Der Ausreißer

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Andi

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Der Ausreißer
Herr A. stammte aus einer märchenhaft reichen indischen Familie. Sein Vater hatte, wie in solchen Familien üblich, viele Frauen und mit den meisten dieser Frauen Kinder. Unter den Frauen gab es eine natürliche Rangordnung: die erste Frau war und blieb die erste. Auch nachdem er sich einer anderen, jüngeren zugewandt hatte, wurde sie entsprechend geehrt und verwöhnt. Die zweite war und blieb die zweite usw.. Für die Kinder galt diese Rangordnung ebenso. Herr A. schätzte die Zahl seiner Geschwister auf etwa dreißig. Viele kannte er nicht, noch wusste er, was aus ihnen geworden war.
Er selbst wurde als einer der ersten Söhne einer der ersten Frauen geboren. Sein Vater hatte sich persönlich um seine Erziehung gekümmert, den Sohn nach England ins Internat geschickt und ihn später in Oxford studieren lassen. Als ich Herrn A. kennen lernte, war er etwa Fünfzig und Topmanager eines multinationalen Konzerns. Er erzählte mir folgende Geschichte:
"Ich reiste mit dem Zug durch Indien. Allein in meinem Abteil erster Klasse las ich gerade die Times, als plötzlich ein zerlumpter Junge hereinkam und sich mir gegenüber auf die Polster setzte. Eine spontane Zuneigung zu dem jungen Mann erfasste mich. Da öffnete sich die Abteiltür zum zweiten Mal, und der Schaffner trat ein. Ich präsentierte meine Fahrkarte, aber der Junge hatte natürlich keine. Als der Bahnbeamte den Knaben wütend am Arm packte, um ihn aus dem Abteil zu werfen, beschloss ich, bei dem verdutzten Schaffner eine Fahrkarte erster Klasse für das magere Bürschchen zu lösen. Dankbar lächelte mich der Kleine an. Nachdem sich der Schaffner kopfschüttelnd zurückgezogen hatte, fragte ich den Jungen, wieso er denn einfach in mein Abteil gekommen sei.
Er habe am Ende des Zuges in einem Waggon ohne Bestuhlung auf dem Boden gesessen und weder Geld noch Fahrkarte gehabt. Plötzlich sei der Kontrolleur aufgetaucht. Vor dem Beamten sei er erst durch die Wagen der dritten, dann der zweiten bis in die erste Klasse geflohen. Dies sei der letzte Waggon, darauf folge nur noch die Lokomotive. Er habe einfach keinen anderen Ausweg mehr gesehen.
Als ich genauer nachfragte, stellte ich überrascht fest, dass der Junge in derselben Stadt geboren war wie ich, nur vierzig Jahre später. Überdies trug sein Vater den gleichen Familiennamen und den gleichen Vornamen wie mein Vater. Der kleine Schwarzfahrer hatte seinen Vater, der im Alter Frauen nur noch als Gespielinnen benutzte und anschließend verstieß, allerdings nie kennen gelernt. Seiner Mutter war nichts geblieben als Armut, Schande und die Last der Kinder. Da er der Mutter nicht weiter auf der Tasche liegen wollte, hatte der Junge sein Zuhause verlassen. Er war zum Bahnhof gelaufen, um als blinder Passagier bis in die nächste Großstadt zu gelangen. Dort wollte er sich wie die anderen Straßenkinder mit kleinen Arbeiten, Stehlen und Betteln durchschlagen. 'Du bist von zu Hause weggelaufen und bist nach Hause zurückgekehrt. Herzlich willkommen, lieber, kleiner Bruder.' sagte ich und umarmte das verblüffte Kerlchen. Seitdem lebt der Junge wie ein Sohn in meiner Familie. Er möchte demnächst an meiner alten Universität in Oxford studieren." beendete Herr A. zufrieden lächelnd seine Erzählung.
 



 
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