Der Augenarzt-Ripper von Dublin

hades

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Der Augenarzt-Ripper von Dublin

Kurz nach der Jahrhundertwende ins Zwanzigste hat sich eine seltsame Mordserie ereignet, die als die Morde des Augenarzt-Rippers von Dublin in die Geschichte eingegangen sind.

Das merkwürdige an diesen Fällen war, dass ausschließlich Augenärzte Opfer des geheimnisvollen Rippers geworden sind. Die Morde ereigneten sich ausnahmslos in den Nächten zum siebzehnten März vor dem St. Patricks-Day. Am Morgen schwamm dann gewöhnlich eine aufgeschlitzte und enthauptete Leiche mit blutdurchtränktem weißen Kittel im River Liffey, obwohl seit bekannt werden der Tätigkeiten des Rippers in der entsprechenden Nacht die Streifen der Polizei verstärkt wurden. Die Morde hörten eines Tages auf, wie sie begonnen hatten: der Ripper wurde nie gefasst.

Vor wenigen Tagen fiel mir in einer alten Bibliothek am Liffey ein vergessenes Büchlein in die Hände, das trotz seines offensichtlichen Alters noch nie gelesen zu sein schien. Als ich den vergilbten Deckel aufschlug, erkannte ich den Grund. Auf gestärktem Papier stand handgeschrieben der sonderbare Titel:

Der Musiker und das Monster

Ich erwarb das Büchlein für 20 Pence und noch auf dem Rückflug nach Düsseldorf begann ich zu lesen. Sehr bald wurde mir klar, dass ich wohl im Besitz des einzigen und originalen Exemplars eines Buches über die Geschichte von Brandon dem Ripper war.
***
Es lebte lange Zeit vor dem ersten Mord in einem Cottage bei Enfield im County Meath der ebenso faule wie arme Farmer Seán McLought. Nun war Faulheit in diesem Teil von Irland seinerzeit kein Makel und McLought war, da er selten die verunstaltende Last von Arbeit auf sich nahm, ein gutaussehender Mann mit gutem Leumund. Seine Frau Laura war die schönste Frau im Dorf und mancher Jüngling verrenkte sich seinen Hals nach ihr, wenn sie am Morgen zur heiligen Messe ging.
Die McLoughts hatten eine Tochter mit einer Stimme, deren Klang die Gesänge der Nachtigall weit in den Schatten stellte. Jeder im Dorf kannte diese Stimme, aber nie hatte einer diese Tochter zu Gesicht bekommen, obwohl die verzauberten Burschen des Dorfes keine Gelegenheit ungenutzt ließen, einen Blick von der Eigentümerin zu erhaschen.
Es war kein Wunder, dass die McLoughts ihre Tochter niemals zeigten, denn diese arme Göre war die Ausgeburt der Hässlichkeit. Es ist kaum zu beschreiben, wie hässlich Joeann war. Ihr Gesicht glich einem riesenhaften Geckoantlitz mit einer fortgeschrittenen Akne nach einem Unfall mit einer Dampfwalze. Mit neun Jahren war sie bereits 1,90 m groß und hatte den Körperbau eines schwangeren Orang-Utan Weibchens nach einem Crash mit einer Elefantenherde. Ihre charakteristischen Merkmale manifestierten sich noch mit zunehmendem Alter. Das Wachstum beschränkte sich aber auf den Rumpf, während die Beine bereits mit dem siebenten Lebensjahr zu wachsen aufgehört hatten. Diese etwas eigenwillige Konstruktion der Natur verlieh ihr einen eigentümlichen Gang, den ich wohl niemandem beschreiben muss. Die Hässlichkeit des Mädchens war so abgrundtief, dass der Vater es vor Grauen nie über sich brachte, sie anzuschauen. Da sie die einzige Tochter der McLoughts war, liebte ihr Vater sie trotz ihres erbarmungswürdigen Aussehens abgöttisch und mit vorwurfsbeladenem Gewissen. Der Vater vermutete nämlich den Grund für die Abscheulichkeit seiner Tochter in seinem ausschweifenden Putinkonsum. Putin ist ein selbst hergestellter achtzigprozentiger Gerstenbrand, der fürchterlich schmeckt und in dem Ruf steht, blind und impotent zu machen. Der einzige Reiz dieses Gebräus bestand in der Illegalität, denn Herstellung und Besitz dieses Sprits war streng verboten. Dennoch fehlte dieses starke Gift in keinem irischen Haus, weil der Konsum als eine Art Aufstand gegen die englischen Besatzer verstanden wurde und noch heute im Andenken an die Unabhängigkeit illegal zelebriert wird. Kurzum, Seán McLought glaubte an die patriotische Verkrüppelung seiner Spermien und die abgöttische Liebe zu seiner hässlichen Tochter war nicht weniger patriotisch. Nur das Anschauen ging über seine Grauensschwelle.
Was er nicht wusste: Joeann war das Resultat des einzigen Seitensprungs seiner schönen Frau Laura mit dem russischen Wrestling-Bösewicht Iwan Bornikow, der einmal in Dublin gastierte und in der Catchszene „Iwan der Schreckliche“ genannt wurde. Die Animalität dieses Unwesens hatte Laura damals sehr angezogen.
Leider hatten sich fast nur die ungünstigen Anlagen Iwan Bornikows auf Joeann vererbt. Das einzig Positive war die Stimme einer Urgroßtante Iwans, die einst die Nachtigall von Petersburg genannt wurde.
Seán McLoughts Spermien waren also nicht der Grund für die Hässlichkeit Joeanns und sie waren nicht einfach verkrüppelt, sondern wahrscheinlich bereits vor langer Zeit den patriotischen Heldentod im Putin gestorben, was ihn selbst kinderlos bleiben ließ.
Im festen Glauben an die ungeheuerliche Weisheit, dass auf jeden Topf ein Deckel passe, rief er seine vermeintliche Tochter eines Tages zu sich.
„Du meine geliebte Tochter“, hob er angewidert mit abgewandtem Gesicht an, „du sollst nach Dublin in die Schule des blinden Generalmusikmeisters Brandon Walsh gehen, der dein Talent als Sängerin ausbilden und dich zu einer großen Künstlerin machen wird.“
Mit Tränen in den Augen verließ die sensible Joeann wenig später in einem Ochsenkarren ihre Mutter und den sogenannten Vater. Noch während sich der ächzende Ochse mit dem schwergewichtigen Mädchen aus dem Dorf herausmühte, ergriff den liebenden Pseudovater eine Erleichterung, wie er sie seit seiner Hochzeit nicht mehr erlebt hatte. Seán sollte seine Kuckuckstochter nie mehr wiedersehen.
Nur am Rande sei hier erwähnt, dass die Spermien nicht, wie zunächst vermutet, den patriotischen Heldentod im illegalen Schnaps gestorben sind, sondern beim Anblick seiner „monsterhaften“ Tochter in eine Art todesähnliche Lethargie verfallen waren, die sich erst nach dem Verlust des geliebten Monsters auflösen sollte. Es ist bekannt geworden, dass sich seine Spermien fortan permanent erholten und er später noch Vater von zwölf hübschen Kindern wurde.
Joeann McLought kam wohlbehalten beim blinden Generalmusikmeister in Dublin an. Während der völlig erschöpfte Ochse der Notschlachtung zugeführt wurde, ergriff sie ihr kärgliches Bündelchen und reichte Brandon Walsh ihren kleinen Finger, den dieser aufgrund der Größe für ihre Hand hielt. Ihre ersten Worte mit der Lieblichkeit ihrer Stimme bezauberten den Musikmeister dermaßen, dass er sich ad hoc in Joeann verliebte. Sie bemerkte dies sehr wohl und beschloss, sich sensibel zu verhalten und ihre Chance zu nutzen. In der folgenden Zeit kamen sie sich sehr schnell näher. Während Joeann sich musikalisch völlig hingab und ihre fast perfekte Stimme nach kurzer Zeit noch lieblicher erschallte, hielt sie sich körperlich eher zurück. Brandon Walsh war ihr vollends verfallen, so liebreizend war ihre Stimme. Für die Körperlichkeit reichte sie ihm aber nur ihren mächtigen Arm, den er für ihren Leib hielt und den er lieb gewann. Beim Geschlechtsverkehr hatte sie eine Technik mit ihren Fingern entwickelt, die ihm Zeit seines Lebens nie aufgefallen wäre, wenn er nicht die folgende Katastrophe inszeniert hätte:
Der Verliebte, bezaubert von der lieblichsten Stimme, die seinem perfekten Gehör jemals untergekommen war, hatte nur den einen sehnlichen Wunsch seine mittlerweile geehelichte Joeann einmal zu Gesicht zu bekommen. Deshalb suchte er den damals in Dublin sehr bekannten Augenarzt Kevin Feerick auf, der in dem Ruf stand, seltene Augenkrankheiten, wie die des Generalmusikmeisters, heilen zu können. Was der Musiker nicht wusste: seine Blindheit war traumatisch bedingt und durch ein frühes Erlebnis in seiner Kindheit angelegt worden. Doch der Augenarzt war ein verwunschener Psychiater und erkannte die Ursache des Leidens auf Anhieb. So dauerte es nur wenige gutbezahlte Sitzungen, und Brandon verließ geheilt die Praxis.
In der Verwirrung der plötzlich visuell auf ihn einströmenden Ereignisse kristallisierte sich zusehends ein einziges Verlangen heraus: seiner geliebten Joeann ins Antlitz zu schauen. Kaum konnte er es erwarten, nach Hause zu kommen. Schnell eilte er zur Raglan Road, wo er sein Domizil hatte. Mit klopfendem Herzen hechtete er die Stufen zu seiner Stube hoch und riss die Tür zur Lounge auf, in der Joeann für gewöhnlich saß und strickte.
Ein riesiges Ungetüm hockte grinsend auf seiner Couch.
‚Es hat sie gefressen’, hämmerte es ihm im Kopf. Er hatte nur noch einen Gedanken: den Mörder seiner geliebten Gattin zu vernichten. Wie von Sinnen stürzte er in den Rittersaal seiner Wohnung und riss der ersten Rüstung das Schwert heraus. Damit stürzte er in die Lounge, um das Ungeheuer zu enthaupten.
Joeann wusste nichts von seinen heimlichen Besuchen beim sogenannten Augenarzt – schließlich wollte Brandon sie ja überraschen. Als der bewaffnete, wild entschlossene Gatte sich mit erhobenem Schwert auf das vermeintliche Monster stürzte, hielt sie es für eine der wilden Sexvarianten, denen sich der Musikmeister gelegentlich hingab. Wie üblich reichte sie ihm ihren Arm, damit er sich austoben könne. Ächzend krachte er gegen diesen und als er den Arm umfasste, um nicht zu Boden zu gehen, kam ihm das Gefühl der Umarmung seltsam vertraut vor. Als sie noch ihre Finger spreizte und ihm mit ihrer lieblichen Stimme vorsang:
„Komm, mein Geliebter, besorge es mir so richtig“, kam ihm ein fürchterlicher Verdacht.
Was jetzt passierte, ist in wenigen Worten erklärt:
Von der schrecklichen Erkenntnis getrieben, stürzte der Generalmusikmeister mit seinem Schwert unter dem Mantel aus dem Haus. Auf kürzestem Weg rannte er in die O’Connell Street zum verwunschenen Psychiater Kevin Feerick, schlitzte ihn der Länge nach auf und schlug ihm ohne Umschweife den Kopf ab. In der Nacht, es war die vor dem Tage des St.Patrick﷓Days, wuchtete er sein Opfer in den nahe fließenden Liffey. Fortan überfiel ihn in den nächsten 15 Jahren am Vortag dieses Feiertages der unwiderstehliche Zwang, einen Augenarzt zu rippen. Nie erkannte er seinen Irrtum; denn eigentlich hätte er Psychiater morden müssen.
Der Generalmusikmeister Brandon Walsh, der Ripper der Augenärzte, fiel beim Osteraufstand 1916 am Generalpostoffice in der O’Connell Street. So hatte im Nachhinein Seán McLought durch die Aufzucht seiner Kuckuckstochter doch noch indirekt Anteil an einem patriotischen Ereignis.
Über das weitere Schicksal der bedauernswerten Joeann wurde nichts bekannt.
Musikmeisterirrtümer sind in der ganzen Welt weit verbreitet. So sind schon immer mehr Augenärzte als Psychiater ermordet worden. Das mag wohl der Grund dafür sein, dass heute noch immer so viele Psychiater ihr Unwesen treiben.

© Erich Romberg, Mai 2001
 



 
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