Dem Himmel so nah …
Sein Tod kam für alle unerwartet. In der Klinik hatte sich die Familie von Dieter verabschiedet. Dann aber wollte Petra ihren Mann vor der Beerdigung noch ein letztes Mal sehen. Als der Sarg geöffnet wurde, lag nicht Dieter darin sondern ein Unbekannter.
Die Beerdigung wurde aufgeschoben, die Kriminalpolizei benachrichtigt. Die Ermittlungen verliefen schleppend und wurden schließlich eingestellt. Niemand aus der Familie schaffte es, auf einer Aufklärung zu bestehen. So hatte Dieter, der in der Psychiatrie gestorben war, im Tod keinen Anwalt. Meine Tante Rosemarie, Dieters Mutter, weinte tagelang. Dann wurde eine Trauerfeier abgehalten und ein Kreuz auf das leere Grab gestellt. Das Leben ging weiter. Petra hatte es nach Dieters Tod schwer genug, ohne Geld und mit dem kleinen Jungen.
Gestern Abend saß ich am Fenster, schaute in den dunklen, sternenlosen Himmel und plötzlich schien Dieter bei mir zu sein. Es gab keinen Anlass, ich habe schon lange nichts mehr von seiner Familie gehört. Es geschah einfach so.
Dieter war mein Cousin und vier Jahre älter als ich. Wir sind in derselben Straße aufgewachsen und als kleine Kinder haben wir miteinander gespielt. Leider war ich das einzige Mädchen und als die Jungen in das Alter kamen, wo sie Mädchen verachten, war ich plötzlich ausgeschlossen. Nur zu Dieters Geburtstagsfesten durfte ich immer noch kommen. Damals bewunderte ich ihn, er war so groß und sah gut aus. Wir wurden älter und Dieter durfte aufs Gymnasium nach Giessen gehen. Für mich reichte die Gesamtschule.
Mit vierzehn fing Dieter mit dem Segelfliegen an und meine Bewunderung war kaum noch zu überbieten. Ab und zu war es mir erlaubt, zuzuschauen. Und als Dieter dann alleine fliegen durfte, nahm er mich ein paar Mal mit. Nicht so oft wie meinen Bruder natürlich. Das war wunderbar, in der Luft zu schweben, mit einem leicht flauen Gefühl im Magen. Der Wind pfiff und die Sonne brannte und ganz klein konnten wir die Erde unter uns sehen. Reinhard Mey hatte damals gerade über die Freiheit und die Wolken gesungen. Immer wieder summte ich die Melodie, auch noch, als ich den Boden längst wieder unter den Füßen spürte. Meine Lust und mein Neid waren grenzenlos. Ich war ein dickes Kind und Dieter ein verwegener Halbwüchsiger. Größer konnte der Abstand nicht sein.
Dann machte Dieter Abitur und ging zum Studieren zur Bundeswehr. Da war ich ein Teenager mit politischen Ansichten und fand Dieter unmöglich. Ich las Marx und Bakunin und schwänzte die Schule für einen Vortrag von Rudi Dutschke. Der wurde dann mein neuer Schwarm mit seiner schwarzen Mähne und den zusammengewachsenen Augenbrauen.
Während des Studiums wohnte ich in Frankfurt in einer Frauen-WG. An Dieter dachte ich selten und erwähnte ihn nie. Ein Cousin, der bei der Bundeswehr studierte, mit dem hatte frau nichts zu tun.
Meine Mutter erzählte mir dann, Dieter habe sie nach meiner Telefonnummer gefragt. Das war komisch, ich hatte aber keine Zeit, darüber nachzudenken. Denn noch am gleichen Tag rief Dieter mich an und wollte mich besuchen. Natürlich sagte ich nicht ‚nein’. Er kam und wir hatten einen netten, anregenden Abend. So sah ich das damals. Und heute frage ich mich … Damals fand ich es erleichternd, dass er die Bundeswehr kritisierte. Er fand, er gehöre nicht dazu. Das begeisterte mich. Ich fühlte mich bestätigt. Aber hätte ich es nicht ahnen können? An seinem Blick spüren können? Dass da ein Mann verzweifelt nach Hilfe suchte. Nach einem Halt. Ich war zu jung und ohne Erfahrung. Ich konnte den Blick nicht deuten, den Hilferuf nicht erkennen.
Ein paar Wochen später hatte ich wieder meine Mutter am Telefon: „Dieter hat Probleme bei der Bundeswehr. Er schafft es nicht, Vorgesetzter zu sein“ Ich sagte es nicht, aber ich triumphierte: Dieter würde aussteigen. Ich ahnte ja nicht, wie sehr.
Ein viertel Jahr später erfuhr ich von meiner Mutter: Dieter war in die Psychiatrie eingeliefert worden. Er war in der Kaserne auf einen Baum geklettert und hatte gesungen. Dann hatte er ‚wirres Zeug geredet’. Noch heute denke ich manchmal, vielleicht hätte ich es verstanden, das ‚wirre Zeug’. Aber ich konnte ihm nicht helfen. Ich besuchte ihn nicht. Ich hatte das Gefühl, es würde ihn verlegen machen, wenn ich ihn so sehe.
Dieter wurde aus der Bundeswehr entlassen. Damals war für mich klar: die Bundeswehr ist an allem schuld! Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht hatte er auch nur einen Halt gesucht. Und nicht gefunden. Dann die gute Nachricht: er heiratete. Petra war mit mir zur Schule gegangen. Eine ruhige, schmale, sehr warmherzige Person. Sie würde ihm Sicherheit geben. Und sie würde zu ihm stehen, das wusste ich. Er fand eine neue Stelle, denn er war gut gewesen als Ingenieur. Halbtags und von zuhause aus. Ich war erleichtert, als mir meine Mutter das berichtete. Jetzt würde alles gut werden. Als dann noch der Sohn geboren wurde, da war ich vollends zuversichtlich.
Aber die Idylle war trügerisch. Immer wieder verlor sich Dieter in einer anderen Welt. Da konnte auch Petra ihn nicht zurückholen: der Boden war zu schwer erreichbar. Sie liebte ihn und hatte das Kind mit ihm, das war die größte Chance. Aber es reichte nicht. Immer wieder entschwebte er und es blieb nur noch die Psychiatrie. Dort bekam er Medikamente. Das half ihm zeitweise. Ich war damals weit weg und mit meinem eigenen Leben beschäftigt.
Und dann war es zu spät: Dieter war tot. Auch da weiß ich nicht, wie es passiert ist, warum und wieso. In meiner Familie schweigt man sich über so etwas aus. Er war in der Psychiatrie gestorben, aber wie? Ich konnte schlecht die Trauer von Petra und Tante Rosemarie stören. Sie schämten sich und wollten das alles gar nicht so genau wissen. Herzversagen hieß es. Aber was bedeutete das? Am Schluss dann noch der Fremde in seinem Sarg. Ich dachte an Organtransplantation und dass sie ihn ausschlachten. So ein Toter in der Psychiatrie, der war der letzte in der Hierarchie, mit dem konnte man sich alles erlauben. Aber gesprochen habe ich darüber natürlich nie.
Am Schluss blieben nur Fragezeichen. Ich habe einen Brief an Petra und einen an Tante Rosemarie geschrieben. Sie waren dankbar für das Verständnis, aber auf mein Angebot, ihnen bei der Aufklärung zu helfen, gingen sie nicht ein. Ich habe das respektiert.
Lieber Dieter, Du warst bei mir, gestern Abend. Geht es Dir gut? Ich hoffe und ich denke es. Ich glaube, was Du wirklich hattest, war eine Seele. Und die konnte sich mit dem Körper nie ganz verbinden. Du warst ja schon im Leben immer dem Himmel so nah.
Sein Tod kam für alle unerwartet. In der Klinik hatte sich die Familie von Dieter verabschiedet. Dann aber wollte Petra ihren Mann vor der Beerdigung noch ein letztes Mal sehen. Als der Sarg geöffnet wurde, lag nicht Dieter darin sondern ein Unbekannter.
Die Beerdigung wurde aufgeschoben, die Kriminalpolizei benachrichtigt. Die Ermittlungen verliefen schleppend und wurden schließlich eingestellt. Niemand aus der Familie schaffte es, auf einer Aufklärung zu bestehen. So hatte Dieter, der in der Psychiatrie gestorben war, im Tod keinen Anwalt. Meine Tante Rosemarie, Dieters Mutter, weinte tagelang. Dann wurde eine Trauerfeier abgehalten und ein Kreuz auf das leere Grab gestellt. Das Leben ging weiter. Petra hatte es nach Dieters Tod schwer genug, ohne Geld und mit dem kleinen Jungen.
Gestern Abend saß ich am Fenster, schaute in den dunklen, sternenlosen Himmel und plötzlich schien Dieter bei mir zu sein. Es gab keinen Anlass, ich habe schon lange nichts mehr von seiner Familie gehört. Es geschah einfach so.
Dieter war mein Cousin und vier Jahre älter als ich. Wir sind in derselben Straße aufgewachsen und als kleine Kinder haben wir miteinander gespielt. Leider war ich das einzige Mädchen und als die Jungen in das Alter kamen, wo sie Mädchen verachten, war ich plötzlich ausgeschlossen. Nur zu Dieters Geburtstagsfesten durfte ich immer noch kommen. Damals bewunderte ich ihn, er war so groß und sah gut aus. Wir wurden älter und Dieter durfte aufs Gymnasium nach Giessen gehen. Für mich reichte die Gesamtschule.
Mit vierzehn fing Dieter mit dem Segelfliegen an und meine Bewunderung war kaum noch zu überbieten. Ab und zu war es mir erlaubt, zuzuschauen. Und als Dieter dann alleine fliegen durfte, nahm er mich ein paar Mal mit. Nicht so oft wie meinen Bruder natürlich. Das war wunderbar, in der Luft zu schweben, mit einem leicht flauen Gefühl im Magen. Der Wind pfiff und die Sonne brannte und ganz klein konnten wir die Erde unter uns sehen. Reinhard Mey hatte damals gerade über die Freiheit und die Wolken gesungen. Immer wieder summte ich die Melodie, auch noch, als ich den Boden längst wieder unter den Füßen spürte. Meine Lust und mein Neid waren grenzenlos. Ich war ein dickes Kind und Dieter ein verwegener Halbwüchsiger. Größer konnte der Abstand nicht sein.
Dann machte Dieter Abitur und ging zum Studieren zur Bundeswehr. Da war ich ein Teenager mit politischen Ansichten und fand Dieter unmöglich. Ich las Marx und Bakunin und schwänzte die Schule für einen Vortrag von Rudi Dutschke. Der wurde dann mein neuer Schwarm mit seiner schwarzen Mähne und den zusammengewachsenen Augenbrauen.
Während des Studiums wohnte ich in Frankfurt in einer Frauen-WG. An Dieter dachte ich selten und erwähnte ihn nie. Ein Cousin, der bei der Bundeswehr studierte, mit dem hatte frau nichts zu tun.
Meine Mutter erzählte mir dann, Dieter habe sie nach meiner Telefonnummer gefragt. Das war komisch, ich hatte aber keine Zeit, darüber nachzudenken. Denn noch am gleichen Tag rief Dieter mich an und wollte mich besuchen. Natürlich sagte ich nicht ‚nein’. Er kam und wir hatten einen netten, anregenden Abend. So sah ich das damals. Und heute frage ich mich … Damals fand ich es erleichternd, dass er die Bundeswehr kritisierte. Er fand, er gehöre nicht dazu. Das begeisterte mich. Ich fühlte mich bestätigt. Aber hätte ich es nicht ahnen können? An seinem Blick spüren können? Dass da ein Mann verzweifelt nach Hilfe suchte. Nach einem Halt. Ich war zu jung und ohne Erfahrung. Ich konnte den Blick nicht deuten, den Hilferuf nicht erkennen.
Ein paar Wochen später hatte ich wieder meine Mutter am Telefon: „Dieter hat Probleme bei der Bundeswehr. Er schafft es nicht, Vorgesetzter zu sein“ Ich sagte es nicht, aber ich triumphierte: Dieter würde aussteigen. Ich ahnte ja nicht, wie sehr.
Ein viertel Jahr später erfuhr ich von meiner Mutter: Dieter war in die Psychiatrie eingeliefert worden. Er war in der Kaserne auf einen Baum geklettert und hatte gesungen. Dann hatte er ‚wirres Zeug geredet’. Noch heute denke ich manchmal, vielleicht hätte ich es verstanden, das ‚wirre Zeug’. Aber ich konnte ihm nicht helfen. Ich besuchte ihn nicht. Ich hatte das Gefühl, es würde ihn verlegen machen, wenn ich ihn so sehe.
Dieter wurde aus der Bundeswehr entlassen. Damals war für mich klar: die Bundeswehr ist an allem schuld! Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht hatte er auch nur einen Halt gesucht. Und nicht gefunden. Dann die gute Nachricht: er heiratete. Petra war mit mir zur Schule gegangen. Eine ruhige, schmale, sehr warmherzige Person. Sie würde ihm Sicherheit geben. Und sie würde zu ihm stehen, das wusste ich. Er fand eine neue Stelle, denn er war gut gewesen als Ingenieur. Halbtags und von zuhause aus. Ich war erleichtert, als mir meine Mutter das berichtete. Jetzt würde alles gut werden. Als dann noch der Sohn geboren wurde, da war ich vollends zuversichtlich.
Aber die Idylle war trügerisch. Immer wieder verlor sich Dieter in einer anderen Welt. Da konnte auch Petra ihn nicht zurückholen: der Boden war zu schwer erreichbar. Sie liebte ihn und hatte das Kind mit ihm, das war die größte Chance. Aber es reichte nicht. Immer wieder entschwebte er und es blieb nur noch die Psychiatrie. Dort bekam er Medikamente. Das half ihm zeitweise. Ich war damals weit weg und mit meinem eigenen Leben beschäftigt.
Und dann war es zu spät: Dieter war tot. Auch da weiß ich nicht, wie es passiert ist, warum und wieso. In meiner Familie schweigt man sich über so etwas aus. Er war in der Psychiatrie gestorben, aber wie? Ich konnte schlecht die Trauer von Petra und Tante Rosemarie stören. Sie schämten sich und wollten das alles gar nicht so genau wissen. Herzversagen hieß es. Aber was bedeutete das? Am Schluss dann noch der Fremde in seinem Sarg. Ich dachte an Organtransplantation und dass sie ihn ausschlachten. So ein Toter in der Psychiatrie, der war der letzte in der Hierarchie, mit dem konnte man sich alles erlauben. Aber gesprochen habe ich darüber natürlich nie.
Am Schluss blieben nur Fragezeichen. Ich habe einen Brief an Petra und einen an Tante Rosemarie geschrieben. Sie waren dankbar für das Verständnis, aber auf mein Angebot, ihnen bei der Aufklärung zu helfen, gingen sie nicht ein. Ich habe das respektiert.
Lieber Dieter, Du warst bei mir, gestern Abend. Geht es Dir gut? Ich hoffe und ich denke es. Ich glaube, was Du wirklich hattest, war eine Seele. Und die konnte sich mit dem Körper nie ganz verbinden. Du warst ja schon im Leben immer dem Himmel so nah.