Dekalog (1.Teil)

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Sascha Noe

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DEKALOG




1


Als Herr Adam auf die Straße trat, lag der weiße Himmel wie in Eierschale. Es war früh genug, vorbeigehend die Wärme aus den Bäckereien zu riechen, wo die Brötchen noch frei, wie Geschenke, auf eben hingestellten Blechen lagen. Und von der Sonne war noch nicht die kühle Milch des Morgens abgelaufen. Herr Adam nämlich erwartete jeden Tag den Augenblick, wo sie goldgelblich, wie ein aus der Stadt gehobener Löffelvoll Honig, vor seiner frischen Stirn aufsteigen würde. Dann sog er ihr Licht lang in seinen Atem, daß sich die Schultern hoben vor Aufgang.




2


Da war der Park. Ein Baum herabgewölbt zu einer Höhle. Sie stellten sich ins schattenschwarze Innere. Draußen war die Zeit voll gelben Lichts gegossen, durchquert von Stimmen und Körpern. Die Kletterstangen glitzerten gegenüber. Ein silbriger Brunnen inmitten von eiligen Kiesschritten. Beete und Flaschen. Vögel. Weil ihre kleine Hand kalt war, fragte er: ob sie in die Sonne gehen sollten. Denn es war Mai, und die Leute gingen unter dem Himmel wie unter einem Dach. Deine Hand ist auch kalt, sagte sie. Hör mal, sagte er – aber ein grauer Mann kam nah vorüber, schlurfend und staubig. Eine Taube flog vor ihn hin. Und er schlich, bückte sich und streckte langsam die Hand aus. Schon flog sie weg. Und er ging weiter. Einer, der seinem Unglück folgt. Denn was gibt sonst die Richtung. Dachte er. Glück hat keine Richtung. Die einzige Richtung ist Fortwollen. Wie lange bleiben wir hier stehen, fragte sie. Willst du weiter? Nein. Jetzt könnte er. Es roch nach Blüten, einen Windzug lang: Blau und kühles Grün, einmal um die Rinde bewegt. Wohl aus Langeweile begann sie, gegen die hervorgewachsene Wurzel zu treten. Mir ihren kleinen weißen Schnallenschuhen. Ihre Lider zuckten dabei schwach. Wenn er genau hinsah. Schon davon zuckten sie. Morgen war auch noch Zeit. Es würde jetzt mehr Zeit sein.
Er würde sagen: Mama kommt morgen.




3


Ich bin dein Vater! Amen. Eine Fliege, steigend auf Seinem Frühstücksei. Und Er, Vater, köpfte ihren Berg und kaute ihn. Und ich sage: Nein!! Wohin sind meine Knie geschmolzen, daß ich drauf falle. O Herr über fünf Zimmervoll Volk, pantoffelgewaltig. Während Antonia sehr sittsam ein rötlich Dotterbröckchen in ihr spitzes Lächeln löffelt. Und Alice zum Kauen den Ring auszieht, damit er sich nicht abnutzt: so ruhe auf wollenem Eierwärmer: wo er morgengoldig blinzelt. Denn sengend füllt der Schein des großen Lichtes, das da dumpfe Tage von dumpferen Tagen trennt, den großen dumpfen Tag. So wird aus Morgen und Abend ein tägliches Dumpfsein. Und Zeit häuft sich auf Zeit zu einem großen Haufen. Und Haufen auf Haufen zu einer großen Zeit. Und So auf Weiter bis in alle Undsoweiter. – Nur bis jene Zeit kommt: seines Auszugs. Er: mit der Gitarre auf der Schulter, die Sonne tief im Abend und neben der Straße dreihundertsechzig Längengrade: Er. – Ob du das verstanden hast, frage ich! Du sollst antworten!! Nicke listig. Jetzt laß doch den Jungen erst frühstücken. Sie spricht ja, die Mutter –: wie nasse Asche von verfallnen Schatten hin und wieder wohl zum Blitz aufglüht. Du sollst –, du sollst mich nicht unterbrechen!! Und den Rucksack kann er sofort auspacken! Sofort!! – Sechs Stahlsaiten Freiheit: in die greift man sein eigenes Lied, unterm eigenen Himmel, dem allereigensten Dach: dem Wind. Antonia schüttelt ihr eigenes Köpfchen. Wisch dir mal die Dotterlippe. Den Flaum im häßlichen Sonnengelb. Sofort!! Nicke feig. Die Fliege kriecht ihm schweigend ins Ei: die Fliege Gerechtigkeit. Jetzt laß doch – – Adelheid, du sollst –! Du sollst –!! Ja, Adelbert.
Ein himmlischer Fluch, Aurelius zu heißen.-




4


„Kaffee still!“ Eberhard wies mit dem Mittelfinger auf die Glaskanne. Er nahm sie und goß ein. Ja, Eberhard wollte auch. Er schenkte ihm zwei Schlucke aus, füllte die graue Tasse mit Milch und stellte sie vor Eberhard hin. Der fing sofort zu schlürfen an und rief wie immer: der guuute Kaffee! Während er wieder am Fenster stand und rauchte. Immer noch saß auf dem Zaun das Vogelpaar. Gertrud lag ausgestreckt im Gras. Wie er wußte, fand sie so Kontakt zum Erdinnern. Die Sonnenfärbung hatte sich ausgebreitet bis an ihr Haar und Zaun und Vögel schon hell überzogen. Den Zaun hatte er gestern repariert. Ein faules Brett abgeschlagen und ein andres, grünes, angehämmert, das im Schuppen gelehnt hatte. Eberhard, zwei Nägel haltend, hatte wie immer danebengestanden. Die Kippe knirschte leise unter seinem Finger; dann kam kein Rauch mehr. Es war still heute morgen. Er sah hinaus, schloß die Augen halb, daß das grüne Brett in der Wiese verschwand und der Zaun zwischen zwei Pfosten offen schien. Gertrud war blinzelnd aufgestanden und setzt sich dort: in die Luft. „Gerdi schweeebt!“ schrie ihm Eberhard ins Ohr, daß er erschrocken herumfuhr. Eberhard hielt die Augen genauso zusammengekniffen und griente nach draußen. Von ihrem Mongolenschnitt blieb kaum mehr als eine geschwungene Linie. Ein weißer Kaffetropfen rann ihm durch den Bart. Als Gertrud bemerkte, daß Eberhard am Fenster stand, präsentierte sie sich in sehr graziöser Pose. Hinter ihr lag fern die Stadt. Graue und glänzende Hülsen. Darüber aufgeschirmt ein fast zu reines Blau. Von der Brücke glitzerten hinübereilende Autos. Hinter dem Schuppen erschien jetzt ein bemäntelter Alter, der langsam ihre Sicht durchquerte. Der Zaun warf einen kurzen Schatten. Was für ein einfältiges Bild, dachte er. Und fühlte sich klein und behaglich darin. Er wandte sich ab und setzte sich zum Lesen in die Eckbank. Wie immer, wenn er das tat, war sein Buch vom Tisch verschwunden. Also trat er zum Kühlschrank und öffnete das Gefrierfach. Eberhard beobachtete ihn. Da lag es. „Geklaut, geklaut“ rief er, scheinbar lustig, aus. Er wischte es trocken und nahm erneut Platz. Eberhard hockte sich trotzig vor ihn, belauerte seine Leseeinsamkeit. Schlürfte aus der leeren Tasse. Da trat Gertrud ein. Die würde ihn ablenken. Eberhard errötete. Sie hatte sich schwungvoll neben ihn gesetzt und sah ihn an. Und während sie lächelnd seine Hand nahm und daraus zu lesen anfing, schloß er sein Buch und ging in die Sonne hinaus. An der Tür flattern irgendwelche Vögel über ihn weg. Er bleibt stehen. Der Neue, neben den Stufen kauernd, blinzelt erschrocken hinauf.
„Himmel“, lallt er.





5


Sofort zog er die Jalousie hinauf. Licht und hoch erschien die gegenüberstehende Häuserwand. Eine junge Schlanke mit glanzschwarzem Haar lehnte dort. Schritt lax den Balkon ab. Telefonierte. Sah sie ihn? Er schaltete Musik ein, öffnete das Fenster und machte sich gleichgültig an der Fensterbank zu schaffen, die schon leergeräumt war. Er sah zufällig hinüber. Sie war weg. Die gelbe, angewärmte Hauswand war ohne Bewegung. Über ihr zogen keine Wolken hin. Und die Menschen gingen aus unter solchem Himmel; um unter Ausgehenden zu sein. Der Innenhof war leer und schattig. Mülltonnen, ein Fahrrad, keine Taube. Er stellte die Musik ab: Bebop – wozu hätte ihn das antreiben sollen? Er konnte doch jetzt nicht wieder nach draußen, wo er soeben nach hause gekommen war. Schon seit einer Woche lief er in der Stadt umher. Hatte wenig gesehen, denn immer ging er eilig, ohne sich umzuschauen, eben wie einer, dem jeder ansieht, daß er die Stadt kennt und benutzt, in ihr einen Alltag organisiert hat und gerade auf dem Weg zu jemandem ist. Oder wie einer, der in seinem interessanten Leben interesselos gegen die anderen Leben ist. Wie ein Begehrter. Nicht wie ein Begehrender. Anfangs hatte er die Kisten ausgeräumt, Regale aufgebaut, die Bilder angenagelt. Und als er spät fertig war, ging er aus, um zu essen, und trat, müde und gelöst, bei einem Griechen ein. Zu seiner Linken saßen zwei junge Frauen um einen blonden, schlanken Mann. Sie sprachen englisch, lachten laut, und ein Mal, als ihm sein Messer entglitt und auf die Kacheln klirrte, sah man sich knapp nach ihm um. Sie ließen das Lokal sehr still zurück. War er der letzte Gast? Er aß eilig und ging. Erschöpft und leer, schlief er sofort ein. Er kam gar nicht dazu zu fürchten, daß er wachliegen müsse.
 



 
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