Das verschollene Tagebuch

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ergusu

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Das verschollene Tagebuch
Das neue Jahrtausend war gerade drei Jahre alt und mein Cousin Hans siebzig geworden, als er mir vorschlug, Neiße, die Stadt unserer Väter, zu besuchen.
Ich wusste nicht viel vom schlesischen Rom, denn 1945 war ich erst fünf Jahre alt und mein Vater viel zu verbittert, wenn das Gespräch auf das zerstörte Neiße und die bedrückende Flucht kam. Nur einmal lebte er auf, als uns 1963 seine ehemalige Schulkameradin Else Gerting mit ihrer Tochter Lotte besucht hatte. Als mich damals mein Vater erwischte, wie ich gerade das hübsche Lottchen küsste, wurde er sehr böse und schrie mich an: „Lass das Mädchen in Ruhe. Für alle Zeiten, verstanden?“
Fassungslos erlebte ich dann, wie Else Gerting Hals über Kopf die Sachen packte und noch am gleichen Tage mit Lotte abreiste. Nie wieder hatte ich seitdem von den beiden gehört.
Nun waren vierzig Jahre vergangen und ich war bereits dreifacher Großvater, doch Hans hatte mit seinem Vorschlag meine Erinnerungen an Lotte und die Geister unserer Väter geweckt.

Ich studierte aufmerksam den alten Stadtplan meines Vaters, und als ich ihn zusammenfaltete, fand ich auf der Rückseite die Skizze eines vermassten Rechtecks. Darunter stand in Großbuchstaben: „MEIN TAGEBUCH UNTER DER TÜRSCHWELLE, HÄUSCHEN AM GT.“
Die Seitenlängen waren mit 4,00 und 6,00 Meter angegeben.
Diese Notiz elektrisierte mich mehr wie der ganze Stadtplan und da ich wusste, dass unsere Väter ihre Heimat nicht wieder gesehen hatten, musste dieses Tagebuch noch existieren. Dieses kleine Gebäude wollten wir finden.
Hans, der 1945 12 Jahre alt war, grübelte lange und meinte schließlich: „GT? Das könnte das Große Theater sein.“ Hans wusste, dass mein Vater jeden Sonntag die Glockenstränge in der Jesuitenkirche gezogen und den dafür erhaltenen Lohn für Theaterbesuche angespart hatte. Also kam ein Nebengebäude des Theaters durchaus in Betracht.
Nach weiteren Besinnen meinte Hans: „ Es könnte aber auch Gerhard Teichmann heißen.“
„Wer war denn das?“
„Unser Nachbar und Hufschmied, ein Kinderschreck. Wenn ich heimlich aus meinem Versteck pfiff, pinkelte sein Pferd reflexartig, und Herr Teichmann tobte. Seine Stallungen und die Werkstatt grenzten direkt an unser Haus.“
„Und was ist mit dem Glockenturm? Auch der käme für GT in Frage.“
„Warum nicht?“ sagte Hans nach längerem Nachdenken. „Aber ich weiß nicht, ob dort jemals ein Häuschen stand.“
Alle drei Varianten wollten wir überprüfen.

Trotz unserer Angst vor Autodieben benutzten wir unseren Opel und holperten über die alte Reichsautobahn und vielen löchrigen Strassen an Breslau vorbei nach Neiße.
Schon gegen Mittag grüßte uns der Berliner Torturm und das Hotel „PIAST“. Kaum hatten wir die Zimmer belegt und einen bewachten Parkplatz gefunden, lockte uns die Kramerstraße, der vertraute Ort unserer Kindheit. Als wir die etwa 150 Meter lange Straße erreichten, trauten wir unseren Augen nicht. Hans lief wie ein Tiger an Grünflächen und Neubauten vorbei, aber sein Suchen war umsonst, denn unser Wohnhaus nebst der Schmiede stand nicht mehr. Hans war so verwirrt, dass er später sogar behauptete, das kleine Bächlein, die Biele, fließe jetzt in entgegengesetzter Richtung. Letzten Endes sah auch er ein, dass wir hier kein Tagebuch finden würden, zumal der Satz „Häuschen am GT“, also „Häuschen am Gerhard Teichmann,“ ohne Sinn war.

Wir setzten uns wieder in Marsch und suchten das Theater. Doch so sehr ich mit Kartenmaterial vertraut bin, ich fand nicht die schmale Theatergasse und stand auch beim dritten Versuch immer wieder auf denselben asphaltierten Parkplatz.
Schließlich sprach ich eine ältere Frau an: „Theater?“ fragte ich vorsichtig.
„Theater? Dort, Kulturhaus“, sagte sie und zeigte auf ein neues Gebäude.
„No, wo ist altes deutsches Theater?“ fragte ich weiter.
„Kaputt, nicht da,“ sagte sie nur und schien unsere bekümmerten Blicke zu verstehen.
Da wusste ich, dass ich nie die Stehgalerie sehen würde und auch kein Häuschen mit Türschwelle. Aber irrte nicht Hans? Es gab auch früher kein Großes Theater, sondern nur ein Stadttheater. GT konnte also für das Theater nicht zutreffen.

Stumm zog ich mit Hans in Richtung Glockenturm, der noch immer die prächtig restaurierte Jakobuskirche flankierte. Der Turm war rußgeschwärzt und die Tür verschlossen. Immer wieder versuchte ich mich in die Lage meines Vaters zu versetzen, und nach einigen Minuten stand für uns fest: Diese Stelle im Zentrum der Stadt ist kein Versteck für ein Tagebuch. Alte Fotos im Stadtmuseum bestätigten uns obendrein, dass hier nie ein Häuschen gestanden hatte.

Nun war guter Rat teuer, denn unsere drei Varianten waren abgearbeitet. Als wir am Abend das ausgezeichnete polnische Bier schlürften und zum tausendsten Mal den Stadtplan studierten, kam mir eine Erleuchtung. Konnte GT nicht eine Abkürzung für den Gondelteich bedeuten? Aber wo sollte dort ein Gebäude sein?
Gleich am anderen Morgen überprüften wir meine Vermutung, und als Hans das Gewässer sah, erinnerte er sich an seine unzähligen Schlittschuhfahrten. Er zeigte mir auch die Stelle, wo früher ein kleines Häuschen stand, in welchem ein Wächter das Eis kontrolliert und Glühwein verkauft hatte. Zehn Meter vom Gondelteich. Wir sahen schließlich die alten Fundamentreste mit der Aussparung für eine Tür.
Der Boden war steinhart. Hans hatte keine Lust, Tiefbauarbeiten zu verrichten, und da er sowieso fast den Glauben an das Tagebuch aufgegeben hatte, trottete er zum Hotel zurück. Ich aber eilte zum Auto und holte den kleinen Handspaten aus dem Kofferraum. Wenig später arbeitete ich bei 30 Grad im Schatten und wurde bald belohnt: In cirka 60 cm Tiefe stieß ich auf eine alte Stullendose aus Blech, in der in Ölpapier das Tagebuch lag. Fast unversehrt.
Ich las noch an Ort die wöchentlichen Eintragungen meines Vaters, die am 23.1.1945 endeten. Die insgesamt 51 handgeschriebenen Seiten erregten mich so sehr, dass mein Gesicht glühte wie das eines Eskimos unter der Höhensonne. Schließlich eilte ich mit meinem Fund ins Hotel.

Ich setzte mich zu Hans an die Hotelbar, zeigte ihm stumm das Tagebuch und trank erst einmal ein kühles Bier. Hans bekam vor Staunen den Mund nicht zu und fragte schließlich voller
Zweifel: „Warum hat denn dein Vater das Tagebuch überhaupt versteckt und nicht mitgenommen?“
„Meine Mutter durfte es nicht finden.“
„Warum nicht?“
„Mein Vater schreibt, dass Else Gerting seine Geliebte war. Und das rettete ihr vielleicht das Leben.“
„Wieso?“
„Schwangere durften Neiße eher verlassen.“
„Sie war schwanger von deinem Vater?“
„Richtig. Sie verließ am 23.1.1945 Neiße. Sie gebar später ihre Tochter, die ich übrigens 1963 nicht lieben durfte.“
„Weshalb nicht?“
„Verstehst du noch immer nicht? Lotte ist meine Halbschwester.“
 
D

Daktari

Gast
Gute Kurzgeschichte

Die Story ist sehr gut, auch irgendwie fesselnd für eine Kurzgeschichte.
Ich für meinen Teil würde vielleicht mehr Wehmut einbringen beim Anblick der ehemaligen Heimat, Melancholie, Trauer, Erinnerungen.
Und insgesamt vielleicht die Spannung ein wenig vertiefen.
Jedenfalls ne sehr gute, ausbaufähige Basis.
 



 
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