Der Alte vom Berg

"Glaubst Du, Du kannst das nachmachen?" fragte Rensu herausfordernd. Rensu war ein Jahr älter als der zwölfjährige Tolpien und außerdem nicht halb so dick.
Tolpien betrachtete skeptisch den Speer, den er in der Hand hielt. Er atmete tief ein, während seine rechte Hand den langen Schaft wägend zwischen den Ballen balancierte. Zitternd vor Anspannung setzte er seine gut zweihundert Pfund in Bewegung, holte aus und entließ die schlanke Waffe mit einem Stoßschrei in die Luft - er hatte sich ein Splint in die Hand gerissen.
Der Schmerz durchfuhr ihn wie eine der spitzen Nadeln, die der Dorfarzt benutzt hatte, um die Wunden der Krieger zu nähen. Tolpien schauderte, als er daran zurückdachte, wie er seinen eigenen, blutverschmierten Vater unter der heißen Nadel des Quacksalbers schreien hörte. Der Vater hätte den Arzt damals beinahe erwürgt vor lauter Schmerz.
Jetzt, sieben Jahre später, schien sich der Speer allerdings genauso wenig für Tolpiens Agonie zu interessieren wie sich der Doktor damals für den kleinen Tolpien interessierte. Er fiel nach gerade mal drei Metern in den Sand und blieb nicht einmal stecken.
"Sei still, Du Bastard!" hatte der Arzt gesagt, und Tolpien war sich bis heute sicher, daß er mit dieser Aussage gemeint war - obwohl er bei der Operation an seinem Vater keinen Laut von sich gegeben hatte. Nur gut, daß man den Arzt kurz darauf verstoßen hatte. Denn Tolpiens Vater war während der Operation gestorben. Tolpien konnte sich gut daran erinnern, wie dem Doktor damals, als er weggeschickt wurde, eine Narbe unter dem rechten Ohr beinahe aufgeplatzt wäre vor Ärger.
"Ich hab`s gewußt! Du triffst den Gartenzwerg in hundert Jahren nicht! Ich hab`s gewußt!" feierte Rensu. "Dein Speer ist ja nicht einmal steckengeblieben!"
"Ach, sei still, Du Bastard!" sagte Tolpien und rannte mit schmerzverzerrtem Gesicht davon, so schnell er konnte. Rensu holte seinen Kumpanen allerdings bald ein, stoppte ihn und schrie ihm ins schwitzende Gesicht:
"Wie hast Du mich genannt? Wie hast Du mich genannt? Ich bin kein Bastard! Hörst Du? Ich bin kein Bastard!"
Seine Finger krampften sich um das nasse Hemd Tolpiens.
"Mein Vater ist mein Vater! Verstehst Du? Mein Vater ist mein Vater!"
Er drückte den erschöpften weil viel zu schweren Tolpien nach unten.
"Meine Mutter ist keine Hure, Du Fettsack! Meine Mutter ist keine Hure!"
Seine geballte Faust traf die Stirn Tolpiens, bis sie aufplatzte und ihm das Blut über die Finger fließen ließ. Dann ließ er von seinem Freund ab, dessen unbeweglicher Körper nur durch die vergleichsweise schwere Atmung von einer Leiche zu unterscheiden war.
Rensu lief davon, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
In der Folgezeit begann Tolpien zu trainieren. Nicht nur körperlich mithalten wollte er endlich können, auch in den traditionellen Disziplinen wie Speerwerfen, Ringen oder Jagen wollte er besser werde, als Rensu es je sein würde.
Und im Jahr des Raubvogels, also fünf Jahre später, als ebenso kräftiger wie gewandter siebzehnjähriger Bursche schlug er Rensu im Speerwerfen, Ringen und Jagen. Zehn Monate später dann, im Jahr der Schlange, war es Zeit für die Wanderung, das Ende der Jugend- und der Beginn der Lehrzeit. Tolpien, der erreicht hatte, was er wollte, ging - ohne jedoch ein neues Ziel vor Augen zu haben.

Das Dorf Skundre lag wie hingespuckt zwischen drei Hügeln am Rand des großen Gebirges. Die Bewohner des Dorfes schienen ein gutes Leben zu führen, denn jedermann hatte genug für sich und seine Familie, so schien es. Es gab Bauern, einen Gerber, einen Töpfer, einen Schmied, einen Müller, usw., die allesamt vor ihren Häusern ihre Arbeit verrichteten bzw. ihre Waren anboten.
Tolpien, der auf halber Höhe zwischen den Feldern eines der Hügel saß, betrachtete sich das Treiben unter ihm nicht ohne Interesse. War es doch angesichts der offensichtlich nicht vorhandenen Armut recht eigenartig, daß man die Frauen des Dorfes zwar sehen, aber nicht lauthals tratschen hören konnte. Auch die Kinder schienen auf eigenartige Weise gehemmt. Sie rannten und spielten, doch fehlte es ihrem Rennen und Spielen irgendwo an Freude und Lachen. Je länger Tolpien da saß, umso neugieriger wurde er.
Also schulterte er schliesslich seinen Rucksack, nahm seinen Speer und stieg langsam die letzten Meter hinab ins Dorf. Er beschloß zunächst, sich eine Unterkunft zu besorgen und schlenderte auf der Suche nach einem Wirtshaus oder ähnlichem über den Dorfplatz, als ihn ein Junge über den Haufen rannte. Der Junge lief einem erstaunlich genau geschnitzten Vogel, den er am langen Arm vor sich hertrug, hinterher und stürmte aus schierer Unachtsamkeit in den nicht viel mehr auf seinen Weg konzentrierten Tolpien.
"Entschuldigung, Herr!" sagte der Junge, der zuerst wieder stand und Tolpien seine kleine Hand anbot, um ihm aufzuhelfen.
Tolpien legte seine Hand in die des Jungen, ohne allerdings wirklich dessen Hilfe anzunehmen und erhob sich.
"Es tut mir leid, Herr!" jammerte der Junge weiter. "Ich sage Frud immer wieder, daß er aufpassen soll - aber er will ja nicht hören!"
"Frud?" fragte Tolpien, während er sich den Staub aus den Kleidern klopfte und seinen Speer aufhob.
"Ja, Frud! Er ist an allem schuld!"
"Wer ist Frud?" fragte Tolpien noch einmal. Er sah erst jetzt den erschrockenen, ja beinahe angstvollen Blick in den Augen des Jungen und legte den Arm auf dessen Schultern, um ihn zu beruhigen.
"Du brauchst keine Angst zu haben, Kleiner - es ist nichts passiert! In Ordnung?"
Der Junge nickte schüchtern.
"Und jetzt erzähl mir mal, wer dieser Frud ist!"
"Frud ist mein Freund!"
"Dein bester, hm?
"Ja, mein allerbester! Aber er fliegt immer so schnell - ich komme da kaum hinterher!"
"Er fliegt?"
"Ja, Frud ist ein Vogel. Und Vögel fliegen!"
Tolpien stutzte ob dieser Erkenntnis.
"Stimmt, wie konnte ich das vergessen!" sagte er und:
"Wo ist denn Frud? Ich sehe ihn gar nicht!"
Der Junge blickte sich um.
"Da hinten!" Der Holzvogel lag ein paar Meter weiter auf dem Platz. Der Junge holte ihn, so schnell er konnte.
"Das ist Frud, Herr!" sagte er. "Und das ist ein Fremder, Frud...hm?...ich weiß nicht, wie er heißt...in Ordnung ich frage ihn!" Er drehte sich wieder zu Tolpien. "Wie heißen Sie eigentlich, Herr?"
"Tolpien." sagte Tolpien. "Und Du?"
"Drummu." sagte Drummu.

"Darf ich fragen, wohin Sie ihre Wanderschaft führen wird, Herr?"
Drummus Vater lehnte sich im selbstgebauten Sessel zurück und zog genußvoll an seiner ebenso selbstgeschnitzten Pfeife.
"Ich weiß noch nicht so genau." antwortete er. "Ich denke, ich werde erst einmal ein paar Tage hier ausruhen und dann weiter nach Norden ins große Gebirge ziehen."
Tolpien sah keine Regung in den vollbärtigen Gesichtszügen seines Wirtes, dessen Lider sich aber weit über die Augen senkten und die tiefen Augenhöhlen noch tiefer erscheinen ließen.
"Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee ist, Herr!" sagte der Vater ruhig.
"Warum nicht?" fragte Tolpien.
"Nimm den Jungen und geh ein bißchen mit ihm spielen!" befahl der Vater seiner Frau, deren Augen Tolpien voller Sorge musterten. Als der Vater und Tolpien alleine waren, begann die Erzählung vom "Alten vom Berg", dessen Heimstätte, der "Berg", nicht weit von Skundre entfernt, in nördlicher Richtung läge.
"...Es ist noch gar nicht so lange her, da konnte man in Skundre ungestört leben. Ich kann mich noch genau erinnern.Vor vielleicht dreizehn Jahren beschloß ein alter Mann - wer er war, wußte damals keiner und weiß auch heute noch keiner - sich am Berg niederzulassen, um den Rest seines Lebens in Einsamkeit und Ruhe zu verbringen...das sagt er zumindest selbst...hm, wie auch immer...der Platz dazu war jedenfalls gut gewählt, denn es gibt am Berg alles, was man braucht. Ein kleiner Bach, der weiter unten in einen See mündet, gibt das Wasser. Ein großer Wald, der sich auf allen Seiten des Berges die Hänge hochzieht, liefert genug Holz für Feuer und Obdach. Also hat er sich eine Hütte gebaut und ein paar Monate lang ein gutes Leben geführt.
Doch eines Tages kam eine alte Frau das Seeufer entlanggehumpelt. Sie ging gebückt, denn sie trug eine offensichtlich sehr schwere Tasche auf ihrem Rücken. Als sie näher an die Hütte herangekommen war, sprach sie den Einsiedler an:
`Hey, nimm mir die Tasche ab!´
`Warum sollte ich das tun?´ antwortete er.
`Weil sie mir zu schwer ist, Du Dummkopf!´
Das diese Redeweise dem Einsiedler nicht gefiel, ist selbstverständlich.
`Wer etwas möchte, sollte bitten, nicht verlangen!´ sagte er.
`Ach, fahr zur Hölle!´ schimpfte die Alte und ließ die Tasche fallen.
Dann stapfte sie weiter, ohne sich ein einziges Mal umzusehen.
Der Einsiedler hatte in der Folgezeit Probleme, sich auf sich selbst und sein Leben am See zu konzentrieren. Denn er hatte sich nicht getraut die Tasche wegzuwerfen oder, wie er es in manchen Momenten gerne getan hätte, zu öffnen.
Und, nun ja, eines Tages hat er sich dann überwunden und sich den Inhalt der Tasche angesehen."
Drummus Vater schwieg.
"Und was passierte dann?" fragte Tolpien.
"Er wurde zum Alten vom Berg!" antwortete der Vater.
"Weil er in die Tasche geschaut hat?"
"Weil er in die Tasche geschaut hat!"
"Ähm..”
Tolpien verstand die Geschichte nicht und hielt sie ausserdem auch nur für mässig spannend. Doch der Vater gab sich nicht zufrieden.
"Sie dürfen nicht nach Norden ziehen!"
"Warum nicht?"
"Weil Ihnen das nicht gut bekäme!"
"?"
"Die Geschichte ist noch nicht zuende..."
Tolpien wurde ein wenig neugieriger.
"...denn der Alte vom Berg wollte einen Lehrling. Er wollte einen Menschen aus dem Dorf, den er lehren konnte, was er weiss. Und als niemand gehen wollte, zündete er unser Dorf an. Dreizehn Tage hat es gebrannt! Erst als wir ihm versprachen, jedes Jahr einen Menschen zu schicken, hörte das Feuer auf!"
Der Vater schaute seinen Gast mit harter Miene an.
"Er hat das ganze Dorf angezündet?" fragte Tolpien
"Ja!"
"Bis ihr ihm ein Menschenpfand versprochen habt?"
"Ja!"
"Und das alles, weil keiner von Euch sein Lehrling werden wollte?"
"Ja?"
"Deswegen will er jetzt jedes Jahr einen Menschen haben?"
"Deswegen will er jetzt jedes Jahr einen Menschen haben, ja!"
"Jedes Jahr ein neuer Lehrling?"
"Nein."
"!?!" Tolpien hatte genug gehört, um überhaupt nicht zu wissen, was er von der ganzen Sache halten sollte.

Tolpien beschloß, länger als ein paar Tage in Skundre zu bleiben. Die Geschichte des Alten vom Berg, so unglaubwürdig und seltsam sie auch erschien, ließ doch seine Gedanken nicht los, denn die Bewohner, darunter erstaunlicherweise auch Drummu, erzählten ihm, von Drummus Vater aufgestachelt, so ausführlivh uns so viel sie konnten, über den Alten - und über dessen Opfer.
"Warum hat Dich dein Vater eigentlich fortgeschickt, wenn Du die Geschichte kennst?" fragte Tolpien.
Drummu antwortete nicht, sondern begann den Holzvogel Frud zu streicheln.
"Hast Du solche Angst vor dem Alten?"
Drummu hob den Kopf und schaute Tolpien tief in die Augen. Nach einem kurzen Augenblick stand der Junge auf und lief fort, Frud unter den Armen.
Tolpien saß da und sah Drummu nach.
`Was, zum Teufel, war das denn jetzt?´ dachte er. Er folgte dem Jungen langsam.
Auf einem Felsen hinter dem väterlichen Haus fand Tolpien, wen er suchte. Drummu saß da und weinte. Tolpien sah, wie Tränen auf Fruds hölzernen Körper fielen.
`Welch genau geschnitzter Vogel!´ dachte er unwillkürlich.
"Hast Du Frud selbstgeschnitzt?" fragte er laut.
Drummu schaute auf.
"Nein."
"Dein Vater hat mir erzählt, daß Du sehr gut schnitzen kannst!"
"Er lügt!"
"Wie bitte?"
"Ich kann nicht schnitzen!"
"Hm, er hat mir aber erzählt, daß Du Frud geschnitzt hast!"
"Frud ist nicht geschnitzt!"
"Was dann?"
"Keine Ahnung!" Drummu schüttelte den Kopf.
"Woher hast Du ihn denn?"
"Ich hab ihn gefunden!"
"Wirklich? Wo?"
"Am `Berg´!"
"An welchem Berg...?" Tolpien sah den Ausdruck in Drummus Gesicht. "An dem `Berg´?
"Ja, an dem `Berg´! Ich war dort."
"Alleine?"
"Nein. Mein Vater war mit dabei."
Tolpien staunte nicht schlecht, als der Junge anfing, vom letztjährigen Opfer zu erzählen.
"...und Vater sagte: `Komm mit!´ und dann sind wir zum Berg. Ich weiß bis heute nicht, warum wir dorthin gegangen sind. Wir sind hinter dem Opfer hergeschlichen, bis an den See. Und dann haben wir uns versteckt. Passiert ist aber nichts. Eine ganze Weile haben wir da im Dikicht neben diesen komischen Brettern gesessen und gewartet."
"Ist wirklich nichts geschehen?"
"Doch, doch! Aber erst, als ich auf dem Heimweg war!"
"Hm?"
"Als es dunkel wurde, bin ich weggelaufen. Mein Vater hat mir hinterhergerufen, doch der Berg fing plötzlich an zu leuchten. Und kalt geworden ist es auch. Ich habe richtig gefroren!"
"Und dann?"
"Dann wollte mir eine Spinne in den Kopf kriechen! Ich habe sie aber nicht reingelassen - und zum Schluß bin ich neben Frud aufgewacht."
Tolpien nickte verständnisvoll. Er verstand nichts.
"Mein Vater will nicht, daß ich sage, ich war dort."
"Deswegen hast Du den Vogel offiziell selbst geschnitzt, ich verstehe!"
Tolpien hatte keinen blassen Schimmer, was das alles zu bedeuten hatte, doch er bemerkte, wie sich in ihm etwas regte. Eine Mischung aus Glauben an den Alten und Neugier was dessen Person anging machte sich langsam aber sicher breit.
Er strich dem Jungen aufmunternd durchs Haar und ließ ihn dann alleine mit seinem besten Freund Frud.
"Wann müßt Ihr das nächste Mal einen Menschen dem Alten vom Berg opfern?" fragte Tolpien Drummus Vater im Haus.
Der Vater senkte die Lider.
"Im nächsten Monat! Warum?"
Tolpien schaute fest in die Augen des Vaters.
"Nein, das meinen Sie nicht ernst!?" sagte der, als er Tolpiens Blick bemerkte.

"Darf ich sie etwas fragen, Herr?" Drummu war zusammen mit seinem Vater von hinten herangekommen und zupfte Tolpien am Saum.
Tolpien drehte sich um.
"Aber natürlich!" sagte er.
"Warum wollen Sie sterben?"
"Ich möchte doch gar nicht sterben!"
"Nein?"
"Nein!"
"Wieso wollen Sie dann morgen das Opfer sein?"
"Weil ich denke, daß ich nicht sterben werde."
Drummus Gesicht verdüstertete sich. In seinen Augen stand die pure Sorge um Tolpien.
"Sie glauben nicht an den `Alten vom Berg´?" fragte er.
"Ich glaube nicht, daß die Leute, die zu ihm gehen müssen, sterben."
Tolpien bemerkte, daß ihm der Junge nicht glaubte.
`Er sieht fast aus, wie sein Vater, wenn er so schaut!´ dachte er. `Aber nur fast!´
"Mach Dir mal keine Sorgen um mich, Drummu! Ich werde schon heil zurückkommen!"
Der Vater nickte seinem Sohn zu und der hielt ihm darauf den Holzvogel unter die Nase.
"Hier!" sagte er.
"Was ist?" fragte Tolpien.
"Nehmen Sie Frud mit!"
"Willst Du das denn? Ich denke, er ist dein bester Freund."
"Frud hat mich beschützt, als ich am Berg war - ich habe ihm gesagt, daß er jetzt Sie beschützen soll, Herr!"
Tolpien nahm Frud in die Hand.
"Danke schön, Drummu! Ich bin mir sicher, daß mir Frud eine große Hilfe sein wird!"
Drummu nickte nur noch.

Tolpien stand im morgendlichen Regen, als er vom Dorf verabschiedet wurde. Die Gesichter der Menschen zeigten lange nicht das Ausmaß an Trauer, das Tolpien aufgrund der Ernsthaftigkeit, mit der der `Alte vom Berg´ betrachtet wurde, erwartet hätte. Lediglich Drummus Mutter, die ihm seine Henkersmahlzeit in ein Bündel gepackt und gegeben hatte, standen doch die Tränen in den Augen. Drummus Vater hingegen starrte ihn ungerührt an.
Also machte er sich auf nach Norden. Als geübter Wanderer kam er denn auch relativ bald in Sichtweite des Berges.
`Das ist er also!´ dachte er bei sich. Der `Berg´ war ein recht flacher, beinahe regelmäßiger Kegel, der, soweit Tolpien das beurteilen konnte, auf allen Seiten bis ins Tal hinunterreichte und nirgends durch einen Grat mit einem anderen Berg verbunden war. An der Spitze war dieser Kegel abgeflacht. Es sah aus wie abgeschnitten. Das so vorhandene Plateau trug eine steinerne Kuppel. Tolpien war enttäuscht. Er hatte etwas Dramatischeres erwartet. Eine Nadel von Berg, die nur unter größter Anstrengung zu erklettern wäre vielleicht. Oder zumindest einen zerklüfteten Riesenfelsen, dessen Ersteigung mit der Gefahr, in eine Spalte zu fallen, verbunden wäre. Oder...was auch immer. Auf jeden Fall nicht so etwas! Es würde leicht sein, da hinauf zu kommen.
Tolpien ging weiter bis zum See. Drummus Vater hatte recht gehabt: Wasser von oben und unten, Holz und Einsamkeit. Wer alleine sein wollte, der hatte hier ein perfektes, idyllisches Plätzchen gefunden.
Er wartete.
Nichts geschah. Genauso, wie er es erwartet hatte.
"Und jetzt? Soll ich wieder nach Hause gehen?" fragte er sich laut, als er ein morsches Holzstück entdeckte, dessen dunkle Farbe aus dem Dickicht hervorblinzelte. Tolpien ging näher heran und betrachtete sich das Ganze genauer. Er schob einige Äste beiseite und machte einen Schritt hinein in das Dickicht. Wo er auch hintrat, fand er Holz - sehr viel Holz.
`Das reicht aus, um eine schöne, große Hütte zu bauen!´ dachte er bei sich, als sich die Scheite unter ihm plötzlich bewegten.
Tolpien wurde nach hinten geschleudert und blieb benommen liegen, während sich vor ihm eine Hütte aufbaute. Auch das Dikicht verschwand. Dafür bildete sich ein Gemüsebeet auf der seeabgewandten Seite.
Und dann war alles wieder ruhig.
Tolpien rappelte sich auf und schlug sich den Staub aus den Kleidern. Der Rucksack klebte immer noch zusammen mit Frud und dem Bündel, das Drummus Mutter ihm gegeben hatte, auf seinem Rücken. Doch sein Speer war verschwunden. Nachdem er sich vom ersten Schock erholte hatte, schritt er mutig auf die Tür zu und zog an ihr. Sie war fest verschlossen.
Tolpien suchte sich einen starken Ast und versuchte, die Tür aufzubrechen. Beim dritten Versuch gelang das auch. Er hörte, wie der Riegel im Innern zerbrach.
`Morsches Holz ist morsches Holz!´ dachte er und öffnete die Tür. Innen drin erwartete ihn ein bekanntes Gesicht.
"Warum klopfen Sie nicht einfach?"
"Ich…ich hätte nicht gedacht, daß jemand hier drinnen ist!" antwortete Tolpien, der seine mühsam durch den erfolgreichen Versuch, die Tür aufzubrechen, wiedergewonnene Fassung erneut zu verlieren drohte.
Drummus Vater schüttelte resignierend den Kopf.
"Sie hätten nie herkommen dürfen, Herr!"
Tolpien schwieg.
" Sie glauben wirklich daran, nicht zu sterben?!" Er machte eine kleine Pause und winkte Tolpien dann ganz herein. "Sie haben recht, Herr! Sie werden nicht sterben." Er deutete auf Frud. "Wären Sie bitte so freundlich?"
Tolpien machte keine Anstalten, ihm den Holzvogel zu geben.
"Herr, Frud muß dorthin zurück, wo er hergekommen ist!"
"Wo er hergekommen ist?" fragte Tolpien und nahm den Holzvogel in die Finger.
"Wo er hergekommen ist!" er machte eine ausladende Geste mit der rechten Hand. "Schauen Sie sich doch einmal um!"
Tolpien hob seinen Blick und fing an zu zählen. Genau zwölf Holzfiguren standen auf einem an die Wand genagelten Brett links neben dem Eingang, der in Tolpiens Rücken lag. Er schaute genauer hin: Eine Schlange, eine Katze, ein Hund, ein Drachen, ein Tiger, eine Ratte, ein Wolf, ein Schaf, eine Libelle, ein Gartenzwerg, eine Fledermaus und - Tolpien lief ein kalter Schauer über den Rücken - Frud.
Frud, der Raubvogel!
"Wären Sie bitte so freundlich?" Der Vater deutete noch einmal auf den Vogel in Tolpiens Hand. Doch der achtete gar nicht darauf. In ihm rumorte es, seine Gedanken schossen im Schädel herum und versuchten verzweifelt, sich so zu ordnen, daß sie Sinn machten.
`Die zwölf Jahreszeichen!´; `Zweimal Frud!´; `Dreizehn Jahre!´; `Opfer!´; ...
Am Ende dann sagte er:
"Warum?"
"Geben Sie mir Frud!"
"Warum sind Sie hier?" Tolpien schaute den Vater verzweifelt an. "Sie haben Kinder!"
"Ich bin gezwungen, das zu tun, was ich tue. Geben Sie mir Frud und gehen Sie!"
”Sie mussten zum Berg kommen?”
”Ja!”
”Mit Drummu?”
”Ja!”
”Warum?”
Nach einer kleinen Weile antwortete der Vater...
”Er wollte meinen Sohn...!”
...mit ungerührter Stimme.
”...als Nachfolger!”
Tolpien wagte kaum zu atmen. Die Kälte, mit der der Vater seinen eigenen Sohn geopfert hätte, schockierte ihn.
”Als Nachfolger?”
”Als Nachfolger! Drummu sollte sein Lehrling werden.”
”Sollte?”
”Ja, aber er ist mir entwischt. Als der Alte vom Berg herunterkam, um Drummu zu holen, stand ich alleine da. Ich habe versagt!”
Tolpien zitterte.
”Ich hätte das Dorf erlösen können - Drummu hätte das Dorf erlösen können!” Auch der Vater begann, Regung zu zeigen. ”Wenn Drummu zum Alten geworden wäre, hätte er dem Dorf helfen können! Er hätte mir helfen können! Ich hätte das Dorf mit seiner Hilfe beherrscht...”
"Nein!" Tolpien zuckte in sich zusammen. War das wirklich Drummus Vater, den er da sah?
"Wie bitte?" fragte der.
"Nein!" Tolpien schrie den Vater an.
"Geben Sie mir den Vogel und gehen Sie!" schrie der Vater zurück.
"Nein!" Tolpien stolperte nach vorne und schlug dem Vater mit der geschlossenen Faust ins Gesicht. Er hörte, wie der Backenknochen des Älteren knackte. Dann sackte er in sich zusammen.

Als Tolpien wieder zu sich kam, war es bereits dunkel. Er erhob sich. Er hatte im ersten Moment Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Natürlich, da unten war der S...da unten?!?? Tolpien war plötzlich hellwach! Er schaute sich um und stellte fest, daß er von einer runden, steinernen Wand vollkommen umgeben war. Lediglich ein paar provisorische Fenster waren in den Fels geschnitten, durch die er das im Mondschein glitzernde Wasser sehen konnte.
Tolpien betrachtete sich den Raum genauer. Ganz offensichtlich befand er sich im Innern der Kuppel, die genauso eingerichtet war, wie die Hütte am See. Sie war nur...Tolpien überlegte...runder eben!
Dafür war aber alles vorhanden, was Tolpien schon am See gesehen hatte, sogar ein steinerner, zerbrochener Riegel lag vor der Tür und bot einen erbärmlichen Anblick. Tolpien blinzelte ahnend und schaute auf. Da war tatsächlich auch die Anrichte mit den Jahreszeichen. Er zählte...zwölf, dreizehn! Ein steinerner Raubvogel stand an beiden Enden der Reihe. Man hatte ihm also Frud weggenommen, während er ohnmächtig war. Instinktiv fühlte er nach seinem Speer und seinem Rucksack.
"Ich denke, das gehört Dir, Du Bastard!" Tolpien drehte sich ruckartig um und sah gerade noch, wie sein eigener Speer auf ihn zugeflogen kam. Es war sein Glück, daß der Werfer wohl noch nie wirklich mit einem solchen Gerät umgegangen war, denn er verfehlte den jungen Mann weit.
Der alte Mann lachte schmatzend, als er den erstaunten Ausdruck in Tolpiens Gesicht sah und warf ihm den Rucksack hin.
"Hier! Das ist auch deins!" Er schleckte sich die Finger. "Wer hat eigentlich dieses vorzügliche Bündel mit Essen geknüpft, sag?"
Tolpien wunderte sich ein bißchen, als er den Rucksack aufhob und den Inhalt überprüfte. Zum einen über seine eigene Kaltschnäuzigkeit beim Speerwurf und zum anderen erinnerte ihn die Narbe unter dem rechten Ohr des alten Mannes an irgend etwas.
"Ich kenne Dich! Wer bist Du?” fragte er.
"Ich bin der Alte vom Berg!" donnerte der alte Mann mit einer tiefen bauchigen Stimme und fügte dann mit etwas leiser hinzu. "Und Du bist, Tolpien, richtig?"
Tolpien nickte kurz.
"Der kleine Bastard!"
Tolpien schwieg.
"Komm schon!" sagte der Alte etwas leiser. "Wenn Du schon nicht auf einen Speerwurf reagierst, dann wehr Dich wenigstens gegen eine Beleidigung!" er machte eine resignierende Handbewegung und ging auf Tolpien zu. "Ach, mit Dir ist Hopfen und Malz verloren! Da lobe ich mir doch Rensu! Das war ein Kämpfer! Hat sich bis zum letzten verteidigt. Der ist sogar noch geflohen, als sich letztes Jahr die Hütte unten aufgebaut hat, und er für einen Moment weder Holz noch Stein war. Und das alles nur um mir nicht in die Hände zu fallen! Ts, und jetzt steht er doch wieder da oben - so wie es sich gehört! Der hat wirklich geglaubt, es brächte ihm etwas, zu kämpfen..."
Pause
"Hm!?!!!"
Tolpien sah wie der Alte überlegte. Ihm schien etwas eingefallen zu sein.
"Du willst also nicht kämpfen?" fragte er Tolpien.
Tolpien schwieg immer noch, begann aber nun seinerseits, den Alten mit den Augen zu fixieren. Auch ihm war etwas eingefallen. Etwas, das ihm gar nicht gefiel.
"Genau wie früher, hab ich recht...?" fragte der Alte.
Tolpien kniff die Lider zusammen, während der Alte weiter quatschte.
"...Rensu hat gerungen, den Speer geworfen, gejagt und Du? Du hast geheult! Na ja, wenigstens bist Du nicht mehr so fett wie damals!"
Tolpien mußte sich beherrschen, doch er schwieg weiter.
`Von wegen einsames und ruhiges Leben führen!" dachte er. Er war sich seiner Sache jetzt ganz sicher.
"Weißt Du, wie sie Dich damals in deinem Dorf genannt haben, Tolpien? Hm? Weißt Du das? `Tolpien, der Fettsack´..." Der Alte beugte sich gönnerhaft nach vorne, und tätschelte Tolpiens Kopf. "...das warst Du, Kleiner! Oder `Tolpien, der Bastard´! Das warst auch Du! Kannst Du Dir das vorstellen? Du bist ein Bastard, Tolpien, ein Bastard!"
Tolpiens Augen wurden immer kleiner, als der Alte begann, mit langsamen, schlurfenden Schritten um ihn herumzugehen.
"Oh, ich fühle, daß Du Dich ärgerst. Du möchtest mich am liebsten schlagen, nicht wahr? Tu es! Tu es einfach! Tu dasselbe, das dieser Dummkopf gemacht hat, als er letztes Jahr mit seinem Sohn hierherkam! Nur schade, daß der Kleine schlau genug war wegzurennen. Hätte er die Tasche erst einmal in den Fingern gehabt..." Der Alte ließ einen Stoßseufzer hören. "...wirklich schade!"
Tolpien schwieg.
"Komm schon! Ich weiß, daß Du nicht so ruhig bist, wie Du tust. Du hast das Temperament deiner Mutter! Du hattest nur nie die Stärke, es ausleben zu dürfen. Schau Dich doch jetzt einmal an! Du bist stark geworden! Du kannst es Dir leisten, verärgert zu sein! Du kannst es Dir leisten, jemanden zu schlagen! Du bist stark!" Der Alte ballte die Faust. "Genauso stark, wie ich es war, als dein Vater im Krieg war, und deine Mutter unter mir lag!"
Tolpien zitterte am ganzen Körper. Er war also tatsächlich ein Bastard!
Oder log der Alte? Tolpien beruhigte sich wieder ein bißchen.
"Du lügst!" sagte er, ohne den Alten aus den Augen zu verlieren.
"Siehst Du diese Narbe hier, Sohn?" fragte der Alte und deutete unter sein rechtes Ohr. "Sie stammt vom Mann deiner Mutter!"
Tolpien zitterte wieder.
"Du warst doch dabei, als er mich erwürgen wollte! Er hätte sich ruhig die Nägel schneiden können, bevor er auf mich losging." Der Alte berührte fast die Stirn Tolpiens, als er nun seinerseits dessen Augen fixierte. "Warum glaubst Du denn, hat er mich umbringen wollen?"
Beide schwiegen, als sich diese Frage ins Hirn Tolpiens fraß und in seinem Schädel ein tausendfaches Echo erzeugte. Er spürte, wie in ihm der blanke Haß aufstieg und immer stärker zu werden versuchte.
Es dauerte einige Sekunden, und dann hatte er denn alten Mann derartig verprügelt, daß dieser wie ein Haufen Elend auf der Erde lag und sich krümmte. Tolpien drehte sich um und griff mit klammen Fingern nach seinem Speer, der ein paar Schritte hinter ihm an der Wand lag. Seine Augen waren geöffnet und voller Haß. Ein Paar schmerylich ernst dreinblickender Augen sah von der aufgebrochenen Tür aus, wie der Alte kurz lächelte, bevor Tolpien im milchigen Licht des leuchtenden Berges schwer atmend zustach.

Am nächsten Tag dann war Drummu außer sich vor Freude, als er Tolpien erkannte.
"Sie leben! Sie leben!! Sie leben!!!"
Er rannte auf Tolpien zu und fiel ihm um den Hals. Tolpien schien das allerdings nicht zu bemerken, denn er ging weiter, ohne auf den Jungen, der an seinem Hals baumelte, zu achten. Sein Ziel war das Haus von Drummus Vater!
Drummu selbst schrie so laut er konnte, denn er bemerkte, daß etwas nicht stimmte. Die Dorfbewohner kamen aus den Häusern gelaufen und wollten dem Jungen helfen, doch Tolpien hob Drummu einfach in die Luft und schleuderte ihn zur Seite. Die Menschen schienen damit auf die eine oder andere Art zufrieden zu sein, denn sie ließen ihn weitergehen.
Am Haus des Vaters dann zog Tolpien einige Feuersteine aus seinem Rucksack und zündelte. Ein paar Minuten später stand fast das komplette Dorf vor dem brennenden Haus, während Tolpien auf dem Weg zurück zum Berg war, der Spinne in seinem Kopf ganz und gar gehorchend. Lediglich der Vater hielt sich im Hintergrund und saß auf einem Stein ausserhalb des Dorfes, um seine Wunden zu lecken...
 



 
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