedacht, dass die Körner derart schnell wirken.“

„So, so“, meinte der Mond versöhnlicher, „das kann ja mal vorkommen. Pass halt demnächst besser auf und geh rechtzeitig in Deckung, wenn der Sturm in der Nähe ist. Aber nun wird es höchste Zeit. Hopp, hopp, schulter das Säckchen und verteile schleunigst den Rest des Sandes auf der Erde.“
 



 
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