Der Augenblick

drama

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Zwei Elemente. Beide zum Leben benötigt. Luft und Wasser. Nur verschiedene Stoffzusammensetzungen. Lebenswichtig.
Ich atmete tief durch die Nase ein und durch den Mund aus. Es bildeten sich Luftblasen im Wasser, die rasch an die Oberfläche traten.
Hatte ich das gerade zum letzten mal in meinem Leben getan? Ich wiederholte es gleich noch einmal.
Meine Lilli hatte es oft gemacht und sich dabei fast verschluckt - meine kleine, süße Lilli.
Tropf, tropf, tropf, tropf.
Ich beobachtete gedankenverloren, wie sich das flüssige Element wieder und wieder zu einem Tropfen formte und sich vom Wasserhahn löste. Das grellweiße Licht fiel auf meine Haut und lies sie noch fahler erscheinen, als sie schon war. Eine der Röhren flackerte und gab regelmäßig ein Knacken von sich.
Knack, knack, knack, knack.
Doch ich hörte hauptsächlich meinen eigenen schweren Atem unter Wasser. Wasser.
Die letzten Atemzüge.

Es war ein Sonntagnachmittag gewesen. Ich hatte mit Lilli einen ausgedehnten Spaziergang durch die Felder in der Nähe unseres Hauses gemacht. Es war ein schöner Tag, für April recht warm und die Sonne brach immer wieder durch die Wolken. Lilli spielte ein Stück weiter im hohen Gras, während ich las. Sie sang - leise und hoch. Ich schloss kurz die Augen und lauschte ihrer Melodie.
Ein störender Ton erklang - mein Handy. Entnervt ging ich ran. Workaholic.
\"Ja, Sean Anderson am Apparat.\"
Kurze Stille, erfüllt mit dem Lied der Kleinen.
\"Mr. Anderson?! Hier Penelope. Vor Haustür steht zwei Polizeimänner und wollen sie sehen. Sie kommen?\"
Ich stockte.
\"Ja, sicher, ich komme. Bis gleich.\"
Die Gedanken kreisten auf dem Weg zum Haus unaufhörlich. Das letzte mal, dass ich mit der Polizei auf diese Weise in Kontakt getreten war, war bei dem Tod meiner Frau Stella gewesen, oder vielmehr bei ihrem Verschwinden vor drei Jahren. Da war Lilli vier gewesen. Wir schafften den Rückweg in der Hälfte der Zeit. Das war ein Fehler gewesen, den ich später sehr, sehr bereut hatte.
Es ging furchtbar schnell und Lillis Tränen kamen in der folgenden Nacht noch in meinen Träumen vor. Sie nahmen mich mit, verhörten mich scheinbar stunden-, tage-, wochenlang, sperrten mich ein. Nichts davon machte mir zu schaffen. Nur was sie mir mitteilten rotierte, zischte und schrie Tag und Nacht in meinem Kopf - ein Gefühl, wie tausend Glassplitter darin. Stella, geschändet und tot in einem nahe gelegenen Waldstück. Gebrochene Knochen, Würgespuren, 36 Messerstiche. Es klang fast nach einem Klischee. Was hat sie nur durchmachen müssen - drei Jahre lang? Ich hätte sie retten müssen.
Sie hatten mich beschuldigt. Mein Alibi war miserabel gewesen und es hatte falsche Zeugenaussagen gegeben. Anfänglich hatte mich das alles gar nicht interessiert, bis ich merkte, dass sich die Augen der Polizisten mit immer mehr Abscheu füllten und meine Hoffnung nach Hause zu Lilli zu kommen, rapide schwand. Ich stand plötzlich vor einem Berg, ohne jegliche Möglichkeit ihn zu besteigen.
Die Tage in der Zelle, sowie die Prozesse kamen und gingen. Ich zerfiel langsam. Ein Großteil von mir war bei Lilli, ein anderer Teil bei meiner verstorbenen Frau und der klägliche Rest kauerte zwischen den nasskalten Steinen der Gefängniszelle. Ich war ein Wrack. Das Wrack verlor die Prozesse und wurde zur Todesstrafe verurteilt. Elektrischer Stuhl. Nicht gerade unüblich für Nebraska.

Das Wasser war fast kalt, aber das störte mich nicht. Wahrscheinlich dauerte es kaum mehr eine Stunde bis zu meiner Hinrichtung.
Sicher, ich hatte Angst. Ich gehörte leider nicht zu den Menschen, die den Tod als Teil des Lebens ansahen. Doch ich hatte auch Angst gehabt, als ich als kleines Kind verloren gegangen war. Ich hatte Angst gehabt, als ich unerlaubt einen Horrorfilm gesehen und an eine Alieninvasion geglaubt hatte. Ich hatte mit siebzehn Angst gehabt, als mein Vater an Darmkrebs gestorben war. Ich hatte schmerzhafte Angst gehabt, als Stellas Blutungen bei der Geburt unserer Tochter zu stark wurden. Und ich hatte Angst gehabt, als ich Lillis tränenüberströmtes Gesicht zum letzten mal geküsst hatte, bevor ich aufs Revier gefahren war. Angst ich ein Teil des Lebens, soviel begriff ich wenigstens.
Es ist wahr, dachte ich. Es ist wirklich wahr, dass man in einem solchen Moment, kurz bevor man von der Klippe springt, ob man geschubst wird oder nicht, sein restliches Leben anders wahr nimmt. Ich wusste, ich hatte viele Fehler in meinem Leben gemacht. Einer der größten war wahrscheinlich Stella nicht gefunden zu haben. Nur muss man diese wohl als Teil seiner selbst akzeptieren. Hätte ich damals nicht den Fehler gemacht und den Bus verpasst, wäre ich Stella wohlmöglich nie über den Weg gelaufen. Ihr Lächeln hatte mir jedes mal den Atem geraubt.
Ein Wärter schlug drei mal kräftig gegen die Eisentür - unnötig kräftig. Der Klang hallte nach - in all meinen Gliedmaßen. Die Erinnerung an die Zeit schmerzte physisch.
\"Ich komme sofort.\"
Die Angst ließ mein Herz wild pochen und sobald meine Ohren wieder unter Wasser waren, konnte ich dieses Lebenszeichen Schlag für Schlag verfolgen.
Poch, poch, poch, poch.
Tropf, tropf, tropf, tropf.
Knack, knack, knack, knack.
Ich stieg langsam aus der Wanne - wie in Trance. Ich zog meinen Anzug an. Festlich. Ich hatte nicht den Mut einen Blick in den Spiegel zu werfen, obwohl ich doch unschuldig war. Wäre ich gläubig gewesen, hätte ich jetzt gedacht: \" Gott will es so.\" Würde ein Gott es so wollen?
Ich schlug drei mal mindestens so kräftig gegen die Tür. Warum? Vielleicht, um mich selbst noch einmal zu spüren. Ich wusste es nicht.
Die Tür wurde geöffnet, Handschellen wurden mir angelegt und ich wurde den Flur hinunter geführt.
Jeder hallende Schritt nahm eine Sekunde in Anspruch und mit jeder Sekunde, kam mir die nächste noch langsamer vor. Im gleichen Takt fiel die Angst von mir ab, sowie das Leben aus mir wich. Es ist nicht nur das Physische, der Körper, der das Leben darstellt. Ich starbt bereits auf den letzten dreißig Metern zu Exekution.
Links und rechts flankierten meinen Weg die anderen Insassen,, in Andacht still schweigend an den Gitterstäben.
Dort gab es Calvin, ein knallharter Farbiger aus dem Ghetto, der jemanden, bei dem Versuch seinen besten Freund zu retten, erschossen hatte. Seine dunklen Augen sahen mich so tiefgründig an, wie noch nie jemand.
Da war auch Ramon, ein älterer Herr - liebenswürdig, zuvorkommend, zurückhaltend. Vergewaltiger und Mörder. Er schien in Trauer kaum merklich den Kopf zu schütteln.
Ein Stück weiter stand Lucy, eine zierliche Rothaarige, die eine Bank überfallen und bei der Flucht einen Polizisten erschossen hatte. Ich vernahm, dass sie beim atmen zitterte.
Ein guter Gesprächspartner war mir bei der Haft David gewesen - ein Mann aus meiner Schicht, meines Alters, meines Intellekts. David war ein Kinderschänder. Er sah mich nur starr und mit glasigen Augen an.
Alles Paradebeispiele, alles Klischees, genau, wie ich. Wir sind alle nur ein Teil eines Kollektivs, reduziert auf die Straftat.
Die Luft in der Kälte des grauen Gebäudes wurde von einer Wärme des Mitgefühls erfüllt. Luft.
Mir fiel in diesem bedeutsamen Moment ein Zitat von John Steinbeck ein:
\'Mir scheint, dass wir bei Entscheidungen an unser Sterben denken sollten und versuchen so zu leben, dass unser Tod der Welt kein Vergnügen macht.\'
Ich wusste nicht, ob ich letztendlich für die Welt einen Verlust bedeutete. Ich wusste, dass die Welt einen Verlust für mich darstellte. Doch nicht die meine, sondern die kleine Welt einer viel bedeutsameren Person als ich. Ich betete voller Überzeugung dafür, dass Lillis zerbrechliches Herz, ihre Welt, durch den Tod von Mutter und Vater nicht zu Zerbrechen, zu Einsturz, gebracht wurde.
Mir war plötzlich, als würde mich ihr leiser Gesang, wie aus weiter Ferne, begleiten. Ihre süße Stimme führte mich auch die letzten Meter zum elektrischen Stuhl.
Ein solcher wurde 1889 erstmals in den USA an einem Menschen zum Einsatz gebracht, erfunden für eine \"menschliche und bequeme\" Art der Hinrichtung. Es flossen hierbei zweimalig zweitausend Volt durch den Körper und dieser erhitzte sich auf über neunundfünfzig Grad Celsius. Der Tod trat durch eine Depolarisation wichtiger Muskeln, wie Herz und Zwerchfell, sowie das Stocken von Eiweißen, ein, während der Verurteile unkontrolliert krampft. Theoretisch, denn es gab Zahlreiche Berichte darüber, dass der Körper der Verurteilten zu brennen begann oder Transformatoren überhitzten, sodass die Exekution unterbrochen werden musste.
Ich betrat den Raum. Ich wurde auf den Stuhl gesetzt und mir wurden die Fesseln angelegt. Gegenüber, hinter einer Glasscheibe von dem Tod abgetrennt, saßen die \"Zuschauer\". Ich sah sie nicht an. Da hätte ich auch in mein eigenes Spiegelbild blicken können. Der Mensch war schlecht. Ich würde nun von diesem Übel befreit werden.
Ein Wärter trat vor mich. Er besaß schütteres graues Haar, eine rundliche Statur und braun grüne Augen, die mit aller Kraft versuchten kalt und distanziert zu wirken.
Hatte er Kinder? Eine Familie? War das seine erste Exekution? Oder seine zehnte?
\"Stufe eins.\"
Die Geräte wurden angeschaltet und begannen leise zu summen.
Was Lilli wohl gerade machte? Ich war mir sicher, sie sang - für mich.
Mir wurde eine Elektrode am Kopf und am nackten Bein befestigt. Meine Augen wurden verbunden, allerdings nicht, wie oft behauptet, um das Austreten der Augäpfel aus den Augenhöhlen zu verhindern, sondern eher um den Zeugen den Anblick der von Schmerzen aufgerissenen Augen zu ersparen. Schwarz.
\"Sean Anderson, sie wurden von einem geschworenen Gericht für schuldig befunden und von einem Richter dieses Staates zum Tod durch den elektrischen Stuhl verurteilt. Haben sie vor der Urteilsvollstreckung noch etwas zu sagen?\"
Ich hatte viel zu sagen, so viel, so viel. Meine Stimme erhob sich von ganz allein und kam mir fremd vor, als würde sie nicht zu mir gehören.
Ich sprach in die Dunkelheit: \"Manchmal geschieht es, dass sich ein Augenblick nieder lässt, und schwebt und bleibt, für länger, als einen Augenblick. Und der Schall hält inne, für sehr viel länger, als einen Augenblick. Und dann ist der Augenblick vorbei.\"
Stille.
Die Sekunden rasten. Ich konnte sie hören.
\"Sean Anderson, es wird nun durch ihren Körper so lange Strom fließen, bis sie tot sind. So will es das Gesetz. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein.\"
Es war wieder ein wunderschöner Sonntagnachmittag, die Sonne schien, Lilli sang und ich hatte mein Handy zu Hause vergessen - einen Fehler begangen.
Was wäre dann passiert?
Poch, poch, poch, poch.
\"Stufe zwei.\"
 



 
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